Wirr und kaputt | „Johann Holtrop“ von Rainald Goetz

In seinem Roman „Johann Holtrop“ aus dem Jahr 2012 porträtiert Rainald Goetz einen bestimmten Typus von Führungspersonal im Wirtschaftsleben der sogenannten Nuller Jahre. Die Handlung durchläuft dieses erste Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts und dreht sich um den Spitzenmanager Johann Holtrop, den Vorstandsvorsitzenden der Assperg AG, eines großen, deutschen Konzerns im Medien- und Dienstleistungsbereich.

Holtrop leidet an allen typischen Managerkrankheiten, die man der Wirtschaftselite gerne zuschreibt: Skrupellosigkeit, krankhafter Ehrgeiz und maßlose Selbstüberschätzung. Sein Führungsstil ist erratisch und aktionistisch. Er feuert und befördert seine Mitarbeiter nach Bauchgefühl und macht Versprechen, die er nicht halten kann. Er gehört zur unangenehmen Sorte Frühaufsteher und Effizienzfanatiker, lässt sich nach dem morgendlichen Workout vom Chauffeur oder vom Firmenjet zu seinen eng getakteten Terminen quer durch Deutschland befördern und jettet zwischen Europa, Asien und den USA hin und her, um an allen Orten nicht viel mehr als etwas heiße Luft und vor allem sich selbst zu produzieren. Vom eigentlichen Geschäft und auch von den Finanzen des Multi-Konzerns Assperg und seinen Tochterunternehmen hat er wenig Ahnung und vor allem fehlt es ihm dafür an Geduld. Stattdessen hält er es für seine Aufgabe, Zukunftsvisionen zu entwickeln und große Deals abzuschließen. Eine Zeit lang kann er sich auf diese Weise an der Konzernspitze halten, aber durch die wirtschaftlichen Umbrüche und Krisen dieses Jahrzehnts gerät Holtrop nun ins Wanken.

Der langsame Abstieg des ehrgeizigen Überfliegers beginnt mit Holtrops Entscheidung, Thewe, den Leiter einer Tochterfirma, fristlos zu entlassen. Thewe ist ein gutmütiger Chef älteren Jahrgangs und beinahe die einzige Figur im ganzen Roman, an der sich positive Charakterzüge erkennen lassen. Dass er ein alter Freund ist, mit dem Holtrop im Assperg-Konzern gemeinsam aufgestiegen ist, spielt für den Vortsndsvorsitzenden längst keine Rolle mehr, als er eines Tages auf die Idee kommt, dass Thewe zum alten Eisen gehört und weg muss. Mit Genuss teilt er ihm die Entscheidung persönlich mit. Thewes Rauswurf ist für Holtrop riskant, denn in diesem Bereich des Konzerns sind dubiose und kriminelle Praktiken im Gange. Mitarbeiter werden abgehört und Giftmüll wird auf Firmengelände verscharrt. Weil Thewe war aber zu gutgläubig ist, um irgendetwas davon zu dokumentieren, hat er nichts gegen Holtrop in der Hand und muss sich mit dem Rauswurf abfinden.

Langsamer Abstieg

Obwohl dieser Vorgang Holtrops eigene Position also nicht direkt gefährdet, beginnt hiermit eine Reihe von Rückschlägen, die nach und nach die Schwächen in Holtrops Führung sichtbar werden lassen. Das Platzen der sogenannten Dotcom-Blase zum Beginn des Jahrzehnts und die spätere Bankenkrise setzen dem Assberg-Konzern schwer zu. Holtrop reagiert auf die immer bedrohlicheren Verlusste, indem er es mit einem neuen Führungsstil versucht. Statt zwischen Geschäftsterminen hin und her zu hetzen, zieht er sich in sein Büro in der Firmenzentrale zurück, studiert Akten und geht seinen Mitarbeitern jeden Tag mit neuen Ideen und Kursänderungen auf die Nerven. Wie lange er sich noch an der Spitze halten kann, hängt davon ab, wie lange die anderen Vorstände, der Aufsichtsratsvorsitzende und vor allem der alte Assperg ihn dort tolerieren. Der frühere Inhaber der Firma ist im Ruhestand, aber über eine Stiftung und die Intrigen seiner deutlich jüngeren Frau hat das Ehepaar Asspergs das Unternehmen aus dem Hintergrund noch in der Hand.

Als der Roman erschien, haben Kritiker sofort darauf hingewiesen, dass es sich bei dieser Assperg AG wohl um den Bertelsmann-Konzern und bei Holtrop daher um dessen Vorstandsvorsitzenden Thomas Middelhoff handeln muss, der bekanntlich wegen Untreue und Steuerhinterziehung verurteilt wurde. Auch andere Wirtschaftsprominenz dieser Ära ist im Roman wiederzuerkennen, zum Beispiel wenn eine Vorstandssitzung der Deutschen Bank detailliert beschrieben wird. Die Vorstände heißen hier nicht Breuer und Ackermann, sondern irgendwie anders, aber es ist klar, wer gemeint ist. Auch Leo Kirch und sein vor der Pleite stehendes Unternehmen haben ihre Entsprechung im Roman. Aber nicht nur reale Personen treten unter falschem Namen auf, sondern auch reale Namen werden recycelt: An einer Stelle greift Holtrop zum Hörer und ruft einen Manager namens Leif Randt an.

Studie eines Managertyps

Grundsätzlich ist es egal, wie die Querverbindungen zur Wirklichkeit genau aussehen und ob es sich bei Johann Holtrop wirklich um Thomas Middelhoff handelt. Rainald Goetz bedient sich bei der Wirklichkeit, um einen Typus herauszuarbeiten. Middelhoff beziehungsweise Holtrop wird aus dem Durcheinander der Realität herausgetrennt, als typischer Fall vorgeführt und in Romanform konserviert. Dasselbe passiert mit dem Milieu, in dem dieser Typ Manager aufsteigen konnte, heiße es nun Bertelsmann, Assperg oder irgendwie anders. Es geht um die Charakterisierung einer bestimmten Mentalität im Wirtschafts- und Berufsleben dieser Zeit.

Auch in früheren Werken hat Rainald Goetz wirkliche Vorbilder herangezogen, um bestimmte Typen und Milieus der jüngsten Vergangenheit ausfindig zu machen und festzuhalten. In seinem Roman „Rave“ war es die Münchner und Berliner Techno-Szene der Neunziger-Jahre, mit ihren DJs, Veranstaltern und Musikjournalisten, die hier noch ohne größere Hemmungen bei ihren wirklichen Namen genannt wurden, allen voran der in diesem Werk regelrecht glorifizierte DJ Westbam. In dieser Szene fühlte sich Rainald Goetz spürbar zu Hause und hatte viel Sympathie übrig, für fast alle, die dort mit Drogen vollgepumpt die Nächte durchtanzten – wirr und kaputt.

Auch in „Johann Holtrop“ tauchen diese beiden Lieblingsadjektive des Autors wieder in großer Häufigkeit auf, aber hier haben sie einen düsteren Klang. Im Gegensatz zur Techno-Szene betrachtet Rainald Goetz das Milieu der Wirtschafts-Bosse zwar auch aus der Nähe und in Details, aber dennoch von außen und mit mit einer unverhohlenen Portion Verachtung. Holtrop ist ein überheblicher Unsympath und er schwimmt in einer ätzenden Suppe aus Intrigen, Gier und Inkompetenz. Der Assperg-Konzern und überhaupt die gesamte deutsche Wirtschaftselite erscheinen hier als ein von falschen und sich gegenseitig verachtenden Manager-Darstellern bevölkertes Pandämonium. Eine Stufe unterhalb der Führungsebene dümpeln demotivierte Angestellte vor sich hin, die sich über ihre Vorgesetzten lustig machen und ihre Lebenszeit in stinkenden Büros mit unsinnigen Nichtigkeiten verschwenden. Wenn es etwas gibt, das einen am eigenen Berufsleben ankotzt, wird man es in diesem Roman garantiert wiederfinden. Schauplatz der Handlung ist die Bürohölle auf Erden.

Alltägliche Bürohölle

An den besten Stellen des Buches gelingen Goetz einige treffende und entlarvende Beobachtungen. Zum Beispiel trifft Thewe kurz nach seiner Entlassung in der Kaffeeküche seiner Firma auf einige Mitarbeiter, die von seiner Entlassung noch nichts wissen, und es entwickelt sich eines dieser typischen Büro-Gespräche über Kaffee, besondere Kaffeemaschinen, Brauweisen und Kaffeesorten. Rainald Goetz schreibt hier:

Nichts am Gesagten war neu, der Text war bis in die letzte Formulierungseinzelheit hinein fertig durchstandardisiert und ohne jede inhaltliche Information, wurde aber so ausgetauscht, als würde mit ihm ein hochinteressantes Wissen, zugleich eine hochindividuelle Besonderheit des sich selbst damit darstellenden Sprechers mitgeteilt. Im Kern bestand diese Individualitätsmitteilung darin, dass nichts individuell Abweichendes von diesem Individuum her drohte, dass auch dieser Sprecher das von der Allgemeinheit Vorgeschriebene anerkannte und akzeptierte.

Auch an anderen Stellen sieht Goetz genau hin, wenn sich die Vorstände vor dem Sitzungssaal mit Schnittchen in der Hand und mit vollem Mund besprechen oder auf den Gala-Abenden die Milliardärserbin oder die Patriarchen-Gattin umschwärmen oder wenn Holtrop die junge Journalistin mit in seinen Dienstwagen nimmt, um ihr zwischen zwei Terminen ein Interview zu geben, und sie mit seinen Manager-Visionen zu beeindrucken. Goetz seziert diese Momente, in denen die Wirtschaftselite in ihrem Rollenspiel ihr hinter den schlecht sitzenden Masken kaum verborgenes Gesicht zeigt und er ekelt sich vor dem, was er dabei zum Vorschein bringt.

Auf der Rückseite des Buches steht der Satz: „Wütend schritt ich voran.“ Vielleicht kann man sich so tatsächlich diesen Roman vorstellen: Ein von Wut angetriebenes Vorwärtsdrängen der Handlung auf die Katastrophe zu. Manches bleibt dabei auf der Strecke. Die dubiosen Abhörpraktiken in der von Thewe geleiteten Tochterfirma und ein darin verstrickter Mitarbeiter einer Putzfirma erscheinen am Anfang des Buches als wichtiger Handlungsstrang und verlieren dann aber ohne weitere Konsequenz an Bedeutung. Figuren werden aufwändig eingeführt und spielen dann keine Rolle mehr. Vielleicht war hier zu viel Wut im Spiel und das Elend sollte in seinem vollen Umfang gezeigt werden, ohne dass das all diese Details für die Handlung notwendig gewesen wären.

Von diesen Schwächen abgesehen ist „Johann Holtrop“ aber gerade wegen dieser giftigen Wut und den gnadenlosen Beobachtungen ein starkes Buch. Rainald Goetz ist das Kunststück gelungen, einen lesbaren Roman ohne eine einzige sympathische Figur zu schreiben. Es ist eine harte Abrechnung mit einem Typ Führungskraft, der das Wirtschaftsleben geprägt hat und mit der Zeit, die ihn hervorgebracht und an die Spitze befördert hat.


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