Dreifach destilliert | „Absalom, Absalom!“ von William Faulkner

Der biblische Abschalom aus dem zweiten Buch Samuel hat ein wechselhaftes Verhältnis zu seinem Vater, dem König David. Zunächst bemerkt er einen Inzest seines Bruders Amnon mit einer ihrer Schwestern und ermordet den Bruder aus Rache. Er muss aus seinem Elternhaus fliehen bis Davids Zorn gegen ihn verraucht ist und er Jahre später zurückkehren kann. Dann lehnt er sich gegen David auf, vertreibt ihn aus Israel und wird schließlich von dessen Armee getötet.

William Faulkners im Jahr 1936 erschienener Roman „Absalom, Absalom!“ verlegt zumindest einzelne Motive dieser tragischen Vater-Sohn-Geschichte in die Südstaaten zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs. Zentrale Figur der Handlung ist der mysteriöse Thomas Sutpen, der als junger Mann eines Tages wie aus dem Nichts mit seinem Pferd und leichtem Gepäck in der Kleinstadt Jefferson erscheint. Während die Kleinstädter noch rätseln, woher der Fremde gekommen ist und was er in Jefferson will, erscheint Sutpen das nächste Mal bereits in Begleitung einer Gruppe schwarzer Sklaven, kauft ein Stück Land vor der Stadt, schafft Baumaterial herbei und errichtet dort gemeinsam mit den Sklaven eine riesige Plantage, die er unbescheiden „Sutpen’s Hundred“ tauft. Im nächsten Schritt, wie um einen geheimen Plan zu erfüllen, sucht sich Thomas Sutpen zielstrebig eine Frau aus bürgerlichem Hause, Ellen Coldfield, die er kurz darauf heiratet.  Sie bekommen einen Sohn, Henry, und eine Tochter, Judith, und leben außerdem mit Sutpens Tochter Clythie, die er aus einer Beziehung zu einer Sklavin bekommen hat.

Als die Kinder erwachsen sind und Sutpens Sohn Henry ein Studium an der Universität von Mississippi beginnt, tritt Charles Bon in das Leben der Gutsbesitzer-Familie. Bon ist etwas älter als Henry und verhält sich im Gegensatz zu diesem wie ein städtischer Gentleman mit einem mondänen Lebenswandel, der den auf dem Land aufgewachsenen Henry sofort beeindruckt. Unter dem Deckmantel einer Freundschaft verliebt sich Henry in Charles Bon und bringt ihn zu verschiedenen Gelegenheiten mit nach Hause. Bei diesen Besuchen auf „Sutpen’s Hundred“ lernt Bon auch Judith kennen. Beide verlieben sich zwar eigentlich nicht in einander, oder jedenfalls sind die Gefühle nach außen hin nicht zu erahnen, aber allein durch die im Raum stehende Möglichkeit entsteht langsam der erst nur diffus in der Luft liegende, von allen irgendwie erwartete und dann von Bon tatsächlich gefasste Plan, dass er und Judith ein Paar werden und heiraten müssten.

Untergang einer Südstaaten-Familie

Zu dieser Zeit bricht der Bürgerkrieg aus und sowohl Thomas Sutpen als auch Henry und Charles Bon ziehen für den Süden in den Krieg. Dieser geht verloren und nachdem Henry und Bon nach Hause zurückgekehrt sind, erschießt Henry seinen Freund Bon in der Nähe von „Sutpen’s Hundred“. Dem Anschein nach hatte Henry herausgefunden, dass Bon bereits mit einer anderen Frau verheiratet war und ermordet ihn, um seiner Schwester die mit einer weiteren Heirat verbundene Schande zu ersparen. Wie sich später herausstellt, ist das eigentliche Mordmotiv aber eine weitere Entdeckung Henrys und näher dran am biblischen Abschalom-Motiv. Der Mörder Henry muss untertauchen und verschwindet von „Sutpen’s Hundred“.

Durch den Mord, aber mehr noch durch den verlorenen Bürgerkrieg, ist die Familie Sutpen ruiniert. Die Ländereien sind verloren, die Plantage schrumpft zu einem kleinen Süßigkeitenladen zusammen, und der gealterte Thomas Sutpen unternimmt ein paar letzte Versuche, seinen Plan doch noch durchzusetzen, zu dem es offenbar immer noch gehört, einen Sohn in die Welt zu setzen. Nachdem sein Sohn Henry verloren und seine Frau verstorben ist, versucht er zuerst eine Beziehung mit Rosa Coldfield, der Schwester seiner Frau, zu beginnen, was aber an Rosas Stolz und ihrer tiefen Abneigung gegen ihn scheitert. Dann zeugt er ein Kind mit einer Enkelin eines Bediensteten, was ihn letztlich das Leben kostet.

Der Roman „Absalom, Absalom!“ ist weit mehr als diese Geschichte, denn er schildert darüber hinaus die schrittweise Entstehung dieser Erzählung. Die tragende Figur dieses Prozesses ist der achtzehnjährige Quentin Compson. Ihm wird die gesamte Geschichte zuerst von der verbitterten Rosa Coldfield und dann von seinem eigenen Vater und Großvater erzählt wird. In der zweiten Hälfte des Romans bemüht Quentin sich, die aus diesen Quellen Stammenden Versionen neu zusammenzusetzen und die Geschichte gemeinsam mit seinem Studienfreund Shreve selbst zu Ende erzählt.

Drei Versionen einer Geschichte

Die Geschichte von Thomas Sutpen ist am Anfang, in der von der alten Rosa Compson mit viel Hass und Bitterkeit vorgebrachten Version noch ganz Rohmaterial. Rosa weiß nur wenig über die Motive Thomas Sutpens, den sie als Dämon bezeichnet, und über die komplizierten Verhältnisse zwischen dessen Kindern und Charles Bon. Ihre lückenhafte und subjektiv gefärbte Ur-Fassung der Sutpenschen Familiengerschichte wird durch verschiedene Details ergänzt, die der mit dem alten Sutpen befreundete Großvater und der Vater von Quentin hinzufügen. Dann schließlich, in einer dritten Version, fügt Quentin selbst, mit der Hilfe seines von dieser Geschichte faszinierten Freundes Shreve, auch die letzten, spekulativen Nuancen aus dem Gefühlsleben der Protagonisten hinzu und erreicht so, mehr als vierzig Jahre nach Henrys Mord an Charles Bon, eine letzte, abgerundete Variante der Geschichte. Quentin ist zwar nicht der Erzähler des Romans, aber durch ihn fügt sich alles zusammen.

Der extreme Gegensatz zwischen der Rohfassung der alten Rosa Coldfield und der am Ende dreifach destillierten Endversion, die Quentin und Shreve zusammengefügt haben, wird durch die beiden Räumen verdeutlicht, in denen die Geschichte jeweils erzählt wird. Das bürgerliche Wohnzimmer, in dem Rosa Coldfield am Anfang des Romans unerbittlich auf Quentin einredet befindet sich in ihrem alten, muffigen Haus in Jefferson. Es ist heller Tag und es herrscht eine brütende Hitze in diesem Raum, dessen  Fenster seit Jahrzehnten nicht geöffnet wurden. Der andere Raum, in dem sich Quentin und Shreve in der zweiten Hälfte des Romans aufhalten und dort ihre Rekonstruktion der Sutpen-Geschichte betreiben, ist das nächtliche, vollkommen unterkühlte Studentenzimmer, das sie sich an der Harvard University teilen.

Währen die muffige Hitze im Haus der alten Rosa deren abgestandenen, irrationalen Hass auf Thomas Sutpen symbolisieren mag, steht die Kühle im Zimmer der Harvard-Studenten für deren rationale Versuche, das Gefühlsleben der Sutpen-Kinder zu entschlüsseln und der ganzen Geschichte Sinn einzuhauchen. Dieser Gegensatz und insbesondere die verbindende Rolle Quentins verleihen dem Roman eine besondere Dynamik. Die Frage, die sich mit dem Erzählprozess immer mehr in den Vordergrund drängt und schließlich alles trägt ist: Was hat diese alte Geschichte überhaupt mit Quentin zu tun?

Das Wesen des Südens

Am Ende bleibt als Destillat eine Art Essenz des Südens und der Bürgerkriegszeit. Die kritischen Fragen des aus dem Norden stammenden Shreve an den Südstaatler Quentin betreffen am Ende nur vordergründig den genauen Hergang der Sutpen-Geschichte und die Rationalität der Handelnden Personen und hinterfragen eigentlich die Mentalität und das Leben im Süden schlechthin. Wie ist es, Nachfahre von Sklaventreibern und Plantagenbesitzern zu sein, die das alles im Krieg verloren haben? Für Quentin bleibt die Antwort, dass er den Süden nicht hassen kann. Die mit seiner eigenen Herkunft eng verknüpfte Sutpen-Geschichte wird für ihn in ihrer letzten Version zu einer Parabel über das Gute und Schlechte seiner Heimat.

Viel ist schon geschrieben worden über Faulkners Erzähltechniken in „Absalom, Absalom!“, die ihm vielleicht den Literaturnobelpreis eingebracht haben, insbesondere über Quentins berühmten „stream of consciousness“, dem er sich beim Erzählen hingibt, indem er mitten im Satz in weitläufige Spekulationen abschweift, sich wiederholt und unterbricht. Auch Shreve, sein Co-Erzähler, erinnert mit seinen Einwürfen „Warte! Warte“, die er Quentin immer wieder zuruft, daran, dass die Geschichte im Augenblick des Erzählens erst entsteht und das alles ein Prozess ist. Shreve und Quentin ist bewusst, dass sie die Geschichte selbst durch ein Ausfüllen der von Rosa Coldfield und Quentins Großvater offen gelassenen Lücken durch ihre eigenen Vermutungen die Geschichte erst kreieren und sie vertiefen sich dabei so intensiv, dass sie am Höhepunkt der Handlung, wenn Henry seinen Freund Bon ermordet, mit den beiden Protagonisten gemeinsam zu viert am Schauplatz der Handlung sind, wie Faulkner behauptet. Durch all diese Kniffe wird „Absalom, Absalom!“ tatsächlich zu einem besonderen und in seiner zweiten Hälfte, wenn Quentin und Shreve das Ruder übernehmen, auch zu einem packenden Roman.

Manchmal wünscht man sich, der Nobelpreisträger hätte sich mit seinen erzähltechnischen Kapriolen wenigstens manchmal etwas zurückgehalten und nicht gerade den gesamten Roman in kompliziert verschachtelten und sich in Andeutungen verlierenden Nebensätzen erzählt. Aber Faulkner gönnt dem Leser keine Pause. Nichts wird „straightforward“ erzählt, alles ist komplex und man muss sich ständig fragen, wo man gerade ist, in welcher Zeit, bei welchem Protagonisten und welchem Erzähler. Aber am Ende geht die Rechnung auf. Die erzählerischen Kniffe sind nicht nur Selbstzweck, sondern haben tatsächlich einen mitreißenden Effekt. Es entsteht der Eindruck, als führe die Erzählung um Thomas Sutpen und seine Kinder ein Eigenleben und als benutze diese alte Geschichte ihre Erzähler Rosa Coldfield, Quentins Großvater und Vater und schließlich ihn selbst und Shreve als Medium, um sich endlich, nach all den Jahren, selbst erzählen zu können.


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