Neukölln-Buddenbrooks | „Hund Wolf Schakal“ von Behzad Karim Khani

Behzad Karim Khani war im Sommer 2022 für den Bachmannpreis nominiert und hat ihn nicht gewonnen. Jurymitglied Klaus Kastberger hatte sich daran gestört, dass die Hauptfigur gleich am Anfang des Textes jemanden brutal verprügelt und auch sonst eine Menge Testosteron mitbringt. Dieser für Herrn Kastberger etwas zu problematische junge Mann heißt Saam und ist nun auch der Protagonist in Behzad Karim Khanis Debütroman „Hund Wolf Schakal“, der später im selben Jahr erschien. Der Beitrag zum Bachmannwettbewerb war ein Auszug aus dem Manuskript.

Saam wächst in einer iranischen Immigrantenfamilie in Berlin-Neukölln auf. Dass er auf die sogenannte schiefe Bahn geraten wird, deutet sich schon an seinem ersten Schultag in Deutschland an, als er in der Hauptschule Heydar kennenlernt. Heydar stammt aus dem Libanon und fällt in der Klasse dadurch auf, dass er die teuerste Markenkleidung trägt, die er sich unter anderem auf seinen Streifzügen erobert. Die Streber des gegenüberliegenden Gymnasiums zwingt er mit seinem Messer dazu, ihm alles zu überlassen, was er an ihrem Outfit gerade ansprechend findet. Heydars älterer Bruder Marwan steckt schon deutlich tiefer in der Kriminalität und verkauft mit seiner Gang vom LKW gefallene Ware und später auch Kokain.

Saam wird durch seine Freundschaft mit Heydar ein Mitglied in Marwans Gang. Er verkauft aus dubiosen Quellen stammende Markenkleidung und erweist sich als ein nützlicher Schläger, den Marwan dazu einsetzt, seine Feinde unter Druck zu setzen und seine Machtstellung in der Neuköllner Halbwelt auszubauen. Zusammen mit seinem Freund Heydar begeht Saam mit der Zeit immer schwerere Verbrechen, bis die beiden bei einem ihrer bewaffneten Überfälle auf einen ebenfalls bewaffneten Apotheker treffen, der das Feuer eröffnet. Saams Leben verändert sich dadurch vollständig.

Verbrechen und Strafe

Der Roman begleitet Saam auf seiner langsamen und anfangs noch zögerlichen Laufbahn durch die großstädtische Welt der Kriminalität und Gewalt. Saams Weg durch Verbrechen und Strafe ist aber alles andere als eine bloße Serie aus Dummheiten und Affekten, denn Saam ist ein sehr rationaler und nachdenklicher Mensch, der versucht, das Beste aus seinem Leben zu machen. Indem der Roman uns seine Überlegungen und Zweifel bei jedem Schritt zeigt, erscheint sein Abstieg nach ganz unten als vollkommen schlüssig.

Man kann Saam nicht vorwerfen, dass er vom Leben zu viel verlangt. Er will einfach nur sein Gesicht wahren und nicht auf der Verliererseite landen. Nachdem er aber einmal mit den falschen Leuten befreundet ist, hat er keine Chance mehr, sich aus ihren Geschäften und Machtkämpfen herauszuhalten. Er kann, so kommt es ihm jedenfalls vor, entweder verlieren oder so gut es geht mitspielen und sich auf den Straßen von Neukölln einen Namen machen. Der Motor hinter Saams Kriminalität und auch hinter allem, was seine Freunde tun, ist weniger der materielle Gewinn als vielmehr der Status, an dem sie ununterbrochen arbeiten, und den sie im ständigen Vergleich unter einander immer bedroht sehen, und sei es bei einer banalen Kicker-Runde in der Eck-Kneipe. Hinter allem, was in dieser Gesellschaft einander gesagt und angetan wird, steht ein Subtext, der die eigene Stellung in der Straßenhierarchie immer wieder neu bestimmt.

Dass es zu Saams Weg aber auch in Neukölln Alternativen gibt, zeigt das Heranwachsen seines jüngeren Bruders Nima, das parallel erzählt wird. Nima hat sich in der Schule nicht den Kleinkriminellen sondern den Skatern angeschlossen. Er verbringt seine Nachmittage im Skaterpark und lernt dort Jo kennen, ein deutsches Mädchen aus progressiv bürgerlichem Hause. Die Familie Maybach, in die Nima nun eingeführt wird, ist der extreme Gegenentwurf zu Saams Welt. Die Anerkennung, die Saam sich mit Gewalt erarbeiten muss, bekommt Nima hier von Jos Eltern von Anfang an geschenkt, aber sie ist andererseits nicht echt. Die Mutter findet den exotischen Freund ihrer Tochter einfach nur süß und der Vater spielt sich erst als großer Iran-Kenner und dann als Wohltäter auf, als er Nima ungebeten einen Kellnerjob in einem italienischen Restaurant vermittelt. Bis zu einem gewissen Punkt lässt Nima das mit sich machen. Nimas Anpassungsfähigkeit an die deutsche Mehrheitsgesellschaft verdankt er einer höheren Toleranz für die kleinen, gut gemeinten Entwürdigungen des Alltags.

Unbestechlich

Behzad Karim Khani streicht diesen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Brüdern schon in einer frühen Szene des Buches heraus. Als Kinder tragen sie einer alten Nachbarin wiederholt die Einkaufstüten nach Hause. Beide helfen gerne, bis die alte Dame auf die dumme Idee kommt, ihnen dafür Geld zu geben. Nima nimmt das Geld an und wird dafür von Saam geohrfeigt. Für ihn ist die Hilfsbereitschaft damit vorbei, denn als ein käuflicher Lastenträger ist er nicht zu haben. „Weißt Du, was sie jetzt von uns denkt?“ fragt er seinen Bruder. Status ist schon als Kind die einzige Währung, die Saam akzeptiert.

Noch ein dritter männlicher Protagonist kämpft in diesem Roman um sein Ansehen. Saams und Nimas Vater Jamshid war im Iran eine Art kommunistischer Revolutionsheld. Im Krieg hat er ein Bein verloren und seine Frau wurde im Gefängnis gefoltert und getötet. Seine Flucht in das sichere Deutschland ist ein Abstieg in ein geregeltes Leben als Taxifahrer. Deutschland mit seinen Schrebergärten, seinen Behörden und seiner Konsumgesellschaft bleibt ihm fremd. Jamshid steht mit seiner Mentalität gewissermaßen zwischen Saam und Nima. Äußerlich lebt er ein angepasstes, resigniertes Leben, gegen das er innerlich weiterhin rebelliert. Weil er diese Rebellion eigentlich mit Saam teilt, der sie offen auslebt, ist es die eigentliche Tragödie dieser Geschichte, dass Jamshid und Saam mit einander nicht reden können. Aus der anfangs typischen Sprachlosigkeit zwischen Vater und Sohn wird, als Saam vor Jamshids Augen immer mehr in die Kriminalität abdriftet, ein kaltes Schweigen. Die beiden Männer können das, was sie mit einander verbinden könnte, einander nicht mitteilen, gerade weil sie beide in demselben Koordinatensystem von Würde und Entwürdigung leben.

Die vielbeschworene toxische Männlichkeit und die Integrationsproblematik sind also Themen, mit denen dieser Roman zu tun hat, und von denen er aber doch wieder nicht handeln will, sondern eben von den Einzelschicksalen von Saam, Nima und Jamshid. Behzad Karim Khani sind starke Charaktere gelungen und deshalb sind sie nicht nur eine Projektionsfläche für die gesellschaftlichen Probleme, auf die man den Roman anderenfalls reduzieren könnte. Die Dynamik zwischen den drei Männer mag typische Aspekte enthalten, aber sie ist zum Glück keine soziologische Studie sondern eine lebendige Geschichte von Individuen. Dass diese Figuren so realistisch sind, wird auch damit zu tun haben, dass der Autor in Saam und Nima je ein Stück von sich selbst beschrieben hat, wie er in Interviews zugab. Vor dem ganz in der Gesellschaft angekommenen Leben als Betreiber einer bekannten Berliner Bar, also dem Leben eines erwachsen gewordenen Nima, lebte er als Jugendlicher auch das Leben von Saam.

Neben all der Gewalt und Tragik ist „Hund Wolf Schakal“ auch ein witziges Buch, zum Beispiel wenn Jos Vater Artur beschließt, den Freund seiner Tochter besser kennenzulernen, indem er mit ihm zusammen ein Abendessen nach iranischem Rezept zubereitet. Artur gehört zu dem Typ selbstbewusster Kultur- und Genussmensch, der seine Weltoffenheit dadurch ausdrückt, dass er seinen ausländischen Gästen ihre eigene Kultur erklärt. Vor den Augen des verwirrten Teenagers riecht er genussvoll an dem Safran, den er eigens für diese Inszenierung im Orientladen gekauft hat, und auch dort hatte er schon die Ladenbesitzer mit seinen weitreichenden Kenntnissen beglückt.

Die Frage der Würde

Um andererseits die Tragik der Geschichte und besonders den Konflikt zwischen Jamshid und Saam verstehen zu können, ist es wichtig, dass die Erzählung nicht mit Saams erstem Schultag in Deutschland beginnt, sondern bereits im Iran. Nur dadurch, dass wir sie nicht erst in Deutschland kennenlernen, erfahren wir von der Fallhöhe der beiden scheiternden Protagonisten was ihre Würde angeht. Jamshid lässt sich für seine Flucht aus dem Iran einen falschen Reisepass erstellen, und der Polizei gelingt es, das gefälschte Dokument abzufangen. Er wird in die Polizeibehörde zitiert und dort mit der von ihm in Auftrag gegebenen Fälschung konfrontiert. Natürlich leugnet er, mit dem Dokument etwas zu tun zu haben. Aber weil der Beamte ihm im Krieg begegnet war und ihn seitdem persönlich bewundert, händigt er Jamshid die Fälschung einfach aus und ermöglicht so seine Ausreise. Der Roman zeigt in dieser Episode am Beginn der Geschichte das genaue Gegenteil von dem, was Jamshid später auf deutschen Ämtern erleben wird. Dort wird man zwar so tun, als sei man an seiner Person interessiert, aber man wird ihn nur wie eine Nummer behandeln. Im Iran hingegen spielte die persönliche Würde noch eine so große Rolle, dass selbst die von seinen politischen Feinden geführte Behörde ihm ein gefälschtes Dokument in die Hand drückt um ihn zu retten, statt ihn dafür zu verhaften. Jamshid und Saam zerbrechen auf ihre je eigene Weise an dem Verlust dieser Würde.

Vor diesem Hintergrund wird auch klar, warum nur Nima gerettet werden kann. Er war im Iran noch zu jung und kann von einem früheren status quo nichts wissen. Es ist sein Mangel und gleichzeitig seine Rettung, dass ihm dieser Hintergrund fehlt und die Geschichte für ihn tatsächlich erst in Deutschland bei Null beginnt. Durch diesen Kunstgriff erzählt der Roman eigentlich die Geschichte von drei Einwanderergenerationen. Nima und Saam sind zwar Brüder, aber ihr Verhältnis zur Vergangenheit ist so unterschiedlich und führt zu so verschiedenen Lebenswegen, als ob Nima nicht wie Saam einer zweiten sondern erst der dritten Generation nach der Flucht angehörte.

Der Vergleich ist vielleicht weit hergeholt, aber für mich hat dieser Roman deshalb Gemeinsamkeiten mit Thomas Manns „Buddenbrooks“. Das was der Lübecker Kaufmannsfamilie dort über drei Generationen Stück für Stück verloren geht, ist immerhin auch nicht nur das Geld sondern vor allem die Würde. Jede Generation kämpft auf ihre eigene Weise gegen den unaufhaltsamen Verlust an, bis die letzte schließlich aufgibt und damit die Werteskala in Frage stellt, in der dieser Abstieg stattgefunden hat.

Ein anderer Vergleich, der sich schon eher aufdrängt, betrifft Feridun Zaimoglu, dessen Buch „Kanak Sprak“ ich in diesem Blog besprochen habe. Ähnlich wie Zaimoglu lässt Behzad Karim Khani in seinem Buch eine Sprache in den Vordergrund treten, die sich eine zweite Einwanderergeneration in einem Milieu abseits des deutschen Mainstream erfunden hat. Allerdings konnte er diese Sprache nicht im Original wörtlich übernehmen, sondern musste daraus eine hybride, romantaugliche Variante konstruieren. Das hat der Autor in einem Interview jedenfalls gesagt und mir wäre es nicht aufgefallen. Für mich klang alles sehr echt. Wie man auf den Straßen von Neukölln wirklich redet, wäre aber anscheinend selbst in einem solchen authentischen Roman nicht druckreif.

„Hund Wolf Schakal“ ist insgesamt ein sehr gelungener Roman, der es sich zum Glück nicht zur Aufgabe gemacht hat, über gesellschaftliche Probleme aufzuklären, sondern von drei gegensätzlichen, sehr realen Individuen und ihrer tragischen Dynamik zu erzählen. Der Roman hält, was der Bachmannpreistext versprochen hatte und legt noch was drauf. Berlin-Neukölln ist jetzt Schauplatz wirklich guter Literatur.


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