Der Anfang von Maxim Billers Roman „Der falsche Gruß“ erinnert an Paul Watzlawicks Geschichte von dem Mann, der sich bei seinem Nachbarn einen Hammer ausleihen will. Während er zur Nachbarwohnung herübergeht, redet der Mann sich ein, dass dieser unfreundliche Nachbar ihm den Hammer wahrscheinlich sowieso nicht ausleihen werde. Während er klingelt und vor der Tür wartet, steigert er sich so in eine Wut hinein, dass er dem Nachbarn, als der ihm die Tür öffnet, sofort entgegenbrüllt: „Na dann behalten Sie doch ihren dämlichen Hammer!“
In Billers Roman geht es zwar nicht um geliehene Werkzeuge, aber auch um einen grundlosen Hass, der sich in seinem Ich-Erzähler namens Erck Dessauer aufbaut. Dessauer ist ein bisher eher erfolgloser Autor. Ihn verbindet ein sehr spezielles Verhältnis zu dem berühmten Schriftsteller Hans Ulrich Barsilay, dem er zum ersten mal als Student und dann über die Jahre immer wieder mal über den Weg gelaufen war und den er eigentlich immer bewundert hat. Als Dessauer aber endlich seinen ersten eigenen Buchvertrag bekommt, beim selben Verlag, bei dem auch Barsilays Bücher erscheinen, kommt ihm der Gedanke, der berühmte Schriftsteller könne bei der Verlegerin gegen ihn intrigieren und sein Buch verhindern wollen. Obwohl diese Angst aus der Luft gegriffen ist, entsteht in ihm dadurch eine Wut auf den berühmten Kollegen, die sich bei einer zufälligen Begegnung in einer Berliner Bar dramatisch entlädt. Der angetrunkene Dessauer geht zum Tisch, an dem Barsilay mit ein paar Freunden sitzt, beschimpft ihn und zeigt ihm den Hitlergruß. Ihm ist dabei vollkommen bewusst, dass Barsilay Jude ist und nicht zuletzt durch Bücher über seine Identität als jüdischer Autor bekanntgeworden ist.
Zunächst hat es noch den Anschein, dass Dessauer den Nazi-Gruß nur als eine austauschbare Geste der Provokation gezeigt hat, mehr oder weniger aus Versehen, ein durch den Alkohol bedingter Ausrutscher. So stellt dieser unzuverlässige Ich-Erzähler seinen Ausraster jedenfalls dar und ärgert sich nachträglich darüber, dass sein vermeintlicher Rivale nach dieser Szene erst recht etwas gegen ihn in der Hand hat, um ihm den Buchvertrag wegzunehmen und ihn öffentlich fertigzumachen. Während der Roman dann Dessauers Biografie und sein Verhältnis zum gleichzeitig bewunderten und verhassten Barsilay genauer beleuchtet, wird langsam klar, dass dieser in der DDR aufgewachsene Erck Dessauer eine ganze Menge unausgegorenen historischen Ballast mit sich herumschleppt, und der Nazi-Gruß ihm keineswegs einfach nur zufällig zugeflogen ist. Der Großvater hatte ihm schon früh alte Nazi-Propagandaheftchen zum lesen gegeben und war jedes mal in Tränen des Selbstmitleids ausgebrochen, wenn er sich an den verlorenen Krieg erinnerte. Dessauers Vater hatte dann bereits vor Jahrzehnten schon einen Zorn auf den Schriftsteller Barsilay entwickelt, weil der in den neunziger Jahren einen Spiegel-Artikel über die damaligen Aufmärsche der Ostdeutschen Neo-Nazis geschrieben hatte. Dessauers Vater konnte in diesem Artikel nur einen ungerechten Angriff gegen die ostdeutsche Seele erkennen.
Vom Vater und Großvater geerbt
Der Erzähler Erck Dessauer berichtet natürlich mit größter Sympathie und Verständnis vom Vater und Großvater, aber zwischen den Zeilen ist klar, dass es bei den Dessauers quasi eine Familientradition ist, sich selbst immer in der Opferrolle zu sehen und die Schuld an der eigenen Misere den anderen zuzuschreiben, wobei diese anderen eben immer wieder die Juden sind. Das Buch, das Erck Dessauer schreiben will, steht ganz im Zeichen dieser Tradition. Er arbeitet an einer Biografie des sowjetischen Funktionärs Naftali Frenkel, der in der Stalin-Ära in grausamer Weise einen Gulag und verschiedene Zwangsarbeitslager geleitet hat. Nach Dessauers Interpretation, die er für eine große Entdeckung hält, waren die dort von Frenkel eingeführten Methoden ein Vorbild für die Konzentrationslager der Nazis und durch seine Betonung, dass Frenkel Jude war, stellt er in seiner Frenkel-Biografie den Holocaust gewissermaßen als eine jüdische Erfindung dar. Die schon vom Großvater und Vater praktizierte Geschichtsverdrehung erreicht hier im Milieu der literarischen Intellektuellen und des neuen Das-wird-man-doch-wohl-noch-sagen-dürfens einen perversen Höhepunkt.
Mit der Figur Erck Dessauer beschreibt Maxim Biller also das Produkt eines schwelenden Antisemitismus, der in einer bildungsbürgerlichen und in Opferrolle auftretenden, neuen Version sogar trotz öffentlich demonstriertem Hitler-Gruß erst auf den zweiten Blick zu erkennen ist und deshalb im deutschen Kulturbetrieb nicht auf Widerstände stößt. Der Verlag und die literarisch interessierte Öffentlichkeit empfangen Dessauers Buch mit offenen Armen. Erck Dessauer ist gleichzeitig aber auch eine komische Figur. Das aufregendste, was er je erlebt hat, war, als ein aus irgendeinem Tierpark entlaufenes Kamel einmal an ihm und seinem Vater vorbeigelaufen ist. Auch sein Liebesleben ist nur halb so ereignisreich, wie er selbst glaubt. Nach einem eher belanglosen und peinlich verlaufenden Gespräch mit einer Ex-Freundin von Barsilay bildet Dessauer sich ein, sie beinahe verführt und fast eine Beziehung mit ihr angefangen zu haben. Überhaupt ist Dessauer ziemlich verklemmt und beneidet Barsilay um seinen Erfolg bei den Frauen. Seine sämtlichen erotischen Phantasien drehen sich um seinen Gegenspieler und dessen attraktive Freundinnen.
Auch die Figur des Erfolgsschriftstellers Barsilay hat komische Züge, weil es sich bei ihm um eine in Teilen selbstironische und leicht beschönigte Version des Autors Maxim Biller handelt. Barsilay, der anders als Biller prächtiges, volles Haar besitzt, ist mit einem Memoir namens „Meine Leute“ bekannt geworden, das an Billers Memoir „Der gebrauchte Jude“ erinnert. Die Aussage, dass Deutsche und Juden für immer geschiedene Leute seien, kommt in beiden Werken vor. Auch einen mit erotischen Details sehr freigiebigen Roman über eine real existierende Ex-Freundin hat Barsilay geschrieben, nur hat er im Gegensatz zum Autor von „Esra“ alle daraus folgenden Gerichtsprozesse gewonnen. Die Identifikation von Barsilay mit Biller geht so weit, dass Dessauer an einer Stelle befürchtet, Barsilay könne einen Roman über ihn schreiben, mit dem Titel „Der Hitlergruß“.
Schwelender Antisemitismus
Der in Prag geborene und seit seinem zehnten Lebensjahr in Deutschland lebende Biller hat auch in Gesprächen und Interviews immer wieder darauf hingewiesen, dass ihn in Deutschland etwas stört. Im Jahr 2007 sagte er zum Beispiel in Peter Sloterdijks und Rüdiger Safranskis Fernsehsendung „Das Philosophische Quartett“, er fühle sich in Deutschland mit der Zeit immer fremder und nicht immer mehr zu Hause. Mit „Der falsche Gruß“ bringt Biller sein Unbehagen auf den Punkt: Dort wo Gestalten wie Erck Dessauer aus ihren Winkeln hervorkriechen, das literarische und politische Klima mitgestalten, und für ihre Theorien auch noch als Intellektuelle gefeiert werden, kann er sich nur fremd fühlen.
Erck Dessauer ist sich keiner Schuld bewusst. Er hält seine Abneigung gegen Barsilay für Notwehr und versteht nicht, dass er sich die Attacken seines Feindes nur selbst ausgedacht hat. Gerade weil er nicht der klassische Proleten-Nazi ist, sondern nur ein harmlos vergeistigter Trottel, der den Nazi-Gruß erst noch auf der Herrentoilette vor dem Spiegel üben muss, bevor er ihn seinem Erzfeind zeigt, nimmt seinen Antisemitismus niemand ernst, nicht einmal er selbst. Wäre er nur eine Romanfigur unter vielen, könnte man zu seiner Verteidigung immer noch spekulieren, ob sein Hass auf Barsilay nur aus der persönlichen Geschichte der beiden Männer resultiert und gar nichts mit einer jüdischen Identität zu tun hat. Erst durch den Kunstgriff, Erck Dessauer zum Erzähler der Geschichte zu machen, gelingt es Biller, die vermeintlich harmlose persönliche Feindschaft als etwas anderes zu enttarnen.
Der Erzähler Dessauer spricht immer wieder nicht nur von sich und Barsilay, sondern von „uns“ und „denen“, von einem „wir“ gegen „die anderen“. Biller hebt diese Stellen in Kursivschrift hervor. Mit „wir“, so wird beim Hineinhören in diese Dessauerschen Gedankengänge klar, sind „wir Deutsche“ und mit „die“ sind „die Juden“ gemeint. Diese Aufteilung steckt so tief drin in diesem Erzähler, dass er nicht anders schreiben kann, als von „uns“ gegen „die“ und sich dadurch selbst entlarvt. Seine Erzählung ist wie ein Akt therapeutischen Schreibens und nicht er selbst sondern erst der Leser kommt zu der Diagnose, dass Erck Dessauer trotz seiner Bildung das ist, was auch sein Vater und Großvater im Kern schon waren.
„Der falsche Gruß“ ist deshalb ein sehr gelungener Roman, weil er es schafft, diesen Alptraum von einem neuen, sich im Kulturbetrieb heimlich einnistenden Antisemitismus zu analysieren und gleichzeitig eine anspielungsreiche, witzige Satire zu sein. Der dynamische, pointenreiche Stil von Maxim Biller, der hier mit der Stimme des verklemmten Erck Dessauer spricht, ergibt eine originelle Mischung und einen sehr lesenswerten und geistreichen Roman.
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Andere Stimmen über „Der falsche Gruß“:
„Auf ein Buch“-Podcast von Sebastian Aufdemkamp