Ultra-Marathon durch die Wüste des Denkens | „Der Mythos des Sisyphos“ von Albert Camus

Ist ein Leben ohne Sinn überhaupt möglich? Das ist die Ausgangsfrage für Albert Camus‘ berühmten Essay „Der Mythos des Sisyphos“ aus dem Jahr 1942. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist für Camus die wichtigste aller philosophischen Fragen, weil sie die schwersten persönlichen Konsequenzen haben kann. Wegen eines ontologischen Beweises habe sich noch niemand umgebracht, schreibt Camus in seiner Einleitung, aber die Sinnfrage nicht beantworten zu können ist etwas, das Menschen in den Selbstmord treiben kann. Die Brisanz in Camus‘ Essay liegt darin, dass er den Sinn des Lebens im eigentlichen Sinne erst einmal verneint und nach der Konsequenz fragt. Was sollen wir tun, wenn wir uns bewusst gemacht haben, dass unsere Existenz tatsächlich keinen tieferen Sinn hat?

Sein Ausgangsproblem beschreibt Camus zunächst etwas genauer mit dem Begriff der Absurdität. Gemeint ist ein Fremdsein in der Welt. Der Mensch findet sich in einer Welt, die ihm den Sinn, nach dem er sucht, nicht geben kann. Er geht in seinem Alltag Tätigkeiten nach, die im größeren Kontext banal erscheinen und wenn er am Ende stirbt, so ist Camus sicher, erwartet ihn nichts und es bleibt von ihm nichts, was von Bedeutung wäre. Ziele, die er sich setzt, sind nur Ablenkungen von der Tatsache, dass sein Leben letztlich ziellos ist. Er kommt als Fremder in die Welt und geht wieder als Fremder, sogar fremd gegenüber sich selbst.

Was sollen wir daraus also machen? Die naheliegende und am besten erprobte Lösung ist, dieses Problem zu verdrängen. Für die meisten Menschen funktioniert das hervorragend. Wer sich davon überzeugen kann, dass es eben doch einen Sinn gibt, selbst wenn es vielleicht kein höherer und umfassender Sinn des ganzen Lebens ist, oder wer solchen Fragen grundsätzlich aus dem Weg geht und sich nur auf handfestere, alltägliche Probleme konzentriert , hat die besten Aussichten auf ein zufriedenes Leben. Genau das ist der Weg, den Camus entschieden ablehnt. Für ihn ist es eine philosophische Aufgabe und etwas, das andere nach ihm intellektuelle Redlichkeit genannt haben, sich diesem Problem zu stellen und ihm um keinen Preis auszuweichen.

Ausweichen verboten

Das Ausweichen kann sich auf subtilen Wegen einschleichen. Vielleicht glauben wir zuerst, uns der unangenehmen Wahrheit zu stellen, und finden dann doch irgendeine gedankliche Hintertür, durch die wir ihr wieder entkommen. Genau das wirft Camus anderen Philosophen vor. Zum Beispiel glaubt er, das Søren Kierkegaard und Karl Jaspers das Problem zwar erkennen, aber sich dann in eine Traszendenz flüchten, die bei Kierkegaard religiös und bei Jaspers aus der Absurdität selbst motiviert ist. Das Transzendente ist für Camus kein erlaubter Ausweg. Für ihn gibt es nur diese Welt und alles, was man sich als darüber hinausgehend wünschen würde, verwirft er als Realitätsflucht. Sein Apell ist, sich in seinen eigenen Worten in die „Wüste des Denkens“ zu begeben, sich der Absurdität des Seins ohne Ausflüchte zu stellen und sie bis in die letzte Konsequenz zu durchdenken.

Was ist also das Ergebnis? Was sollen wir mit unserem Leben tun, wenn es nun einmal sinnlos ist. Wenn es Camus‘ Antwort wäre, es aus diesem Grund zu beenden, würde sein Essay wahrscheinlich längst nicht mehr gedruckt. Tatsächlich lehnt er den Selbstmord entschieden ab, und zwar aus rein rationalen Gründen. Der Selbstmord ist aus seiner Sicht nämlich keine Lösung sondern nur eine weitere, endgültige Form der Verdrängung des Problems. Das Problem, das keine Lösung hat, ist für Camus nicht die sinnlose Welt an sich, oder der nach Sinn suchende Mensch an sich, sondern das Zusammentreffen dieser beiden Komponenten. Die Absurdität entsteht erst aus dem Widerspruch zwischen Mensch und Welt. Wer den Menschen aus der Welt entfernt, ist der Absurdität nur auf eine weitere Art ausgewichen. Die Herausforderung des Lebens, die Camus in diesem Essay wie in einem Manifest immer wieder betont, besteht aber darin, gerade nicht auszuweichen, sondern sich der Absurdität bewusst zu stellen, und zwar immer wieder. Es geht ihm um das bewusste Aushalten der Absurdität. Darin besteht für ihn – absurderweise – das erfüllte Leben.

Es ist ein anstrengendes Leben, für das Camus hier plädiert. Dass er selbst als Philosoph seinem eigenen Rat folgen muss, ist klar, und er beruft sich auf Nietzsche, der einmal geschrieben hat: „Ich mache mir aus einem Philosophen gerade so viel als er imstande ist ein Beispiel zu geben.“ Aber auch von uns Nicht-Philosophen erwartet Camus, dass wir uns nicht selbst belügen sondern uns der Wahrheit stellen, die aus seiner Sicht die Sinnlosigkeit der Existenz und die Endgültigkeit des Todes ist. Weglaufen und Verdrängen ist auch uns nicht erlaubt. Die rein pragmatische Frage lautet aber: Was haben wir davon? Warum sollten wir in Camus‘ Wüste des Denkens leben und uns die Absurdität und Endlichkeit unseres Daseins ständig bewusst machenwollen?

Losing all hope

Camus glaubt, dass wir durch die ständige Konfrontation und innerliche Auflehnung gegen das Absurde etwas für unser Leben gewinnen, nämlich Würde und Freiheit. Der nicht-absurde Mensch, der sich in die Komfortzone der Verdrängung zurückgezgen hat, lebt aus Camus Sicht das Leben eines Sklaven seiner eigenen Zerstreuungen und Zielsetzungen, mit denen er sein Leben einschränkt. Auch in moralischer Hinsicht leben wir für Camus in Unfreiheit, so lange wir an einen Sinn des Lebens glauben, weil damit immer eine Werteskala verbunden ist, an die wir uns halten müssen. Erst wenn wir uns die Absurdität und Sterblichkeit bewusst machen, befreien wir uns von moralischen und gesellschaftlichen Zwängen und den selbstauferlegten Schranken unserer Lebenspläne, die wir für so wichtig gehalten haben. Die Hoffnungslosigkeit, die in die Freiheit führt, ist ein zentraler Gedanke in diesem Essay, der später in der Pop-Kultur immer wieder aufgegriffen wurde. Im Film „Fightclub“ aus dem Jahr 1999 gibt es zum Beispiel den vielzitierten Satz: „Losing all hope was freedom.“

Wie sieht diese Freiheit des absurden Menschen also aus? Camus nennt Don Juan als ein Beispiel. Don Juan soll der Sage nach ähnlich wie Faust einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und unmoralische Taten begangen haben, zu denen bekanntlich die Verführung von Frauen gehörte. Die Sage stammt ursprünglich aus dem 17. Jahrhundert und Camus beruft sich vor allem auf spätere Darstellungen der Figur, unter anderem bei Alexander Puschkin. Für ihn ist Don Juan ein Mensch, der nicht an ein endgültiges Ziel seiner Abenteuer glaubt. Er liebt die Frauen, die er verführt, zwar tatsächlich, aber gerade deshalb wiederholt er die Verführung immer wieder. Der Wunsch nach Quantität ist für Camus ein wichtiges Element des Lebens an der Schwelle zum Absurden. Wenn das Leben schon kein Ziel hat, muss man es umso mehr ganz ausschöpfen. Der andere in Don Juan verkörperte Aspekt ist das Leben außerhalb moralischer Normen. Wenn es keinen Sinn und keine höhere Gerechtigkeit gibt, entfällt auch die Bindung an moralische Standards. Es gibt zwar natürlich Verantwortung und Konsequenzen, aber es gibt für Camus keine echte Schuld. Camus zitiert hierzu den Bruder Iwan aus Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“ mit dem Satz „Alles ist erlaubt“, der nicht als Aufruf zur Anarchie sondern als ernüchternde Feststellung gemeint sein soll.

Ein anderer wichtiger Aspekt in Camus‘ Vorstellung vom Leben des absurden Menschen ist der Trotz. Es genügt nämlich nicht, sich ständig mit der Absurdität des Daseins zu konfrontieren, denn wenn wir in dieser Konfrontation unterliegen, bedeutet das nur Verzweiflung und Resignation. Camus stellt sich den absurden Menschen als einen robusten Kämpfer vor, der sich immer wieder über das Absurde erhebt und es sogar verachtet. Aus dieser Verachtung gewinnt der Mensch seine Würde. Diese Haltung sieht er in einer anderen sagenhaften Gestalt verkörpert, nämlich im Namensgeber des Essays.

Der glückliche Sträfling

Sisyphos, der berühmteste Sträfling der griechischen Mythologie, hat, wie der Mythos besagt, die Pläne des Zeus durchkreuzt und den Göttern verschiedene respektlose Streiche gespielt. Unter anderem soll er nach seinem Tod den Unterweltgott Hades ausgetrickst und sich einfach wieder unter die Lebenden geschlichen haben. Sisyphos ist also ein Mensch mit einer rebellischen Ader, der an seinem Leben hängt. Camus stellt sich deshalb vor, dass er die Götter und die monotone Strafe, die sie ihm auferlegt haben, verachtet haben muss. Mit dieser Verachtung erhebt sich Siysphos über die Götter, während er den Stein immer wieder sinnlos den Berg hinaufrollt, obwohl er schon weiß, dass er wieder hinunterrollen wird, und aus dieser Bewusstheit und seiner Verachtung für die Absurdität seiner Existenz gewinnt Sisyphos in Camus‘ Vorstellung eine würdevolle und sogar glückliche Existenz. Die berühmten letzten Sätze des Essays lauten:

Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jeder Gran dieses Steins, jedes mineralische Aufblitzen in diesem in Nacht gehüllten Berg ist eine Welt für sich. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Heute, mehr als achtzig Jahre nach dem Erscheinen dieses Essays, ist der von Camus erdachte absurde Mensch keineswegs ausgestorben, sondern vielleicht, nach einem Rückgang von religiöser Sinnsuche, präsenter als je zuvor. Zu Don Juan und Sisyphos sind neue Formen des absurden Menschen hinzugekommen und für mich persönlich gibt es einen bestimmten Typos und darunter eine ganz konkrete Person, die wie keine andere die Konfrontation mit der Absurdität verkörpert. Diesen Sisyphos des einundzwanzigsten Jahrhunderts müssen wir uns wohl tatsächlich als einen glücklichen Menschen vorstellen. Hauptberuflich ist er in einer amerikanischen Großstadt als Notfalltechniker und Feuerwehrmann tätig und nachdem er zu einer Internet-Berühmtheit wurde, tritt er auf Veranstaltungen als Motivationsredner auf. Er ist ehemaliges Mitglied der US-Armee und hat, wie seine Website verkündet, als einziger Soldat das dortige SEAL training, die Army Ranger School und das Air Force Tactical Air Controller training erfolgreich abgeschlossen. Er ist mehrfacher Bestseller-Autor, einer der bekanntesten Ausdauer-Athleten der Welt und nicht zuletzt hielt er bis vor kurzem einen Guinness-Weltrekord mit 4030 Klimmzügen in siebzehn Stunden, der inzwischen allerdings übertroffen wurde.

Der Mythos des Goggins

Mit bürgerlichem Namen heißt dieser Sisyphos David Goggins. Der Mythos des Goggins besagt, dass er erst zu dem werden musste, der er heute ist. In eigenen Worten: „I went from David Goggins and I created Goggins.“ David Goggins stammt aus einem armen Elternhaus, wurde von seinem Vater geschlagen und als Schwarzer schon als Kind von den Rassisten des Ku-Klux-Klan bedroht. Mit einer Lernschwäche mogelte er sich irgendwie durch die Schule. Nach einem ersten, gescheiterten Versuch, der Armee beizutreten, arbeitete er als Kammerjäger. Eines Tages, mitten in einem Einsatz in einem von Ratten und Kakerlaken heimgesuchten Lokal, beschließt er, dass diese Existenz als verängstigter und allen Herausforderungen aus dem Weg gehender Mensch nicht länger sein Leben sein soll. Er beschließt von einem Tag auf den anderen ein neuer Mensch zu sein, der seine Ängste konfrontiert und allem Unbequemen nicht mehr ausweicht, sondern es sucht. Er kündigt seinen Job um in die Armee einzutreten und trainiert für die Aufnahmeprüfung der Eliteeinheit Navy SEALs. Er nimmt mehr als 40 kg ab, um überhaupt zugelassen zu werden, und absolviert dann das Training der SEALs, das unter anderem aus der berüchtigten Hell Week besteht. Die Hell Week sind fünfeinhalb Tage, in denen die Kandidaten bei Kälte und Nässe anstrengende Fitnesstests bestehen müssen und in dieser Zeit nur insgesamt vier Stunden Schlaf bekommen. Nur 25% der Anwärter überstehen diesen extremen Test. Für David Goggins ist es der letzte Schritt in seiner Transformation zum glücklichen Sisyphos a.k.a. Goggins, der auch nach der bestandenen Prüfung nicht mehr damit aufhört, den Stein den Berg hinauf zu rollen.

Nach mehreren Militäreinsätzen im Irak und in Afghanistan scheidet Goggins aus der Armee aus, trennt sich aber nicht vom Prinzip der Konfrontation. Sein eigenes Leben aber weiterhin zur Hell Week. Der Kampf mit der physischen und mentalen Herausforderung wird zum Lebensinhalt und auch zu seiner Message in den sozialen Medien. Die Geschichten, in denen Goggins bei seinen selbstgewählten Herausforderungen an seine Grenzen stößt und diese dann doch durch reine Willenskraft überwindet, verbreiten sich im Internet und untermauern den immer umfangreicher werdenden Goggins-Mythos.

Eine dieser Geschichten geht so: Im Jahr 2020 läuft der 45 Jahre alte David Goggins bei einem Ultramarathon namens MOAB 240 mit. Die Strecke durch die Wüste von Utah ist 240 Meilen lang, also 383 Kilometer. Die Athleten sind mehrere Tage unterwegs. Manche legen sich hin und wieder am Streckenrand auf die nackte Erde, um etwas Schlaf zu bekommen, andere laufen einfach durch. Als David Goggins 200 Meilen gelaufen ist, ist er seit drei Tagen wach und er ist am Ende seiner Kräfte. Vor ein paar Jahren hatte er das Rennen schon einmal abbrechen müssen und jetzt sieht es wieder danach aus. Alles tut weh und er kann nicht mehr. Er betritt eine der öffentlichen Toiletten am Streckenrand und in der Toilettenkabine sitzend erklärt er das Rennen für sich als beendet. Da meldet sich eine innere Stimme. Es ist Goggins, der Mann, den er in der Hell Week kreiert hat. Goggins macht David eine Szene. Er sagt, dass das wohl nicht sein ernst sein könne, dieses Rennen ein zweites mal abzubrechen und dass er seinen Hintern jetzt aus dieser Toilettenkabine herausbewegen und das verdammte Rennen zu Ende laufen solle. Wahrscheinlich hat sich die innere Stimme etwas drastischer ausgedrückt. David Goggins läuft weiter und der Rest der Strecke wird zum Triumphzug. Er läuft die letzten 40 Meilen in einem Tempo, als hätte es die 200 vorher nicht gegeben, hängt seinen eigenen Tempomacher ab und läuft als Zweitplatzierter über die Ziellinie.

Für mich ist Sport und insbesondere der extreme Leistungssport, so wie Goggins ihn praktiziert, das moderne Symbol für die von Camus mit dem Sisyphos-Mythos veranschaulichte Sinnlosigkeit. Sport ist im Gegensatz zur Arbeit eine Anstrengung, die, wenn wir sie nicht gerade zum Beruf gemacht haben, keinen weiteren Zweck erfüllt. Der moderne Großstadtmarathon oder auch ein Ultra-Marathon wie MOAB 240 sind umso mehr die perfekten Symbole dieser Zwecklosigkeit, weil sie typischerweise am selben Ort starten, an dem sie enden. Im Ziel angekommen sind die Läufer wieder genau dort, wo sie losgelaufen sind. Genau wie Sisyphos sind sie trotz aller Anstrengung buchstäblich keinen Schritt weiter gekommen.

Lebenslange Transformation

Natürlich hat Sport für die meisten von uns einen gesundheitsfördernden Zweck, aber dieser Sinn fällt im extremen Ausdauersport eindeutig weg. Wer etwas für sein Herz-Kreislauf-System tun will, läuft nicht 100 Kilometer am Stück. Der Meniskus im Knie von David Goggins war durch die extremen Läufe so stark beschädigt, dass er sich von mehreren Knie-Experten behandeln lassen musste, um überhaupt noch laufen zu können. Es geht hier also sicher nicht um die Gesundheit. Allerdings geht es Menschen wie Goggins aber auch nicht gerade um nichts und der Vergleich mit Sisyphos würde ihn sicher stören. Für ihn ist die selbstauferlegte Anstrengung ein Arbeiten an sich selbst. Durch enorme Anstrengung hat er sich im Münchhausen-Stil an den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen und vom unzufriedenen Kammerjäger in einen stolzen Elitesoldaten transformiert. Am Ende der Transformation bleibt der Glaube an die Anstrengung und an die Fortsetzung der Transformation zum noch besseren Ich als lebenslange Aufgabe.

In genau diesem Punkt berühren sich meiner Meinung nach Camus‘ Philosophie und ein in den letzten Jahren vor allem von männlichen Social-Media-Bekanntheiten propagierter Trend – um nicht zu sagen: Wahn – des Self-Improvement. Die hinter diesem Trend stehende Theorie lautet ungefähr so: Seit der Steinzeit – denn das ist hier der Referenzpunkt – sind die Menschheit und vor allem die Männer immer mehr verweichlicht. Früher haben sie ihr Essen noch selbst gejagt und heute fällt ihnen alles direkt in den Schoß. Es gibt keine echte Härte und Herausforderung mehr in ihrem Leben und, schlimmer noch, die Gesellschaft redet ihnen auch noch ein, dass sie nicht hart und männlich sondern weich und sensibel sein sollen. Die These von der Verweichlichung wird durch Statistiken zur sinkenden Testsosteronspiegeln und rückläufiger sexueller Aktivität junger Männer untermauert. Um die Männer zu retten, haben es sich einige sehr bekannte Persönlichkeiten zur Aufgabe gemacht, Männlichkeit im althergebrachten Sinne positiv darzustellen und ihr Publikum zu Maßnahmen der Abhärtung und Selbstverbesserung zu animieren. Das beginnt beim einfachen Fitness-Influenzer, der vor der Kamera seinen Bizeps trainiert und die Vorteile von Kältebädern erklärt, bis hin zu Leuten, die mit Pfeil und Bogen auf die Jagd gehen, auf nackten Holzbrettern schlafen und zur Potenzsteigerung rohe Rindergenitalien konsumieren.

Das alles ist erst einmal ein Geschäftsmodell, aber die Tatsache, dass es funktioniert, zeigt den Zuspruch für die dahinterstehende Denkweise. Der Ausgangspunkt der Selbsoptimierungsphilosophie ist ähnlich wie bei Camus‘ Denken das Fehlen eines anderen Ziels. Auch wenn das Self-Improvement durch Abhärtung laut seiner Verfechter die Männer zu besseren Liebhabern, Unternehmern, Familienvätern und rundum zu besseren Mitgliedern der Gesellschaft macht, gehört es nicht zur Strategie, all diese Ziele auf direktem Wege zu verfolgen. Wer diesen Weg einschlägt, wird ein besserer Mann und damit wird automatisch auch alles weitere besser, aber darum soll es nicht gehen. Die Selbstverbesserung wird in der Regel als der Weg und gleichzeitig als das sich schon genügende, einzig relevante Ziel präsentiert.

Bei allen Gemeinsamkeiten, die man meiner Meinung nach hier entdecken kann, gibt es aber auch einen entscheidenden Unterschied: Der absurde Mensch bei Camus ist derjenige, der sich immer wieder mit vollem Bewusstsein mit der Absurdität und Ziellosigkeit seiner Existenz konfrontiert. In der Regel fehlt diese Bewusstheit dem modernen Selbstoptimierer. Er hat zwar genau wie der Absurde alle anderen Ziele letztlich verworfen, aber statt die Sinnlosigkeit aller Ziele zu akzeptieren, und obwohl er weiß, dass auch seine Selbstverbesserung nicht wirklich auf ein sinnvolles Ziel zuläuft, hat er einfach die Optimierung selbst, also den Weg, zum ultimativen Ziel erklärt. Er sieht in seinem Handeln durchaus einen tieferen Sinn und nichts würde ihm tatsächlich mehr wiederstreben, als jemand zu sein, der kein Ziel verfolgt.

Camus fordert vom absurden Menschen also gewissermaßen die größere Radikalität. Die bewusste Konfrontation mit dem Absurden ist die ultimative mentale Abhärtung, der Ultra-Marathon durch die Wüste des Denkens, in die sich nicht einmal der spartanischste Selbstoptimierer hinauswagt. Aber man kann sich vielleicht fragen, ob nicht auch Camus hier draußen in der Wüste am Ende rückfällig wird und doch wieder zu einem Sinn zurückfinden will, wenn er von der Freiheit und der Würde spricht, die der Mensch durch seinen ständigen Kampf gegen das Absurde gewinnt. Wenn wir die absolute Freiheit dadurch erreichen, dass wir alle Ziele als nichtig erkennen, dann ist diese Freiheit doch ein neues Ziel, dem wir einen Wert beimessen. Wenn die Konfrontation mit der Sinnlosigkeit unserer Existenz uns zu einer neuen Würde führt, dann ist diese Würde doch ein neuer Sinn des Lebens. Es kommt mir jedenfalls so vor, als ob Camus selbst hier in seiner Hingabe an das Absurde an eine Grenze stößt. Ein wirklich in letzter Konsequenz von jedem Ziel und jedem Sinn befreites Denken ist vielleicht einfach nicht möglich. Camus‘ Verdienst bleibt, sich diesem Denken so weit angenähert zu haben, wie es irgendwie geht.

Der absurde Roman

Der Essay, der mit der Frage nach dem Sinn des Lebens begonnen hat, wird an seinem Ende noch zu einem Text über Kunst. Camus, der sich selbst mit seiner Philosophie der Konfrontation mit der Absurdität als ein Befreier des Individuums sieht, aber als Romanautor auch Künstler ist, beschäftigt sich hier mit der Frage, welche Rolle die Absurdität im Kunstwerk spielen soll. Die Kunst ist gewissermaßen ein Gegenpol zum philosophischen Text. Der gute Roman soll aus seiner Sicht nicht erklären sondern zeigen. Der absurde Roman belehrt nicht, sondern veranschaulicht nur das Absurde und ist sich dabei auch seiner eigenen Grundlosigkeit und Absurdität bewusst.

Dostojewski und Kafka sind die Autoren, die Camus beispielhaft für solche absurden Werke heranzieht. Die Erstveröffentlichung des Essays geht nur auf Dostojewski und eine Figur aus seinem Roman „Böse Geister“ ein. Ursprünglich sollte an dieser Stelle ein Kapitel zu Absurdität und Hoffnung in Kafkas Romanen „Der Prozess“ und „Das Schloss“ stehen, aber als das Manuskript im Jahr 1942 gedruckt werden sollte, war Paris von den Nazis besetzt und man hatte Camus geraten, das Kapitel über den jüdischen Autor Kafka herauszunehmen. Er veröffentlichte den Kafka-Text später separat und heute ergänzt er den Essay als Anhang. Kurz gesagt erkennt Camus jedenfalls bei beiden großen Romanciers Tendenzen eines absurden Kunstwerks, aber beide erfüllen seine Kriterien nicht ganz, weil sie beide vom Absurden immer wieder zu einer Hoffnung zurückkommen, die bei Dostojewski sogar eine Hoffnung auf Gott ist. Das wirklich absurde Kunstwerk in Camus Sinne musste zu dieser Zeit also erst noch geschaffen werden. Er selbst arbeitete während der Entstehung des Essays an seinem Theaterstück „Caligula“ und am Roman „Der Fremde“.

„Der Mythos des Sisyphos“ handelt also davon, wie der Mensch in seinem Leben und in seiner Kunst mit der eigenen Sterblichkeit und den Umständen seiner Existenz umgehen soll. Der Umgang mit dem, was er hier unter dem Begriff des Absurden zusammenfasst, ist für Camus der Maßstab für gutes Leben und für gute Kunst. Seine radikale Forderung lautet, sich der oft verdrängten Absurdität bewusst zu stellen und sie in der Kunst zu zeigen. Trotz der düsteren Grundhaltung zur Sinnfrage ist der Essay ein positiver, lebensbejahender Text, der davon ausgeht, dass die Absurdität nicht nur ertragen werden sondern, wie im berühmten Schlusssatz des Textes, sogar zu einem glücklichen Dasein führen kann.


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