Rache für Carsten Niebuhr | „Die Dame mit der bemalten Hand“ von Christine Wunnicke

Der Roman „Die Dame mit der bemalten Hand“ aus dem Jahr 2020 handelt von der Wahrheit, and davon, wie schwer die Suche nach ihr sein kann. Mitte des achtzehnten Jahrhunderts unternimmt der persische Astronom Musa al-Lahuri eine Geschäftsreise an der indischen Westküste, um eines seiner handgefertigten astronomischen Beobachtungsgeräte zu verkaufen. Auf der Heimreise strandet sein Schiff auf der kleinen Insel Elephanta in der Bucht von Mumbai. Eine Flaute macht die Weiterreise erst einmal unmöglich und es bleibt dem Astronom nichts anderes übrig, als zu warten und zusammen mit seinem Diener die altindischen Ruinen zu erkunden, die sich auf der Insel befinden. Er trifft dort zu seiner Überraschung auf einen Europäer, der mitten in den Ruinen auf dem Boden sitzt und Zeichnungen der alten Tempelanlagen anfertigt.

Die beiden Männer verständigen sich in brüchigem Arabisch und es stellt sich heraus, dass der Mann Carsten Niebuhr heißt und mit einem Auftrag hierher gekommen ist. Er soll herausfinden, ob es sich bei einer der alten mythischen Figuren der hinduistischen Tempelanlage um eine Darstellung des alttestamentarischen Königs Salomon handeln könnte. Niebuhr befindet sich schon seit mehreren Jahren auf einer großen Forschungsreise durch den arabischen Raum und hatte nur einen Abstecher nach Mumbai gemacht, um diese letzte Frage noch zu klären. Danach will er nach Göttingen zu seinen akademischen Auftraggebern zurückkehren, falls er nicht dem Fieber erliegen wird, an dem er unterwegs erkrankt ist. Alle anderen Forscher seiner Expedition sind an dieser Krankheit bereits in Arabien gestorben und er selbst ist inzwischen so stark durch die Krankheit geschwächt, dass er nun vor den Augen des persischen Astronoms zusammenbricht. Musa al Lahuri versorgt den fieberkranken Niebuhr und die beiden Männer unterhalten sich ein paar Tage lang über ihre Wissenschaften und über Niebuhrs Reise.

Die Arabische Reise

Carsten Niebuhr war ein realer Forscher, der von 1761 bis 1767 tatsächlich mit seiner sogenannten Arabischen Reise eine große Expedition nach Vorderasien durchführte und später darüber schrieb. Mit ihm und dem wahrscheinlich frei erfundenen Astronom Musa al Lahuri lässt Christine Wunnicke in diesem Roman zwei sehr gegensätzliche Charaktere auf einander treffen. Beide sind Wissenschaftler, aber ihr Verhältnis zur Wahrheit könnte kaum unterschiedlicher sein. Niebuhr ist ein faktentreuer Pedant, der auf seiner Reise jedes noch so unbedeutende Detail aufgezeichnet hat. Die Göttinger Professoren haben ihm und seinen Reisegefährten eine lange Liste von Fragen mitgegeben, die Niebuhr trotz des katastrophalen Verlaufs der Expedition noch immer sklavisch abzuarbeiten versucht, selbst nachdem alle anderen Forscher tot sind und er selbst um sein Leben fürchten muss. Musa al Lahuri hingegen interessiert sich zwar für diese Reise des deutschen Patienten durch Arabien, aber von dem ganzen Detailkram will er nichts wissen. Er fragt Niebuhr erst einmal nach seiner Familiengeschichte. Niebuhr kann gar nicht verstehen, wie man sich dafür interessieren kann, und nennt ihm nur ein paar spärliche Daten über Herkunft und Beruf seines Vaters. Musa al Lahuri antwortet darauf, als eine Demonstration, wie man so etwas richtig erzählt, mit einer haarsträubenden und komplett zusammengelogenen Version von seiner eigenen Familiengeschichte.

Niebuhrs mit deutscher Gründlichkeit pedantisch zusammengetragene Fakten und Musa al Lahuris mit Leichtigkeit erzähltes, persisches Märchen von der eigenen Familie sind also die beiden Darstellungsformen, die Wunnicke hier samt der dahinterstehenden Denkweisen aufeinanderprallen lässt. Beide Formen müssen die Wahrheit verfehlen, weil es ihnen genau an dem mangelt, was der andere Weg zu bieten hat. Niebuhrs nackte Datensammlung fehlt es an jeglicher Pointe und Intention, während al Lahuris Erzählung nur daraus besteht, aber keinen Bezug zu realen Daten hat. Eine Symbiose dieser beiden Extreme, so könnte man denken, wäre der bessere Weg, um der Wahrheit gerecht zu werden.

Versionen von Wissenschaft

Es ist allerdings kein ganz so symmetrisches Duell zwischen vermeintlich östlicher und westlicher Denkweisen, das sich in den Ruinen von Elephanta abspielt. Auch Musa al Lahuri ist als Astronom am Hof von Jaipur genau wie Niebuhr damit beschäftigt, berufsmäßig Daten aufzuzeichnen. Er ist Niebuhr allerdings dadurch überlegen, dass er seiner Wissenschaft ein Stück weit desillusioniert gegenübersteht. Ihm ist bereits bewusst, dass es Fragen gibt, die er nicht beantworten kann. Bei seinen Beobachtungen der Gestirne ist er auf Bahnen gestoßen, die sich mit den Keplerschen Ellipsen nicht erklären lassen. Vielleicht spielt Wunnicke hiermit auf die Periheldrehung des Merkur an, die erst in Einsteins Relativitätstheorie einen Sinn ergeben wird. Als Astronom des achtzehnten Jahrhunderts hat Musa al Lahuri keine Chance, dieses Phänomen zu verstehen, und er gibt sich mit dieser Unwissenheit zufrieden.

Carsten Niebuhr ist nicht der Mann, der Fragen einfach unbeantwortet lassen kann. Er befindet gerade mitten in diesem Desillusionierungsschritt, den sein älterer persischer Kollege schon hinter sich hat. Das Fieber, das er überwinden muss, ist wie ein Symbol für den Forschungswahn der europäischen Aufklärungsepoche. Gerade durch den Kontrast zu seinem abgebrühteren Gesprächspartner erscheint der naive Niebuhr in diesem Roman oft als eine komische Figur, aber Wunnicke erzählt seinen Erkenntnisprozess auch mit viel Empathie. Wenn Niebuhr am Ende nach Göttingen zurückkehrt und feststellen muss, dass seine Auftraggeber erst einmal überrascht sind, dass die Expedition überhaupt einen Überlebenden hat, dann ist der Roman wie eine kleine Racheschrift für diesen Mann, der bereit war, sein Leben für diese Expedition zu opfern. Die eigentlich lächerlichen Figuren dieser Geschichte sind die Professoren, die vom gemütlichen Göttingen aus die Reise anderer Leute geplant hatten und glaubten, man könne alle Geheimnisse der Weltgeschichte lösen, indem man kurz mal zu den Originalschauplätzen fährt und ein paar Messungen durchführt.

Der Reiz der offenen Fragen

Es gehört zum Konzept der Entzauberung von Forschungswahn, dass der Roman Fragen aufwirft und unbeantwortet lässt. Wir dürfen Niebuhr und Musa al Lahuri in eine mystischen Grauzone zwischen Wahrheit und Irrtum begleiten und müssen uns damit abfinden, dass sich der Nebel dort nicht lichtet. Das betrifft die Geheimnisse der Insel Elephanta mit ihren Ruinen, ihren Höhlenanlagen und mysteriösen Einwohnern, aber auch das Zwischenmenschliche, das sich unter den Protagonisten dieser Zufallsbekanntschaft abspielt. Die Welt erscheint hier dadurch als ein interessanterer Ort, dass man das Unwissen akzeptiert und auch darauf verzichten kann, den Schleier der Wahrheit zu lüften.

„Die Dame mit der bemalten Hand“ ist ein kurzer Roman. Nach 166 Seiten ist die Reise vorbei. Es gibt trotz der geringen Personenzahl eine ganze Reihe von Nebenhandlungen, die nur allerdings angedeutet werden. Christine Wunnicke gelingt das mit erzählerischer Eleganz, aber man kann sich fragen, warum diese Stränge hier nicht weiter auserzählt wurden. Allein Niebuhrs ereignisreiche Arabien-Reise, von der wir hier durch ihn nur aus zweiter Hand und in aller Kürze erfahren, hätte ein eigener Roman sein können, den Wunnicke aber offenbar nicht schreiben wollte. Wahrscheinlich gerade weil umfangreiche Reiseerzählungen dieser Art genau zu solchen Ansammlungen von Kleinigkeiten werden können, von denen sie den Sammler Niebuhr befreit sehen wollte. Die zentrale Pointe des Romans wäre in einem längeren Text vielleicht als nur eine von vielen Episoden untergegangen. Die Beschränkung auf die wesentliche Message ist also gleichzeitig der Appell an ihren Protagonisten und auch das Prinzip dieses Romans. Das Ergebnis ist eine elegante, witzige und trotz der Kürze auch tiefgründige Geschichte über Forschung, Wahrheit und über fast so etwas wie eine Freundschaft.


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