Das eine Prozent der Reichen und die restlichen neunundneunzig Prozent leben in zwei verschiedenen Welten. So sieht es die Soziologie und so sah es die Occupy-Bewegung. Die Reichen haben sich vom Leben der Normalsterblichen abgekapselt, und zwar nicht nur durch die Villa, den Tesla und die Yacht. In Zeiten des Neoliberalismus, in denen alle Lebensbereiche der Kaufkraft und Wirtschaftlichkeit untergeordnet sind, haben Milliardäre auch andere Möglichkeiten der politischen Einflussnahme und auch ein Gerichtsprozess, dessen Anwaltskosten den Normalverbraucher ruinieren können, sieht ganz anders aus, wenn man sich ein ganzes Team von Anwälten leisten kann. Das eine Prozent hat einen anderen Zugang zu Recht und Macht und eine andere Mobilität im globalisierten Kapitalismus. Platin lounge und priority boarding in jeder Hinsicht.
Ein popkulturelles Symbol für diese Superkräfte der Reichen ist die Comicfigur Bruce Wayne, die im Gegensatz zu anderen Comichelden nicht durch ominöses Kryptonit aus dem Weltall oder durch einen radioaktiven Unfall zu außergewöhnlichen Kräften kommt, sondern sich allein durch seinen enormen Reichtum in den Superhelden Batman verwandeln kann. Vielleicht sind die Batman-Comics deshalb so populär und so oft verfilmt worden, weil sie zumindest in diesem Punkt realistisch sind. Auch manche realen Milliardäre wie etwa Bill Gates haben ein Bedürfnis, ihre Superkräfte für die gute Sache einzusetzen und den neunundneunzig Prozent etwas zurückzugeben. Aber es gibt keine Verpflichtung dazu. Wie im Comic gibt es auch in der Wirklichkeit die andere Sorte der Superreichen, die ohne Rücksicht die eigenen Ziele verfolgen und es damit weit bringen können, denn wer sollte sie schon aufhalten? Friedrich Dürrenmatts Komödie „Der Besuch der alten Dame“ aus dem Jahr 1956 fragt nach den Grenzen dieser Superkräfte. Gibt es nicht doch irgendwo ein Stoppschild, eine verschlossene Tür, vor der auch die Reichsten der Reichen halt machen müssen? Es ist die Frage nach einem letzten moralischen Tabu, das nicht gebrochen werden kann. Einen höchsten Wert, der sich nicht mit Geld aufwiegen lässt.
Das Stück spielt in einer heruntergekommenen Kleinstadt namens Güllen. Die Bürger der Stadt sind verarmt, die Betriebe und Gasthäuser sind pleite. Claire Zachanassian, die in Güllen aufgewachsen ist und durch eine Heirat mit einem Industriellen zur Milliardärin wurde, erstattet nun als alte Frau ihrer Geburtsstadt einen Besuch. Bei den Güllenern werden dadurch große Hoffnungen geweckt und tatsächlich verspricht die reiche alte Dame direkt nach ihrer Ankunft großzügig, der Stadt eine ihrer Milliarden zu schenken. Allerdings nur, unter einer Bedingung: Einer der Bürger dieser Stadt soll sterben, nämlich ausgerechnet Herr Ill, mit dem sie als junge Frau eine leidenschaftliche Beziehung hatte. Mit ihm hat sie eine alte Rechnung offen.
Angebot abgelehnt
Der Bürgermeister lehnt den Vorschlag der Milliardärin sofort ab und erntet dafür den frenetischen Beifall der ganzen Stadt. Ein Menschenleben für einen Geldsegen zu opfern sei absurd, und sei die Summe noch so astronomisch. Man stellt sich demonstrativ hinter Herrn Ill und beteuert, das Angebot der alten Frau als schlechten Scherz zu betrachten. Herr Ill, der in Güllen einen kleinen Laden betreibt, stellt in den nächsten Tagen aber fest, dass seine Mitbürger plötzlich anfangen, ihr letztes Geld auszugeben. Die Güllener kommen mit neuen Schuhen in seinen Laden, leisten sich dort die teureren Süßigkeiten und Schnäpse und erzählen von ihren neuen, kostspieligen Hobbies. Der Jugendfreund der alten Dame muss mit ansehen, wie sich die ganze Stadt verschuldet und offenbar darauf spekuliert, dass irgendwer ihn eben doch umbringen wird. Claire Zachanassian sitzt währenddessen umgeben von einem ganzen Hofstaat von Bediensteten in ihrem Gästezimmer mitten in der Stadt und bereitet sich darauf vor, ihre großzügige Schenkung doch noch loszuwerden.
Mit vierunddreißig verschiedenen Personen, ist Dürrenmatts Theaterstück umfangreich besetzt, aber wenigstens darf am Bühnenbild gespart werden. Die Schauplätze der Handlung werden auf Wunsch des Autors nur angedeutet. Für das Wirtshaus, in dem Claire Zachanassian untergebracht ist, genügt ein von der Decken herabhängendes Schild, der Bahnhof besteht aus ein paar Hinweisschildern und einer Holzbank und für die Kirche und die Polizeidienststelle sind außer Pfarrer und Polizist kaum mehr als ein Stuhl und ein Tisch auf der Bühne. Der vor der Stadt liegende Wald, in dem Claire Zachanassian und Herr Ill früher romantische Stunden verbracht hatten und sich nun wieder zum Gespräch treffen, werden sogar die Bäume nur angedeutet, indem sie von drei Schauspielern dargestellt werden, die vorher schon als Dorfbewohner aufgetreten waren. Wenn Claire ein Reh durch den Wald springen sieht, hüpft einer der drei Statisten stellvertretend für das Tier über die Bühne und wenn sie das Klopfen eines Spechts hört, nimmt einer von ihnen eine Tabakpfeife aus der Hosentasche und klopft mit einem Schlüssel dagegen.
Witz und Verfremdung
Ähnlich wie Brecht zur selben Zeit in einer anderen Ecke des deutschsprachigen Raums nutzt Dürrenmatt also Verfremdungseffekte um auf sein eigentliches Thema zu fokussieren. Die Verfremdung liegt wie ein verzerrender Filter über dem gesamten Stück und will sagen: Dieses Bühnenbild ist kein bestimmter Ort. Dieser Wald und diese Kleinstadt sind überall. Das hier ist ein Gedankenexperiment. Die Nebenfiguren sind zwar zahlreich, aber sie sind derart groteske Karikaturen, dass auch sie nicht Gefahr laufen, unerwünschten Realismus zu erzeugen. Im Hofstaat der Milliardärin gibt es zum Beispiel zwei Reisebegleiter, die sich vollkommen identisch verhalten und jeden Satz zweimal sagen. Die alte Dame selbst lässt sich während des Stücks mehrfach scheiden und sofort neu verheiraten und ihre drei im Stück erscheinenden Ehemänner sind ihr vollkommen ergebene und ziemlich verblödete High-Society-Stereotypen, die laut Regieanweisung alle vom selben Schauspieler gespielt werden dürfen.
Die Verfremdung hat hier also auch einen komödiantischen Effekt. Es geht zwar um Leben und Tod, aber für Dürrenmatt ist das kein Grund, dass nicht auch gelacht werden darf. Was er zu sagen hat verpackt er als Witz. Die von Brecht bekannte und berüchtigte Belehrung des Publikums wird hier geschickt mit Pointen und Karikaturen serviert. Herr Ill ist in dem ganzen Gewirr die einzige realistische Figur und erfüllt die in der Komik notwendige Rolle des straight man. Er selbst hat keine Pointen. Es ist seine traurige Aufgabe, zu reagieren, und stellvertretend für das Publikum, den sich abspielenden Irrsinn fassungslos zu akzeptieren. Ganz uneingeschränkt bemitleiden kann man ihn nicht, denn wie jede realistische Figur ist er nicht nur Opfer, sondern war auch selbst einmal Täter.
Heute besteht die Gefahr, dass wir dieses Stück nur noch als Komödie sehen, besonders nachdem es so oft mit Deutschlands liebsten Fernsehlieblingen aufgeführt und verfilmt wurde. Klar, der Dürrenmatt wollte damals wohl auch irgendwas sozialkritisches sagen, aber schau mal, wie toll Christiane Hörbiger die Zachanassian spielt! Das was Dürrenmatt sagen und wovor er warnen wollte ist für uns heute umso schwieriger zu verstehen, weil es längst eingetreten ist. Es geht um die Unterordnung aller Lebensbereiche und Werte unter die Herrschaft der Wirtschaftlichkeit und Kaufkraft. Dürrenmatt hat ein Stück über den Neoliberalismus geschrieben, noch bevor selbst Foucault dieses Wort in den Mund nahm und lange bevor sich dieses Prinzip auf der ganzen Welt als neue Selbstverständlichkeit verbreitete. Es ist so, als ob wir einen alten Science Fiction-Film sehen, der von einer Katastrophe handelt, die inzwischen längst eingetreten ist und mit der sich alle schon abgefunden haben. „Invasion vom Mars“ als Videoabend mit dem marsianischen Mitbewohner.
Herr Ill und die Pandemie
Das beste Beispiel der jüngeren Vergangenheit ist die Corona-Pandemie. Hinter dem gesamten Management der Krise stand die unausgesprochene Frage: Wie viele Tote nehmen wir in Kauf, um unsere Wirtschaft am Leben zu halten. Die Antwort: sehr viele. Die Schulen mussten so schnell es ging wieder öffnen, damit Eltern wieder voll als Arbeitskräfte verfügbar waren. Wenn die Krankheit sich dadurch dann wieder überall hin verbreitete, auch bis in die Altenheime, dann ist das genau dieses Opfer, das die Stadt Güllen für ihr wirtschaftliches Allgemeinwohl in Kauf nimmt. Es soll ruhig einigen wenigen sehr schlecht gehen, wenn es der Mehrheit dafür ein wenig besser geht. Das war immer schon das Prinzip des Opfers.
Genau wie die Bürger von Güllen legen wir uns die Sache natürlich ganz anders zurecht. Niemand wird hier geopfert, um Gottes Willen, wir sind ja nicht bei den Barbaren. Wahrscheinlich waren diese Leute ja unvorsichtig oder hatten Vorerkrankungen und wären sowieso gestorben. Und wie lange hätten wir denn noch zu Hause sitzen sollen, oder überall diese Masken tragen, mit ihrem unangenehmen Geruch und den Druckstellen im Gesicht, das kann man doch nun wirklich nicht erwarten. Sowohl in Dürrenmatts verarmter Kleinstadt als auch in der Pandemie passiert einiges an Rechtfertigung und geistiger Verrenkung, um sich nicht einzugestehen, wie wenig einem das Leben der anderen tatsächlich bedeutet, und für was man es einzutauschen bereit ist.
Dürrenmatts Stück ist also nicht veraltet, sondern es ist so alt, dass es schon viel zu aktuell ist. Die hier behandelte Frage, die damals noch ein Sprengsatz an der Tabugrenze war, müssen wir heute schulterzuckend beantworten mit: Ja selbstverständlich würden wir Herrn Ill für eine Milliarde um die Ecke bringen. Was soll die Frage überhaupt? Geben Sie den Scheck schon her, Frau Zachanassian. Man wünscht sich fast, Dürrenmatt hätte seine Kritik nicht in so viel Witz verpackt, sondern sie mit dem Holzhammer eingebläut, damit sie auch fünfundsechzig Jahre später noch durchkommt, aber vielleicht ist es dafür wirklich einfach zu spät. „Der Besuch der alten Dame“ ist also leider eine dynamische und witzige Komödie. Es ist eine prophetische, längst wahr gewordene Karikatur einer Gesellschaftsordnung.
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