Die Erinnerung an den Nationalsozialismus und seine Verbrechen, die schon 1998 von Martin Walser in seiner berüchtigten Friedenspreis-Rede als zu viel empfunden wurde, und manchem seit jeher als lästige Pflichtübung gilt, spielt für Jaques Austerlitz, die Hauptfigur in W.G. Sebalds letztem Roman, eine vollkommen umgekehrte Rolle. Austerlitz fehlt die Erinnerung, er muss sie sich mühsam erarbeiten, und als er sie endlich findet, kann er sich nicht mit ihr abfinden.
Jaques Austerlitz arbeitet in England als Kunsthistoriker. Seine Erinnerung reicht nur bis ins Alter von vier Jahren zurück, seit dem er im trostlosen Haushalt eines walisischen Predigers nach dem zweiten Weltkrieg aufwuchs. Dass dieser Prediger nicht sein Vater war, hatte er erst nach dessen Tod erfahren. Wer seine tatsächlichen Eltern sind und wo er selbst herkommt, weiß er nicht. Dieses Fehlen seiner frühesten Erinnerungen und die Unkenntnis über seine Herkunft belasten Austerlitz nachhaltig. Sein ganzes Leben scheint von dem Gefühl beherrscht, nirgendwo hin zu gehören und entwurzelt zu sein. So wie er gewissermaßen durch sein Leben irrt, hat er die Angewohnheit, sich nachts ziellos durch die Straßen von London treiben zu lassen – wie auf der Suche nach einem Hinweis, den er eines Tages tatsächlich erhält: Beim betreten der Liverpool Street Station wird ihm plötzlich klar, dass er hier als Vierjähriger mit einem Zug angekommen ist. Aus einem Radiobeitrag erfährt er später durch einen weiteren Zufall, dass im Jahr 1939 ein Kindertransport aus Prag in der Liverpool Street Station ankam. Austerlitz war eines der Kinder aus jüdischen Familien, die mit dem Zug nach England gebracht und so vor den Nationalsozialisten gerettet wurden.
Plötzliche Erkenntnis im Bahnhof
Der plötzliche Zugang zu seiner vergessenen Vergangenheit wirft Austerlitz zunächst vollkommen aus der Bahn. Schließlich unternimmt er Reisen nach Prag und dann nach Paris um nach weiteren Anhaltspunkten und letzten Spuren seiner Eltern zu suchen. Weiterhin bleibt diese Suche aber ein Sich-Treiben-Lassen durch Bahnhöfe, Museen, Gedenkstätten, Bibliotheken und schließlich auch Orte seiner Kindheit, immer in der Hoffnung auf den nächsten Hinweis. Das sich langsam zusammenfügende Bild von seiner Kindheit und dem Schicksal seiner Eltern kann ihm aber keine Erleichterung verschaffen, weil mit jedem neuen Anhaltspunkt nur deutlicher wird, was seiner Familie angetan wurde.
Die gesamte Figur Austerlitz ist vom Drang nach verlorener Erinnerung geprägt. Seine besonderen Leidenschaften sind die Architektur und die Fotografie – das in der Zeit unveränderliche, die Vergangenheit konservierende also. Die Architektur dient in diesem Roman, unter der fachkundigen Anleitung des Kenners Austerlitz, an mehreren Stellen als ein Symptom des Umgangs der in ihr verkehrenden Menschen mit verfließender Zeit. So ist die französische Nationalbibliothek beispielsweise laut Austerlitz ein den sie aufsuchenden Menschen feindliches Gebäude, das den Zugang zur Erinnerung eher versperren als ermöglichen will, und im Bahnhof von Antwerpen ist die große Bahnhofsuhr im Zentrum von allen Seiten und jedem Punkt aus sichtbar, weil die Zeit hier alles diktiert.
Der lange Weg zur Erinnerung
Raum und Zeit spielen in diesem Roman eine einzigartige Rolle. Ein unbarmherzig und bedrohlich fortschreitender Minutenzeiger einer Uhr in einer Bahnhofs-Bar oder ein Hinterhof eines alten Hauses, in dem die Erinnerungen durch die Schwerkraft so zusammengedrängt werden, dass die Zeit hier langsamer vergeht, gehören zu den Details, in denen die Zeit als heimliche Protagonistin hervortritt. Austerlitz ist ihr lebenslang gegen sie ankämpfender, ihr Erinnerungen abringender und doch letztlich unterliegender Gegenspieler. Auf seiner Suche reist er quer durch Europa und die Bewegung im Raum wirkt wie der Versuch, die Unmöglichkeit, in der Zeit zurückzugehen, zu kompensieren.
Wie mühsam die Erinnerung der Zeit abgerungen werden muss, zeigt sich besonders eindrucksvoll an einer Stelle, an der Austerlitz sich Szenen des teilweise verschollenen Nazi-Propagandafilms „Theresienstadt – Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ ansieht. Weil in diesem Film Bewohner des Ghettos Theresienstadt zu sehen sind und Austerlitz inzwischen weiß, dass seine Mutter dort eine Zeit leben musste, hofft er, sie irgendwo im Film zu erkennen. Damit ihm nichts entgeht, sieht er sich den Film wieder und wieder in mehrfacher Verlangsamung an. Die Zeit muss um ein vielfaches gedehnt werden, damit er kein Detail übersieht und gleichzeitig hat die Verlangsamung eine entlarvende Wirkung, wenn die kantigen Bewegungsabläufe der gezeigten Arbeiter zu schwerfälliger Apathie und die flotte Hintergrundmusik zum Trauermarsch werden. Schließlich findet Austerlitz in einer Szene irgendwo am Bildrand eine junge Frau, die dem Alter und Aussehen nach seine Mutter sein könnte. Die wenigen Sekunden, in denen diese Frau zu sehen ist, bleibt beinahe alles, was er dem Vergessen mit höchstem Aufwand abringen kann.
Sinnesorgane für die Vergangenheit
Jaques Austerlitz ist selbst der Erzähler seiner Lebensgeschichte, aber er erzählt sie nicht uns, sondern einem zwischengeschalteten, eigentlichen Erzähler des Romans, der zu Austerlitz eine ungewöhnliche Freundschaft aufrecht erhält und ihn über Jahrzehnte hinweg immer wieder in verschiedenen europäischen Städten trifft – mal nach Verabredung und mal durch eigentümliche Zufälle. Die Suche nach Erinnerung wird so in eine Rahmenhandlung eingebettet und die Figur Austerlitz wird durch die Perspektive des Erzählers selbst zum Gegenstand der Betrachtung. Ganz am Anfang des Romans, kurz vor seiner ersten Begegnung mit Austerlitz, besucht der Erzähler ein Nocturarium in Antwerpen. Ihm fällt auf, dass die dort in der Dunkelheit lebenden Tiere besonders große Augen besitzen. Am Ende des Romans besucht der Erzähler dasselbe Nocturarium noch einmal und inzwischen kann man auf den Gedanken kommen, dass auch Jaques Austerlitz eines dieser Wesen ist, das besonders sensible Sinnesorgane besitzt, um genau das wahrzunehmen, was ihm am meisten fehlt, nämlich die Erinnerung. Sein die Architektur von Bahnhöfen, Festungsanlagen und Bibliotheken scheinbar ziellos absuchendes Auge ist von Anfang an auf genau jene Anhaltspunkte trainiert, noch bevor er selbst überhaupt ahnt, wonach er eigentlich sucht.
So wie Jaques Austerlitz den Propagandafilm verlangsamt, um kein Detail zu verpassen, erzählt W.G. Sebald in einer intensiven Sprache und einer keine Beobachtung auslassenden, tiefen Ernsthaftigkeit, die man sich für das Wichtigste vorbehält. Für mich ist „Austerlitz“ eine einzigartige Streitschrift für die Erinnerung und ein Dank dieser intensiven Sprache ein literarisches Meisterwerk.
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