Nach dem Weltuntergang | „Die Straße“ von Cormac McCarthy

Was bleibt übrig, wenn die Welt untergegangen ist? Cormac McCarthys Roman „Die Straße“ („The Road“) aus dem Jahr 2006 zeigt eine düstere, post-apokalyptische Welt. Die Vegetation ist tot, Tiere gibt es nicht mehr, Städte und Dörfer sind verwaist. Nur ein paar Menschen leben noch und sie sind vor einander auf der Flucht, denn die letzten Lebensmittelvorräte werden knapp und der Kannibalismus greift um sich.

In dieser trostlosen Szenerie sind ein Mann und sein kleiner Sohn zu Fuß unterwegs auf einer Straße. In einem alten Einkaufswagen transportieren sie alles, was ihnen geblieben ist: ein paar letzte Konservendosen, Plastikplanen und Decken. Ihr Alltag besteht darin, verlassene Häuser nach Nahrungsresten zu durchsuchen, sich gegen die eisige Kälte und gegen eventuelle Zufallsbegegnungen zu schützen und so weit wie möglich weiterzugehen, in Richtung Süden, in der Hoffnung, dort noch irgendetwas zu finden, wovon sie selbst nicht genau wissen, was es sein könnte.

Wir wissen nicht, wodurch es zu diesem apokalyptischen Szenario gekommen ist. Von Krieg oder einer Naturkatastrophe ist keine Rede, aber es ist klar, dass es das Ende des Lebens auf der Erde ist. Es ist ein toter Planet, den McCarthy beschreibt. Überall in der Luft ist Asche, kein Grashalm ist mehr am Leben, kein Vogel, kein Insekt. Es fahren keine Züge und die Kraftwerke produzieren keinen Strom mehr. In den leeren Häusern kann man nicht bleiben, weil man von den brutalen umherziehenden Banden gefunden und versklavt oder getötet wird. Nur die Straße und das In-Bewegung-Bleiben sind eine letzte Chance vorerst zu überleben.

Auch das kulturelle Leben existiert in dieser Endzeit nicht mehr. In einer Szene erinnert sich der Mann kurz an den Moment, als er zum letzten Mal ein Buch in der Hand hält und es ungerührt beiseite legt, weil es jeglichen Wert verloren hat. Es geht nun um das nackte Überleben. Der Roman geht allerdings auch der Frage nach, ob es doch noch etwas anderes gibt, was am Ende übrigbleibt.

In Bewegung bleiben

Die Einschränkung auf das Wesentliche ist nicht nur die Überlebensstrategie der beiden Protagonisten, die auf ihrem Weg durch eine trostlose und gefährliche Welt immer wieder Dinge zurücklassen und mit ihren Vorräten und Kraftreserven knapp kalkulieren müssen, sondern es ist auch das Grundprinzip in McCarthys Erzählstil. Die Schauplätze dieser Wanderung, die Begegnungen mit anderen Menschen und die Erinnerungen des Mannes an Szenen aus einer noch nicht zerstörten Welt werden sehr knapp und präzise skizziert. McCarthy gönnt sich kein langes Verweilen in einem Bild, einem Gedanken oder Monolog, denn auch der Mann und sein Sohn müssen immer weiter, um nicht am Wegrand zu erfrieren oder von den umherziehenden Plünderern getötet zu werden.

Es gehört zu dieser Reduktion auf das Wesentliche, dass wir die Namen der beiden Hauptfiguren nicht erfahren. Auch die wenigen anderen Charaktere bleiben namenlos. Der einzige Rest an Zivilisation und geistigem Leben besteht in der Zusammengehörigkeit des Mannes und seines Sohnes und insbesondere ihrer genial geschriebenen Dialoge, die knapp und schlicht gehalten sind und trotzdem die ganze Tiefe ihres gegenseitigen Vertrauens und der speziellen Dynamik ihrer Beziehung hervorbringen. Der Sohn ist wahrscheinlich im Kindergarten- oder frühen Grundschulalter. Er weiß vieles noch nicht über die Welt, wie sie einmal war, und ist stark auf das Wissen und den Überlebenswillen seines Vaters angewiesen. Er selbst ist gleichzeitig die einzige Quelle für die Hoffnung des Vaters, der von Beginn der Erzählung an nur noch zwei letzte Patronen in seinem Revolver hat, die er sich nicht nur für ihre Verteidigung sondern für den schlimmsten Fall auch für sie selbst aufhebt.

Im Verlauf der Geschichte wächst der Sohn, innerhalb ihrer Beziehung in eine immer wichtigere Rolle hinein und entwickelt sich vom hilfsbedürftigen Anhängsel des Vaters in gewissem Sinne sogar zum führenden Part des Duos. Es ist eine Entwicklung, die sich auf einer geistigen Ebene abspielt und sich um das zentrale Thema des Romans dreht: Der Vater hat dem Sohn anfangs beigebracht, dass sie die Guten sind, die sich vor den Bösen, schützen müssen, den plündernden Kannibalen, deren Grausamkeit sie in einigen alptraumhaften Begegnungen zu sehen bekommen. Im Verlauf der Geschichte ist es aber der Sohn, der diese Unterscheidung zwischen gut und böse stärker verinnerlicht hat, als der Vater, und dessen Handlungen hinterfragt. Wenn der Vater sich gezwungen sieht, andere Menschen hilflos zurückzulassen oder zu berauben, um ihr eigenes Überleben zu sichern, fragt der Sohn: „Sind wir noch die Guten?“ Es ist dieses Bekenntnis zu dem, was sie beide für das Gute halten, was zwischen ihnen zu einer Spannung führt und sie doch sie zusammenhält und weitergehen lässt, in der letzten Hoffnung, irgendwo im Süden noch auf die letzten anderen guten Menschen zu treffen.

Der Weg durch die Wüste

Amerikanische Literaturkritiker haben auf Verbindungen des Romans zum Alten Testament hingewiesen. Zum Beispiel treffen Vater und Sohn unterwegs auf einen Mann, der sich Ely nennt – der einzige Name, der im gesamten Buch auftaucht und sich als ein Pseudonym herausstellt, das der alte Mann sich passenderweise selbst gegeben hat. Er behauptet nämlich, er habe das Ende der Welt schon lange kommen sehen und entpuppt sich also als eine Version des Propheten Elias, der im alten Testament die große Katastrophe voraussagt.

Insgesamt ist in der Handlung und der Symbolik des Romans auch das Buch Exodus zu erkennen. Der Vater ist eine Art Moses, der innerlich mit Gott spricht und hadert. Er glaubt, oder redet sich ein, Gott habe ihm den Auftrag gegeben, den Sohn, und mit ihm das Gute, zu beschützen und an irgendein Ziel zu bringen. Vater und Sohn sind auf der Flucht durch die postapokalyptische Version einer Wüste und versuchen, unterwegs die Regeln herauszufinden, nach denen sie Leben sollen und sich über ihr ungewisses Verhältnis zu Gott und dem Ziel ihrer Reise Klarheit zu verschaffen. Wenn der Vater dem Sohn erklärt, dass sie das Feuer in sich tragen, bedient er sich direkt bei der Symbolsprache des alten Testaments. In McCarthys Version vom Ende der Welt ist es also eine rudimentäre Religiosität, die als harter Kern des geistigen Lebens übrigbleibt und wieder bei ihren Ursprüngen neu beginnt, wenn alles Unwesentliche weggewischt ist. Ohne diese Religiosität hätten der Vater und sein Sohn keine Antwort auf die Frage, warum sie weitergehen sollen und wer sie überhaupt sind. Der Glaube an das Höhere in einem selbst ist es, was in einer toten Welt am Ende überlebt.

Cormac McCarthy gehört zu den Lieblingsautoren der Filmindustrie und „Die Straße“ wurde mit Viggo Mortensen in der Rolle des Vaters verfilmt. Die wohl bekannteste Verfilmung unter McCarthys Romanen ist „No Country for old men“ von Ethan und Joel Cohen. Angeblich ist der inzwischen weit über achtzigjährige, zurückgezogen lebende McCarthy immer wieder mal für den Literaturnobelpreis im Gespräch. Den Pulitzer-Preis hat er für „Die Straße“ bereits bekommen. „Die Straße“ hat er seinem Sohn gewidmet und es ist deshalb nicht weit hergeholt, sich unter den beiden Protagonisten Vater und Sohn McCarthy vorzustellen. Vielleicht kam die Idee zu diesem Roman aus einem Tagtraum: Wie würden wir beide uns wohl durchschlagen, wenn wir die letzten Menschen wären? Wären wir dann immer noch die Guten?

Wegen seiner genial schlichten und gleichzeitig lyrischen Sprache, der mitreißenden Erzählweise und der Tiefe seiner Handlung ist „Die Straße“ der beste Roman, den ich seit langem gelesen habe. Von mir aus kann Cormac McCarthy den Nobelpreis gerne haben.


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