Umberto Eco ist im Februar 2016 verstorben. Wenn fünf Jahre später in seinem Namen ein Buch mit dem Titel „Verschwörungen“ auf dem deutschen Buchmarkt erscheint, fragt man sich erst einmal, wo das plötzlich herkommt. Hatte Eco ein Buch über dieses Thema geschrieben, das jetzt posthum erscheint? Der Klappentext des dünnen Buches verrät uns das noch nicht, sondern erwähnt aktuelle Verschwörungstheorien von Impfgegnern und spielt auf die QAnon-Verschwörung an. Davon war zu Ecos Lebzeiten noch keine Rede, aber angeblich habe Eco schon lange die Struktur solcher Theorien analysiert. Wenn man das Buch dann aufschlägt, wird ganz am Ende in einer editorischen Notiz aufgeschlüsselt, dass es sich hier eben nicht um ein zusammenhängendes Werk handelt, sondern um die Zusammenstellung von drei verschiedenen Texten des Autors, die alle schon einmal in anderer Form veröffentlich wurden.
Der erste dieser Texte ist ein Vortrag Ecos aus dem Jahr 2015. Hier spricht er zunächst über Verschwörungstheorien im Allgemeinen und erkennt in ihnen einen Versuch, wichtigen Ereignissen einen Sinn anzudichten, indem man sie sich durch das Wirken höherer Mächte erklärt. Eco zitiert hier Karl Popper der den quasi-religiösen Charakter solcher Theorien hervorhebt und sie mit der Ilias vergleicht. Dort hatte Homer die Vorgänge des trojanischen Krieges auf das verborgene Machtspiel zwischen den Göttern zurückführt. In einer Zeit, man nicht mehr an launische Götter glaubt, müssen andere höhere Mächte als verborgene Ursache für Kriege, Revolutionen und sonstige Katastrophen herhalten. Der Verschwörungstheoretiker ist wie der Leser der Ilias derjenige, der die Ebene hinter den bloßen Nachrichten zu erkennen glaubt, auf der die Kräfte der alles steuernden Mächtigen zum Vorschein kommen.
Lincoln und Kennedy
Als eine typische Gemeinsamkeit von Verschwörungstheorien nennt Eco das Herauspicken und mit einander in Verbindung setzen von rein zufälligen Details. Ein besonders spektakuläres Beispiel sind die vermeintlichen Zusammenhänge zwischen den Attentaten auf Abraham Lincoln und John F. Kennedy: Lincolns und Kennedys Wahl in den Kongress liegen genau 100 Jahre auseinander und dasselbe gilt für Ihre Wahl zum Präsidenten. Auch die Geburt ihrer beiden Mörder liegt 100 Jahre auseinander. Zufall? Beiden Präsidenten wurde an einem Freitag von einem Südstaatler in den Kopf geschossen. Immer noch Zufall? Sowohl Lincolns als auch Kennedys Amtsnachfolger hießen mit Nachnamen Johnson. Lincolns Sekretär hieß Kennedy und Kennedys Sekretärin hier Lincoln. Lincoln wurde im Ford’s Theater erschossen und der Mörder versteckte sich in einem Lagerhaus. Kennedy saß in einem Ford Lincoln, als er erschossen wurde. Der Mörder schoss aus einem Lagerhaus und versteckte sich in einem Theater. Alles Zufall?
Während aus dieser Vermengung kurioser Parallelen bisher noch keine echte Verschwörungstheorie hervorgegangen ist, beschreibt Eco noch ein weiteres Beispiel, aus der eine sehr umfangreiche und berühmte Theorie entstanden ist: Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts kam der Pfarrer der französischen Gemeinde Rennes-le-Château auf die Idee, im großen Stil für die Messen Geld zu verlangen, die er für verstorbene Angehörige zu lesen behauptete. Er verkaufte mehr Messen, als er überhaupt lesen konnte und wurde deshalb strafversetzt. Vorher nutzte er aber das eingenommene Geld, um sich in der Gemeinde eine Villa und einen Turm bauen zu lassen. Weil die Gemeindemitglieder nach dem Tod des Pfarrers nicht mehr wussten und es sich nicht erklären konnten, wie er zu so viel Geld gekommen war, verbreitete sich das Gerücht, er habe einen uralten, geheimen Schatz gefunden.
Ein halbes Jahrhundert später, im Jahr 1953, behauptete ein gewisser Pierre Plantard dass es sich bei dem Schatz des verstorbenen Pfarrers unter anderem um uralte Geheimdokumente der Merowinger gehandelt habe. Zusammen mit Spekulationen anderer dubioser Individuen und vermischt mit dem durch den Nazi-Schriftsteller Otto Rahn verbreiteten Gerücht, die sagenhafte Reliquie des Heiligen Grals sei über die Jahrhunderte quer durch Europa transportiert worden und befinde sich nun in Südfrankreich, bildete sich um diesen angeblichen Schatz herum eine ausgereifte Verschwörungstheorie.
Von den Templern zu Dan Brown
Der zufolge war Christus nicht am Kreuz gestorben, sondern hatte mit Maria Magdalena eine Familie gegründet, aus der als direkte Nachfahren das Geschlecht der Merowinger und das sogenannte Priorat von Zion hervorging, eine mächtige Geheimgesellschaft, der neben den fränkischen Königen angeblich auch Leonardo da Vinci, Isaac Newton und Victor Hugo angehört hatten. Der Heilige Gral ist laut dieser Theorie kein gegenständliches Gefäß, sondern er ist eine Metapher für die angeblich entdeckten Geheimdokumente, die belegen, wer die wahren Nachkommen Christi sind, also ein Gefäß seines Blutes im symbolischen Sinne. Es wurden Karten und Dokumente gefälscht und ein angebliches Grab Christi irgendwo in Südfrankreich ausfindig gemacht, um die ganze Theorie zu untermauern. Im Jahr 1982 fasste der Journalist Henry Lincoln zusammen mit zwei Co-Autoren diesen ganzen Unsinn in seinem Buch „Der Heilige Gral und seine Erben“ zusammen. Später verarbeitete Dan Brown die ganze Geschichte in seinem im Jahr 2003 veröffentlichten Roman „Da Vinci Code“, der sich laut Angaben des Autors auf historische Fakten stützte.
Witzigerweise kam es dann zum Rechtsstreit zwischen Dan Brown und Henry Lincoln samt Co-Autoren, in dem sich beide Parteien selbst widersprechen mussten. Lincoln warf Brown ein Plagiat vor, was aber nur dann funktioniert, wenn es sich bei seinem eigenen Buch nicht um historischen Tatsachen gehandelt hat. Er gab damit also zu, dass seine Theorie eine Erfindung war. Brown andererseits behauptete, Lincolns Buch gar nicht gekannt zu haben, was seiner ursprünglichen Behauptung widerspricht, er habe alle historischen Hintergründe seines Werkes sorgfältig recherchiert.
Um genau solche Vermischungen zwischen fiktionaler Literatur und historischen Tatsachen geht es auch in Ecos zweitem Text. Zunächst stellt Eco hier ganz allgemein fest, wie schwer die Unterscheidung zwischen erzählter Realität und Fiktion ist. Autoren, die in Zeitungen und Büchern über Tatsachen schreiben, bedienen sich derselben erzählerischen Techniken, die typischerweise Romanautoren benutzen, und umgekehrt lassen Belletristen ihre Texte oft so klingen, als handelten sie von realen Begebenheiten. Diese Vermischung zwischen Realität und Fiktion entdeckt Eco aber auch auf einer tieferen sprachlichen Ebene. Die Bedeutung, die wir mit einem bestimmten Wort verbinden, haben wir uns als Kinder und auch später im Leben mit Hilfe von Geschichten zusammengereimt, in denen das Wort vorkam. Es hat dabei keine große Rolle gespielt, ob diese Geschichten wahr oder erfunden sind. Auch fiktionale Erzählungen prägen, was wir unter Begriffen verstehen. Zum Beispiel haben die meisten von uns ihre Vorstellung davon, was ein Wolf oder ein König ist, wahrscheinlich eher mit Hilfe von Märchenbüchern oder Kinderfilmen entwickelt, als mit Naturkunde- oder Geschichtsbüchern. Das Mischen von Wahrheit und Phantasieprodukt ist also normal und oft unvermeidbar.
Erfundene Protokolle
Eco kommt dann aber zu einem Beispiel in dem die komplexe, literarische Vermengung von Fiktion und Wahrheit für großen Schaden gesorgt hat: die sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“. Von der Entstehung dieser antisemitischen Hetzschrift sollte auch Ecos letzter Roman „Der Friedhof in Prag“ handeln, der im Jahr 2010 erschien, und dem in diesem Blog schon ein eigener Beitrag gewidmet ist. Ecos hier abgedruckter Essay wurde erstmalig schon im Jahr 1994 veröffentlicht und zeigt gewissermaßen seine theoretische Vorbereitung und den roten Faden für den späteren Roman.
Die Entstehungsgeschichte der hier untersuchten antisemitischen Verschwörungstheorie reicht zurück bis zur Auflösung des Ordens der Tempelritter durch Papst Clemens V. im Jahr 1312. Seitdem kursierten Gerüchte, der mächtige Orden sei damals in den Untergrund gegangen und bestehe als Geheimgesellschaft fort. Zu dieser auf einem realen, mittelalterlichen Orden basierenden Legende mischte sich ab dem 17. Jahrhundert der Mythos von der zunächst rein fiktiven Vereinigung der Rosenkreuzer. Christian Rosencreutz, eine frei erfundene, literarische Figur aus den Texten des Theologen Johann Valentin Andreae, wurde von manchen für den realen Gründer eines Ordens gehalten, der sich angeblich mit Magie und Alchemie beschäftigte. Nach dieser literarisch-legendenhaften Vorlage entstand im 18. Jahrhundert im Umfeld der Freimaurer ein tatsächlicher „Orden der Gold- und Rosenkreuzer“, der sich dann aber auflösen musste und seitdem ebenfalls als Mythos weiterbesteht. Unter anderem berufen sich die schottischen Freimaurer laut Eco sowohl auf das Vorbild der Templer als auch der Rosenkreuzer.
Nachdem mit diesen Mythen also die Idee von mächtigen europäischen Geheimbünden in die Welt gesetzt ist, die im Verborgenen das Weltgeschehen steuern, entstehen wilde Theorien, wie diese geheimen Eliten konkret vorgehen und und was ihre Pläne sind. Ende des achtzehnten Jahrhunderts erscheint zunächst das Buch eines Abbé Barruel, das die Geschichte der Templer und Rosenkreuzer aufgreift und dann behauptet, die Geheimgesellschaft der Illuminaten stünde hinter den Jakobinern und der französischen Revolution. Über ein kompliziertes Wechselspiel, in dem andere Autoren sich nun auf Barruels Buch beziehen, neue Spekulationen mit einflechten, von einander abschreiben und sich von Machthabern und Geheimdiensten einspannen lassen, entsteht hieraus eine detaillierte Verschwörungstheorie, laut der zunächst die Jesuiten und in einer späteren Version dann die Juden angeblich im Verborgenen die Weltpolitik kontrollieren.
Aus diesem Mischmasch von Theorien entstand die Hetzschrift „Die Protokolle der Weisen von Zion“, verfasst von einem unbekannten Autor und verbreitet durch den russischen Geheimdienst. Sie schürte einen Antisemitismus, den im zwanzigsten Jahrhundert dann die Nazis aufgriffen. In dieser Hetzschrift wird eine Szene beschrieben, in der sich die weltweit führenden Rabbiner bei Nacht und Nebel auf dem jüdischen Friedhof von Prag treffen, um dort ihre Weltherrschaft zu planen. Eco weist nach, dass diese in den sogenannten Protokollen als historische Wahrheit verkaufte Szene nur leicht verändert aus einem Roman namens „Biarritz“ abgeschrieben wurde, den der deutsche Postbeamte Hermann Goedsche kurz vorher unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe veröffentlicht hatte. Goedsche wiederum hatte sich bei der Erfindung seines Schauermärchens an einer Szene des Romans „Joseph Balsamo“ von Alexandre Dumas orientiert. Die jüdische Weltverschwörung ist also am Ende das gemeinschaftliche Werk von antisemitischen Pseudo-Historikern und Romanschriftstellern. Die große Lüge bedient sich hemmungslos bei belletristischen Vorlagen und wird dadurch erstaunlicherweise nicht weniger ernst genommen.
Überliefertes Halbwissen
Im dritten Text des Buches widmet sich Eco dem etwas leichteren Thema der imaginären Astronomien und Geographien, in denen sich nicht böswillige Lügen sondern vielmehr Irrtum und Unwissen mit der Wahrheit vermischen. An einigen Beispielen zeigt Eco, wie man sich die Erde und den Kosmos früher vorstellte, also etwa als flache Scheibe mit einer vom Okeanos eingeschlossenen Landmasse unter einem wie ein Tabernakel geformten Himmel, oder auch als Kugel, auf der man aber laut Athanasius Kircher keinen allzu hohen Turm zu Babel bauen kann, weil sie sonst wegen des Gewichts des Turmes um ihre eigene Achse umkippen würde.
Abgesehen von solchen amüsanten Vorstellungen verteidigt Eco aber über weite Teile des Textes das Wissen der vergangenen Jahrhunderte. Schließlich war neben dem Bild der flachen Erde auch die Vorstellung eines runden Globus schon in der Antike im Gespräch. Auch die historischen Landkarten, auf denen unförmige Landmassen zu sehen sind, die nicht viel mit der tatsächlichen Form von Inseln und Kontinenten zu tun haben, zeigen laut Eco nicht das damalige geographische Unwissen sondern beschränken sich oft nur auf das Wesentliche. Für damalige Reisende war es schließlich meistens egal, wie die Italienische Küste genau verläuft, so lange die Karte nur zeigt, durch welche Städte man reisen muss, um ans Ziel zu kommen. Eco vergleicht diese Karten mit heutigen U-Bahn-Plänen, die sich auch nur auf die Information der Reisestationen beschränken.
Wenn Eco hier von imaginären Astronomien und Geographien spricht, dann in einem doppelten Sinne. Teilweise geht es tatsächlich um den fiktiven Charakter früherer Weltbilder, als man das Unüberprüfbare noch mit seiner Phantasie ergänzen musste, aber es geht auch darum, wie wir uns heute oft eine eher fiktive als wahre Vorstellung davon machen, was man früher gewusst und geglaubt hat. Zu den tatsächlichen Irrtümern der damaligen Zeit summieren sich unsere Missverständnisse bei der Interpretation der damaligen Schriften und Karten. Die überlieferten Weltbilder werden so zum gemeinschaftlichen Produkt damaliger und heutiger Fiktion.
Am Ende muss man es dem Hanser Verlag also doch nicht sehr übel nehmen, dass er einfach drei alte Texte zusammengewürfelt hat, denn wenn Eco eine umfangreichere Abhandlung über Verschwörungen und sonstige Mythen hätte schreiben wollen, dann wären die hier ausgewählten Texte vielleicht tatsächlich als Vorlage dafür geeignet gewesen. Einer von Ihnen war ja immerhin inhaltlich der Vorläufer des Romans „Der Friedhof in Prag“, den Eco über eine bestimmte Verschwörungstheorie geschrieben hat. Laut Eco kann man die meisten dieser Theorien übrigens dadurch widerlegen, dass man sich bewusst macht, wie viele Verschwörer das angebliche Geheimnis für sich behalten müssten. Die Geschichte zeigt, dass wichtige Geheimnisse immer wieder verraten wurden, sei es aus Dummheit oder gegen Geld, und allein das macht eine im verborgenen die Welt beherrschende Geheimgesellschaft sehr unwahrscheinlich.
Bis auf diesen zeitlosen Hinweis hat das Buch mit der Vermarktungsstrategie des Verlages, seinen Impfgegnern und QAnon-Verschwörern, sehr wenig bis gar nichts zu tun, aber das ist auch besser so, denn Umberto Ecos Thema ist viel interessanter, als diese angeblichen aktuellen Bezüge. Es geht ihm um die Vermischung von Realität und Fiktion in der Legendenbildung und in der Literatur. Eco hatte das Talent, einem sein enormes Wissen nicht als schweres Gepäck, sondern in pointenreichen, anekdotischen Häppchen mit auf den Weg zu geben. Deshalb ist dieses trotz seiner Kürze sehr inhaltsreiche und unterhaltsame Buch auch ganz unabhängig von angeblicher Aktualität eine Empfehlung.
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