Paul McCartney hat einmal in einem Interview erzählt, die Melodie zum Song „Yesterday“ sei eines morgens beim Aufwachen einfach so in seinem Kopf gewesen. Er dachte zuerst, es sei eine Melodie, die er irgendwo einmal gehört habe. Er spielte sie John Lennon und ein paar anderen Freunden vor und nachdem niemand die Melodie erkannte, kam er zu dem Schluss, dass er sie wohl selbst an diesem Morgen komponiert haben musste.
Die Geschichte ist ein typisches Beispiel dafür, wie rätselhaft Kreativität sein kann. Es ist eine Komponente unseres Denkens, die wir offenbar nicht selbst unter Kontrolle haben. Eine originelle lässt sich nicht erzwingen, auch wenn man noch so lange grübelt. Und wenn sie dann plötzlich da ist, fühlt es sich oft so an, als ob sie einem von irgendwoher geschenkt wurde und man selbst gar nichts damit zu tun hatte. Die Idee scheint von außen zu kommen, was wir schon damit ausdrücken, wenn wir von einem Einfall, einer Eingebung und von Inspiration sprechen. Aber woher dringt der spirit in uns? Von wo fällt etwas in uns ein oder wird in uns eingegeben? Nachdem man in der Antike noch geglaubt hat, dass die Ideen von den Musen und Göttern kommen, gehen wir heute vielleicht eher davon aus, dass sie nicht tatsächlich von außen kommt, sondern aus unbewussten Teilen unserer eigenen Psyche, die sich nur wie ein Außen anfühlen.
Diesen Standpunkt vertritt auch David Lynch. Der berühmte amerikanische Regisseur hat im Jahr 2006 mit „Catching the big fish“ ein Buch über Inspiration geschrieben, was schon deshalb interessant ist, weil er sicher einer der weltweit erfolgreichsten und originellsten beruflich Kreativen ist. Eine seiner Einsichten steckt bereits im Titel des Buches. Der kreative Tagtraum ist für ihn wie das Abtauchen in ein Gewässer und wenn man Glück hat, kommt man mit einem gefangenen Fisch wieder nach oben. Je tiefer man hinabtaucht, desto besser ist die Chance auf einen der ganz großen Fische, eine wichtige Idee, die je nachdem wer sie da unten findet einen wissenschaftlichen Durchbruch, eine Geschäftsidee oder in seinem Fall natürlich einen neuen Film bedeuten kann.
Filme und Fische
„Catching the big fish“ ist ein Buch über dieses Fischen nach Ideen, sowohl im Allgemeinen als auch in seinem ganz persönlichen künstlerischen Schaffen. Kenner seiner Filme erfahren in diesem Buch, bei welcher Gelegenheit ihm bestimmte Szenen und Wendungen zum Beispiel in Eraserhead, Blue Velvet, Lost Highway oder Twin Peaks eingefallen sind und nach welchen Prinzipien er als Regisseur arbeitet. Insbesondere ist dieses Buch aber ein Plädoyer für Transzendente Meditation, die Lynch seit Jahrzehnten intensiv praktiziert. Diese Meditationstechnik wurde seit den sechziger Jahren durch den indischen Guru Maharishi Mahesh Yogi im Westen populär und unterscheidet sich von anderen Praktiken unter anderem dadurch, dass über einem Mantra meditiert wird. Das Buch ist dem inzwischen verstorbenen Maharishi gewidmet und David Lynch, der eine eigene Stiftung für die Verbreitung der Transzendenten Meditation gegründet hat, ist vollständig von dieser Philosophie überzeugt.
Aus seiner Sicht bedeutet die Erweiterung des Bewusstseins, die durch die Meditation dauerhaft erreicht wird, die Vergrößerung des Beckens, in dem man nach den Ideen fischt. Nur wer sich ein tiefes Bewusstsein erschlossen hat, kann überhaupt weit genug abtauchen, um die großen Fische zu finden. Für ihn ist Meditation daher ein wichtiger Teil seiner Arbeit als Künstler und mit konkreten Beispielen aus seinen Filmen zeigt er, dass er einige seiner originellsten Einfälle dieser Praxis verdankt. Über die kreative Arbeit hinaus ist Transzendente Meditation für David Lynch kurz gesagt der Schlüssel zu einem glücklichen Leben. Eine bessere Gesundheit und Konzentrationsfähigkeit, weniger Aggression und Angst, glücklichere Beziehungen zu anderen Menschen können laut Lynch durch regelmäßiges Praktizieren erreicht werden. Wenn man nur genügend viele Menschen mit Transzendenter Meditation anstecken könnte, was offenbar das Ziel seiner Stiftung ist, hält Lynch es für möglich, die Kriminalität in Großstädten zu senken und sogar nichts geringeres als den Weltfrieden zu erreichen.
Wer David Lynch bis hierhin noch folgen kann, wird allerdings noch mit einer weiteren These konfrontiert, die deutlich über praktische Selbsthilfe und Gesellschaftsverbesserung hinausgeht. Hinter der Transzendenten Meditation steht, zumindest ich Lynchs Auslegung, ein Weltbild, das offenbar in den altindischen Upanishaden begründet ist und im Wesentlichen besagt, dass das Universum und das Bewusstsein auf einer fundamentalen Ebene eine Einheit bilden. Die Meditation bietet ultimativ die Möglichkeit auf diese tiefste Ebene hinabzusteigen. Dort unten, im Zustand größtmöglicher Erleuchtung, würde man Eins mit dem universellen, reinen Bewusstsein, das das Universum erfüllt. Lynch behauptet, dass sich dort unten in diesem Zustand genau das befindet, was die Physiker als das „unified field“ bezeichnen. Gemeint ist damit offenbar ein Feld im Sinne der Quantenfeldtheorie, das der Ursprung aller Bestandteile und Kräfte des Universums sein soll. In diesem Sinne wären das reine Bewusstsein und die materielle Welt mit einander vereint.
Vermutete Quantenfelder
So weit so gut, könnte man sagen, wenn David Lynch an irgend einer Stelle erwähnen würde, dass das alles eine höchst spekulative und eher diffuse Vermutung ist. Das hält er aber nicht für nötig. Lynch behauptet einfach, dass es sich bei dem reinen Bewusstsein und dem fundamentalen Quantenfeld um dasselbe handelt, und damit basta. Und schlimmer noch: Er behauptet außerdem mehrfach, die Teilchenphysiker hätten dieses besagte „unified field“ längst entdeckt. Bis heute ist das aber nicht der Fall. Die Physiker träumen von einem solchen Feld schon seit es in den siebziger Jahren Abdus Salam und Steven Weinberg gelungen war, die elektromagnetische und die schwache Wechselwirkung im Sinne eines vereinigenden Feldes unter einen Hut zu bekommen, aber es ist bisher niemandem gelungen, die starken Kräfte innerhalb der Atomkerne und Nukleonen in derselben Weise einzubeziehen, ganz zu schweigen von der Gravitation, deren konsistente Beschreibung durch eine Quantenfeldtheorie grundsätzlich noch ein ungelöstes Problem ist. Die Behauptung, das „unified field“ sei bereits entdeckt und alles sei klar, ist nicht nur falsch sondern zeigt, wie wenig Lynch sich mit dem Thema beschäftigt haben muss. Was nicht in die schöne Symbiose zwischen Mythologie und moderner Forschung passt, wird hier einfach ignoriert.
Das ist besonders deshalb schade, weil diese Verbindung vielleicht nicht so esoterisch ist, wie sie im ersten Moment klingen mag und es mehr dazu zu sagen gäbe. Philosophen wie Thomas Nagel haben sehr ernsthaft über solche Verbindungen nachgedacht. Wenn sich das menschliche Bewusstsein nicht zufriedenstellend aus gängigen Theorien erklären lässt, sind vielleicht alternative Ansätze notwendig und manche Philosophen wollen Theorien nicht ausschließen, in denen nicht nur physikalische Eigenschaften der Materie sondern auch geistige Phänomene auf einer fundamentalen Ebene, zum Beispiel auf dem Niveau von Teilchen und Quantenfeldern, verstanden werden können. Für Philosophen wie Nagel ist klar, dass solche Theorien höchst spekulative Zukunftsmusik sind. Lynch hingegen behauptet einfach, es sei alles dasselbe.
Keine Autobiographie
Zur Verteidigung des Regisseurs muss man sagen, dass er mit diesem Buch bestimmt keine naturwissenschaftliche oder philosophische Arbeit vorlegen wollte. Aber was wollte er eigentlich? Eine brauchbare Einführung in die Transzendente Meditation ist „Catching the big fish“ ebenfalls nicht. Wir erfahren praktisch nichts darüber, wie man meditiert. Und auch für eine Künstler-Autobiographie bietet das Buch zu wenig. Die spärlichen Erzählfetzen aus Lynchs künstlerischem Schaffen sind so kurz gehalten, dass sie alle beinahe nichts über den Künstler aussagen. Ein Beispiel hierfür ist die Anekdote, als Lynch einmal darüber nachdachte, sich wegen eines psychischen Problems in eine psychoanalytische Behandlung zu begeben. Er ging zu einem Psychoanalytiker und fragte ihn in der ersten Sitzung, ob die Behandlung seine Kreativität beeinträchtigen könne und als dieser antwortete, das sei nicht ausgeschlossen, verließ Lynch die Praxis und kam nie wieder. Jeder, der ein oder zwei Fernsehinterviews mit Lynch gesehen hat, kennt diese Geschichte schon, aber außer dass der Regisseur seine Kreativität für wichtig hält – Überraschung! – verrät uns diese Episode eigentlich nichts.
Das grundlegende Problem des Buches liegt in seiner Struktur. Alle Kapitel, wenn man sie überhaupt so nennen will, sind höchstens drei Seiten lang. Manche enthalten weniger als fünf Sätze. Lynch nimmt sich nicht die Zeit, irgendeinen seiner Gedanken wirklich auszuführen. Alles wird nur kurz dahingesagt und schon geht es zum nächsten Thema. Das Buch ist deshalb kein durchgehender Text, sondern eher eine Sammlung von Kalenderblättern. Nur hatte Lynch wohl keine Lust 365 davon zu schreiben. Gegen Ende des kurzen Buches entsteht bereits der Eindruck, er wisse nicht mehr, worüber er noch schreiben soll. Eines der hinteren Kapitel ist zum Beispiel dem Thema Holz und seiner Vorliebe für Pinien und Douglas-Tannen gewidmet.
Insgesamt ist es David Lynch gelungen, über das tiefe Denken, ein flaches, vollkommen oberflächliches Buch zu schreiben. In der im Jahr 2016 erschienenen Jubiläumsauflage befinden sich im Anhang als Bonus noch kurze Interviews mit Ringo Starr und Paul McCartney, die in den sechziger Jahren dem Mararishi begegnet waren und dann eine Zeit lang in seinem Ashram meditiert hatten. Wie das gesamte Buch sind auch diese Interviews viel zu kurz, auf das Naheliegendste beschränkt und völlig oberflächlich. Jede Schülerzeitung hätte den beiden Beatles zum Thema Meditation und Kreativität mehr entlocken können – wenigstens so etwas wie die eingangs erwähnte Geschichte über „Yesterday“.
Auch der Autor selbst hätte wahrscheinlich mehr zu sagen gehabt, aber der Mann, der seine künstlerische Laufbahn als Maler begonnen hat und dann zu einem der bedeutendsten Regisseure der Gegenwart wurde, ist vielleicht nicht auch noch im Bücherschreiben zu Hause. Immerhin lernen wir in diesem Buch, dass Musik, optische Effekte und Kulissen in Lynchs Filmen eine wichtige Rolle spielen, und das könnte eine Erklärung für dieses gescheiterte Buch sein: Lynch ist es wahrscheinlich gewohnt, das Wichtige gerade nicht durch Worte auszudrücken, sondern eben durch die anderen Mittel, die er als Regisseur zur Verfügung hat. „Catching the big fish“ wäre der gescheiterte Versuch, in Worte zu fassen, was er in seinem bevorzugten Medium ohne Worte besser ausgedrückt hätte. Bei allem, was das Buch schuldig bleibt, fehlt es wenigstens nicht an einer klaren Botschaft, nämlich sich schleunigst in eine bequeme Sitzhaltung zu begeben und mit dem Meditieren anzufangen. David Lynchs Begeisterung für die Meditation ist trotz aller Oberflächlichkeit des Buches so penetrant, dass sie schon wieder ansteckend sein kann.
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Die Methode mit dem großen Fisch hat Lynch wohl bewusst oder unbewusst von Melville und „seinem“ Moby Dick übernommen. Aber will man denn weiter wissen was dieser Fisch ist? Bleibt das nicht den Wissenschaftlern überlassen? Den Interpretatoren, Hermeneutikern, Kunstliebhabern, etc.? Ein Symbol oder eine Metapher ist dieser Fisch auf jeden Fall. Nur für was? Sicher ist nur, dass viel Wasser darum herum ist…mit allen Höhen, Höhlen, Gleichnissen und Abgründen…
…und oft bleibt von solch einem Fisch sogar etwas am Land übrig. In Dolce Vita von Fellini zufällig (?) am Schluß gestrandet, im alten Mann und das Meer von Hemingway sogar nur als Gerippe…und es bleibt ein Traum mit spielenden Löwen…mit offenem Ausgang für die Beteiligten…
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