Im Lauf der letzten Jahre haben manche Entwicklungen stattgefunden, die einem Angst vor der Zukunft machen können. Die Globalisierung hat die Monopolisierung und das Auseinanderdriften von Arm und Reich beschleunigt und es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis die nächste Finanzkrise vor der Tür steht. In vielen Regionen der Erde ist in den letzten Jahren außerdem ein Rechtspopulismus an die Macht gekommen, der die politische Landschaft polarisiert und Demokratien systematisch schwächt. Und schließlich ist weltweit in den Medien und sozialen Netzwerken ein Kulturkampf zwischen zwei verfeindeten Parteien ausgebrochen, nämlich einerseits progressiven Liberalen, die sich für kulturelle Vielfalt und individuelle Selbstverwirklichung einsetzen, und andererseits verschiedensten konservativen Gruppen, die im Treiben der Progressiven nur einen Werteverfall zu erkennen glauben. Wo soll es noch enden, wenn sich diese Entwicklungen weiter zuspitzen?
Mit seinem Buch „Das Ende der Illusionen“ aus dem Jahr 2019 legt uns der Berliner Professor Andreas Reckwitz seine beruhigende Soziologenhand auf die Schulter, um uns zu sagen, dass das alles nicht so schlimm ist, wie es im Moment aussieht. Die genannten negativen Entwicklungen sind zwar real, aber manches wirkt nur deshalb beunruhigend und verwirrend, weil wir sie durch den Filter von Denkmustern wahrnehmen, die in früheren Jahrzehnten zwar gut funktioniert haben, aber inzwischen überholt sind. Wir leben nämlich heute in einer Ära, die Reckwitz als die Spätmoderne bezeichnet, und die sich deutlich von der industriellen Moderne der ersten Nachkriegsjahrzehnte unterscheidet. Reckwitz leistet mit diesem Buch eine umfassende Charakterisierung dieser Spätmoderne, indem er die kulturellen, ökonomischen und politischen Entwicklungen der Gegenwart in drei Essays analysiert und in jedem der drei Bereiche neue Kategorien einführt, um die aktuellen Geschehnisse einzuordnen. Diese neuen Erklärungsmuster zeigen, dass einige der krisenhaften Entwicklungen vielleicht nur Übergangserscheinungen zwischen zwei Epochen sind und mancher Spuk wohl bald wieder vorbei sein wird.
Um die Spätmoderne besser zu verstehen, grenzt Reckwitz sie also von ihrer Vorgängerperiode ab, der industriellen Moderne der 50er bis 70er Jahre. In dieser Zeit gab es zunächst noch massenhaft Arbeitsplätze im industriellen Sektor und dementsprechend eine selbstbewusste Arbeiterklasse, die nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell und politisch eine Rolle spielte. Daneben existierte eine Mittelklasse aus Handwerkern, Büroangestellten, Akademikern und darüber eine dünne Oberschicht. Da sowohl die Arbeiter als auch die Mittelklasse durch den berühmten Fahrstuhleffekt vom damaligen Wirtschaftswachstum profitierten und privat mit immer weiter wachsendem Wohlstand rechnen konnten, waren beide Gruppen in dieser sogenannten nivellierten Mittelstandsgesellschaft zur gesellschaftlichen Mitte zu rechnen, die also den überwältigend größten Bevölkerungsanteil ausmachte.
Mein Haus, mein Auto, mein Boot
In kultureller Hinsicht beschreibt Reckwitz diese gesellschaftliche Mitte als mehr oder weniger homogen. Ordnungsliebe, Pflichtbewusstsein und Fleiß gehörten zu ihren wichtigsten Tugenden. Der Erwerb von Wohlstand und einem gewissen Status waren das allgemein anerkannte Ziel der Arbeit. Dieses Ziel bot eine Orientierung und provozierte außerdem den ständigen Vergleich mit den Nachbarn und Kollegen. Der berühmte Sparkassen-Werbespott „Mein Haus, mein Auto, mein Boot“ aus dem Jahr 1995 zieht diesen Wohlstands-Wettbewerb, oder das „keeping up with the Joneses“ wie es im englischsprachigen Raum hieß, bereits ins Lächerliche. Während man seinen Nachbarn nicht hinterherhinken und ein mindestens genau so teures Auto vor dem Reihenhaus stehen haben wollte, macht Reckwitz in der Kultur dieser Zeit gleichzeitig auch das dringende Bedürfnis aus, im Rahmen dieses Wettbewerbs nicht weiter aufzufallen. Man will weder die Schrottkiste noch den Lamborghini in der Einfahrt stehen haben, sondern einfach nur den Eindruck einer ordentlichen, ganz normalen Familie erwecken und so die Zugehörigkeit zu dieser bürgerlichen Mitte der Gesellschaft signalisieren.
Was schließlich die Politik betrifft, wurden die wichtigen Debatten der Bonner Republik als ein Streit zwischen Rechts und Links aufgefasst. In einer relativ klar verteilten politischen Landschaft bündelte sich die Mehrheit der Wählerstimmen stark bei den beiden Volksparteien nahe der Mitte des Spektrums und durch die wichtige Rolle der Parteien, Gewerkschaften und Verbände war politische Teilhabe und Meinungsäußerung stark institutionalisiert. Wer mit seiner Meinung gehört werden wollte, musste sich organisieren.
Die Spätmoderne seit den 70er Jahren sieht laut Reckwitz in allen drei Bereichen ganz anders aus. Im kulturellen Bereich gibt es statt einem homogenen Einheitsbrei, in dem niemand auffallen will, nun einen starken Gegensatz zwischen zwei Lagern. Das eine bezeichnet Reckwitz als Hyperkultur. Damit ist eine in jeder Hinsicht weltoffene Lebensweise gemeint, die sich bei allen verfügbaren Einflüssen frei bedient. Reckwitz zeichnet hier das typische Bild von Akademikern, die im Lauf ihres Lebens den Wohnort und Beruf mehrfach wechseln, sich spirituell vom fernöstlichen Buddhismus und von Meditations- und Yoga-Praktiken beeinflussen lassen, sich mit schwedischen Möbeln einrichten, in afrikanischen Restaurants essen gehen, lateinamerikanisch tanzen, französische und italienische Mode tragen, nordamerikanische Serien streamen und so weiter. Man versucht hier nicht, sich in einen bestimmten Kulturkreis zu integrieren, sondern stückelt sich eine eigene, ganz persönliche Kultur aus allen erdenklichen Quellen irgendwie zusammen. Nicht eine Gruppenzugehörigkeit sondern das Individuum und seine Verwirklichung stehen in der Hyperkultur im Vordergrund. Gut ist, was der Selbstverwirklichung nützt. Das gilt insbesondere auch für den Umgang mit der eigenen Geschlechtlichkeit und Sexualität, die man nicht mehr einem Gruppenzwang unterzuordnen bereit ist. Diese Lebensweise wird insgesamt manchmal als westliche Kultur bezeichnet, was widersprüchlich und überholt ist, denn natürlich ist die Hyperkultur in vielen Regionen Asiens oder Australiens längst stärker verbreitet, als in so manchen Bundesstaaten der USA.
Die unwahrscheinliche Allianz der Traditionalisten
Das Gegenteil der Hyperkultur, also eine Lebensweise, in der eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe im Vordergrund steht, bezeichnet Reckwitz als Kulturessentialismus. Paradoxerweise ist diese Opposition zur Hyperkultur aus Gruppierungen zusammengesetzt, die untereinander überhaupt nichts mit einander zu tun haben wollen, und sich trotzdem in ihrer Überbetonung von Gruppenzugehörigkeit, Tradition, Moral und regionaler Verwurzelung ähneln. Ein Trump-Wähler im Mittleren Westen der USA und ein islamischer Traditionalist im Iran können sich darin miteinander verbunden fühlen, dass sie beide in ihrem Kulturessentialismus das eigene kulturelle Milieu für das einzig wahre halten, sich weitgehend über die Zugehörigkeit zu ihrer jeweiligen Kultur definieren und daraus ihr Selbstbewusstsein beziehen. Folgerichtig teilen sie oft auch eine gewisse Verachtung für die Anhänger der Hyperkultur. Aus der Sicht des Trump-Anhängers sind das die betrügerischen linken Eliten und aus der Sicht des Islamisten ist es schlicht und einfach der Westen, aber wie man es auch nennt, beide haben als dasselbe Feindbild die Hyperkultur, die aus ihrer Sicht nichts als Werteverfall und kulturelle Beliebigkeit also eine Auflösungserscheinung von Kultur darstellt.
Insgesamt handelt es sich bei diesem international überall anzutreffenden Konflikt also nicht um einen Kampf zwischen Kulturen im ursprünglichen Sinne, so wie etwa des Christentums und des Islams oder der Kultur des Ostens gegen die des Westens. Der Unterschied zwischen den beiden Konfliktparteien liegt vielmehr in ihrem Umgang mit Kultur. Der Gegensatz zwischen den sich aus allen Kulturen frei bedienenden Selbstentwicklern und den in ihrer Region und monokulturellen Gruppierung tief verwurzelten Essentialisten könnte größer kaum sein und führt zu heftigen Auseinandersetzungen, die nicht zuletzt online ausgetragen werden. Aber dennoch macht Reckwitz zwischen beiden Denkweisen auch eine Gemeinsamkeit aus, nämlich, dass das kulturelle für beide Seiten einen enormen Stellenwert besitzt. Kultur ist beiden Seiten alles andere als egal und gerade das sorgt für das hohe Konfliktpotential.
Im zweiten Essay des Buches wird deutlich, dass die Polarisierung zwischen Hyperkultur und Kulturessentialismus auch mit der ökonomischen Ebene zusammenhängt. Auf dem Weg von der Moderne zur Spätmoderne sind Arbeitsplätze im produzierenden Sektor der Industrie massenhaft weggefallen. An ihre Stelle treten neue Jobs im Entwicklungs-, Forschungs- und generell im Wissenssektor, die von den immer zahlreicher werdenden Akademikern besetzt werden. Hier bildet sich eine Gruppe mit anspruchsvollen und im Idealfall sogar erfüllenden Berufen und guten Einkommen heraus, die Reckwitz als die neue Mittelklasse bezeichnet. Neben ihr existiert weiterhin mit den traditionellen Handwerker- oder Büro-Tätigkeiten die alte Mittelklasse und unterhalb der Mitte bildet sich anstelle der verschwindenden Arbeiterklasse eine neue Unterklasse heraus, die in schlecht bezahlten Dienstleistungsberufen tätig ist. Die Zunahme von Arbeitsplätzen im Dienstleistungsbereich hängt direkt mit dem Lebenswandel der neuen Mittelklasse zusammen. Gut verdienende Akademiker überlassen vermeintlich einfache Tätigkeiten wie die Betreuung der Kinder, die Pflege von Angehörigen, das Reinigen der Wohnung, die Pflege des Gartens und so weiter zunehmend bezahlten Arbeitskräften.
Die neue Mittelklasse, die typischerweise in den Metropolregionen lebt, ist laut Reckwitz also die Trägerin der Hyperkultur, während die alte Mittelklasse überwiegend in ländlichen Regionen und Kleinstädten verwurzelt ist und sich zusammen mit der Unterschicht oft zu einer Form des Kulturessentialismus bekennt. Der Gegensatz zwischen Hyperkultur und Kulturessentialismus setzt sich also ökonomisch in die Polarisierung zwischen alter und neuer Mittelklasse und geographisch in ein Stadt-Land-Gefälle fort. So kommt es zu dem Phänomen, dass der in Berlin oder Stuttgart lebende Softwareentwickler, Versicherungsmathematiker oder Philosophie-Doktorand in London, Chicago, Madrid oder Kyoto bessere Chancen hat, auf Gleichgesinnte zu treffen, als im Ort fünf Kilometer außerhalb der eigenen Stadt.
Aufladung der Produkte
Neben dem Wandel des Arbeitsmarktes und der damit einhergehenden Bildung neuer Gesellschaftsklassen betont Andreas Reckwitz noch eine weitere Veränderung zwischen Moderne und Spätmoderne, durch die sich ebenfalls das Kulturelle mit dem Ökonomischen vermischt: Die Konsumgüter werden nun kulturell aufgeladen. Sie sind nicht mehr nur rein funktionale Gebrauchsobjekte oder Statussymbole, sondern sie werden zunehmend auch zum Ausdruck der Kultur des Individuums und zum Mittel seiner Selbstverwirklichung. Im optimalen Fall ermöglichen diese Konsumgüter dem Individuum sich vollkommen einzigartig zu fühlen und seine Einzigartigkeit anderen zu demonstrieren. Das typische Beispiel ist der besondere Nike-Schuh, der längst nicht mehr nur dazu da ist, um bequem darin zu laufen, denn das kann man auch billiger haben. Es geht um die Zurschaustellung eines besonderen Geschmacks, genau wie auch das Abendessen im besonders teuren Restaurant und der Urlaub am entlegenen, exotischen Ort, der erst dann seinen vollen Zweck erfüllt hat, wenn die Urlaubsfotos auf Instagram hochgeladen sind. Während der Urlaub in der industriellen Moderne dazu da war, sich von der Arbeit und für die Arbeit zu erholen, wird seine Qualität in der Spätmoderne an seinen einzigartigen Erlebnissen, seinem prägenden Effekt für das Individuum und nicht zuletzt an den Likes unter den Urlaubsfotos gemessen. Das Individuum, das ständig an seiner Einzigartigkeit arbeiten muss, benutzt zu diesem Zweck die besondere Reise und das besondere Kleidungsstück oder Küchengerät.
Dementsprechend ist auch die Werbung krampfhaft darum bemüht, auch die allerbanalsten Produkte mit kultureller Bedeutung aufzuladen. Man kann heute keine Scheibe Knäckebrot mehr kaufen, ohne gleich ein ganzes Lebensgefühl mitgeliefert zu bekommen. Um nur zwei Beispiele zu nennen, die mir in letzter Zeit in Youtube-Werbespots besonders aufgefallen sind: Ein Möbelhaus wirbt nicht etwa mit der Auswahl oder den günstigen Preisen seiner Möbel, sondern mit den wilden Parties, die man in diesen Einrichtungen feiern kann und ein Versandhaus wirbt für seine Teenager-Mode mit dem vollkommen sinnfreien Slogan „Zusammensein ist ein toller Ort“. Nicht auf die Kücheneinrichtung und auf das Sweatshirt an sich kommt es also an, sondern auf das, was Du darin erlebst und die besondere Person, die Du darin sein kannst. All das ist im Preis der Produkte enthalten.
Bret Easton Ellis hat diese Entwicklung schon in seinem berühmten Roman „American Psycho“, der in den 80er Jahren spielt, satirisch verarbeitet. Patrick Bateman, die Hauptfigur des Romans, gehört zu einer Gruppe junger, karrierebesessener Yuppies, die an der Wall Street in einer Investment-Firma arbeiten und eigentlich alle gleich aussehen und dasselbe tun, aber sich gegenseitig mit aller Gewalt in ihrem besonderen Geschmack überbieten wollen. Jeder von ihnen will unbedingt etwas Besonderes sein und aus der Gruppe hervorstechen, aber gerade deshalb kaufen alle dann doch wieder ihre Anzüge beim selben Designer und essen im selben Nobelrestaurant. In der Verfilmung des Romans gipfelt dieser Wettstreit in einer absurden Szene, in der sich die Investment-Banker gegenseitig ihre Visitenkarten zeigen, die alle vollkommen gleich aussehen. Bateman treibt dieser Vergleich an den Rand eines Nervenzusammenbruchs, weil die Visitenkarte seines ärgsten Konkurrenten, den er später ermorden wird, angeblich einen um einen Hauch geschmackvolleren Schrifttyp hat als seine eigene und einen besonderen Weißton mit subtilem Wasserzeichen.
The winner takes it all
Mit dieser Verknüpfung von Produkt und Kultur hängt auch ein Phänomen zusammen, das Reckwitz als Winner-Take-All-Märkte bezeichnet. Man kennt es bereits vom Kunstmarkt, dass die Werke einiger weniger Stars der Szene Millionen wert sind, während sich die Arbeiten der allermeisten Künstler eher schlecht verkaufen. Auch in Hollywood hofft eine enorme Anzahl von schlecht bezahlten Kreativen auf den Karrieresprung zum Star, während utopische Gagen an die ganz wenigen gezahlt werden, die sich einen Namen gemacht haben und für einen Kassenerfolg garantieren können. Nicht die Leistung dieser Personen ist diese Summen wert, sondern ihr Name. Diese Bündelung des Geldes bei einer kleinen Gruppe von Wettbewerbsgewinnern, die man aus dem Kulturbetrieb kennt, schwappt nun durch die kulturelle Aufladung von Produkten in andere Bereiche über. Um noch einmal bei „American Psycho“ als Beispiel zu bleiben: Beim Nobel-Italiener „Dorsia“, den Patrick Bateman und die anderen Investmentbanker aus irgendeinem Grund nicht nur für ein gutes sondern für das einzig wahre Restaurant halten, ist es wegen des großen Andrangs praktisch unmöglich, einen Tisch zu reservieren. Gerade deshalb versuchen alle es aber immer wieder. Wer einmal einen Namen etabliert hat, kann ungewöhnliche Preise verlangen und muss es in manchen Fällen sogar. Wenn Gucci seine Baseball-Kappe nicht für dreihundert sondern für dreißig Euro anbieten würde, wäre das geschäftsschädigend, und wenn Ryan Gosling für einen Film nur eine durchschnittliche Gage verlangen würde, wäre das möglicherweise das Ende seiner Karriere. Das Besondere hebt sich vom Gewöhnlichen dadurch ab, dass es schwer zu bekommen ist, und manchmal ist das der einzige Unterschied.
Im letzten Teil des Buches behandelt Andreas Reckwitz schließlich die Politik der Spätmoderne und beobachtet zunächst, dass sich die Konfliktlinie verschoben hat. Nachdem die wichtigen politischen Auseinandersetzungen in der Moderne zumindest dem Anschein nach immer ein Streit linker und rechter Kräfte waren, spielt sich die auffälligste Schlacht der Spätmoderne zwischen Populisten und dem sogenannten politischen Establishment ab. Es handelt sich zwar meistens um einen von rechts kommenden Populismus, aber es ist nicht mehr der klassische Konflikt Rechts gegen Links. Die AfD belächelt sowohl die SPD als auch die CDU als sogenannte Altparteien und auch der wesentliche Unterschied zwischen Trump und Clinton war nicht, dass der eine rechts und die andere links war.
Reckwitz erklärt diesen Wandel damit, dass die Geschichte von Rechts gegen Links auch schon in der Moderne eine zu starke Vereinfachung war und sich jenseits der Legislaturperioden und Regierungswechsel zwischen CDU und SPD auf einer größeren Zeitskala eine andere, übergeordnete Entwicklung abspielt, die er mit dem Begriff des Paradigmas in Abschnitte unterteilt. Die Moderne stand aus seiner Sicht im Zeichen eines Paradigmas der staatlichen Regulierung. Nachdem die starke Hand des Staates in den ersten Nachkriegsjahrzehnten weitgehend alternativlos regieren konnte, geriet das Regulierungsparadigma mit den 68er-Unruhen im sozialen und mit der Ölkrise im wirtschaftlichen Bereich ins Schwanken. Das Paradigma hatte zunächst die Probleme der frühen Bundesrepublik nach dem Krieg lösen können, aber es hatte mit der Zeit zu neuen Übeln geführt und musste deshalb durch ein neues Paradigma ersetzt werden.
Paradigmenwechsel
Als Gegenbewegung folgte mit der Spätmoderne also ein Paradigma der Dynamisierung, das Reckwitz als apertistischen Liberalismus bezeichnet. Im wirtschaftlichen Bereich ermöglichte dieses Paradigma die Privatisierung und Globalisierung von Unternehmen und einen dynamischeren Arbeitsmarkt, dessen Vorteil eine geringe Arbeitslosigkeit und dessen Schattenseite Outsourcing und Prekarisierung sind. Diese neoliberale Dynamisierung wurde von rechten und linken Politikern gleichermaßen vorangetrieben, von Thatcher und Reagan wie auch von Blair, Clinton und Schröder. Ähnliches gilt für den sozialen Bereich. Regierungen wechselten, aber das Paradigma blieb über Jahrzehnte bestehen. Reckwitz‘ Urteil zufolge ist genau wie vorher das Regulierungsparadigma nun auch das liberale Dynamisierungsparadigma an einem Punkt angelangt, an dem es einige der vorrangigen Probleme der Gegenwart nicht mehr löst, sondern selbst verursacht hat.
Genau wie sein Vorgänger hat das Dynamisierungsparadigma neben der wirtschaftlichen auch eine soziale Ebene und auch diese befindet sich in einer Krise. Die Befreiung des Individuums und die politische Unterstützung seiner Selbstverwirklichung hat die Gesellschaft in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren entscheidend ins Positive verändert, insbesondere was die gesellschaftliche Rolle der Frauen betrifft. Aber so wie die wirtschaftliche Entwicklung hin zum Neoliberalismus ist auch die soziale Individualisierungs- und Identitätenpolitik laut Reckwitz an einem Punkt angelangt, an dem weite Teile der Gesellschaft sich damit nicht mehr identifizieren. Die Kritik daran kommt in diesem Fall nun von Rechts in Gestalt des Populismus. Damit zeichnet Reckwitz ein symmetrisches Bild, und es ist vielleicht die überraschendste Einsicht des Buches: wirtschaftspolitischer Neoliberalismus und gesellschaftspolitischer Linksliberalismus sind in seiner Interpretation zwei Gesichter desselben Dynamisierungsparadigmas. Während der Wirtschaftsliberalismus inzwischen überwiegend von Linken Autoren und Aktivisten kritisiert wird, in bisher auffälligster Form während der Occupy-Proteste, gerät der Gesellschaftsliberalismus durch rechte Populisten unter Beschuss. Dieser Widerstand auf beiden Seiten ist ein Zeichen dafür, dass das Liberalisierungsparadigma insgesamt seiner Auflösung entgegengeht und ein Paradigmenwechsel bevorsteht. Reckwitz spekuliert und hofft, dass es sich beim Nachfolger weiterhin um ein Liberalisierungsparadigma handeln wird, das aber regulierende, oder wie er es nennt „einbettende“ Züge enthalten wird und gewissermaßen das Beste der beiden bisherigen Nachkriegsparadigmen mit einander verbindet.
„Das Ende der Illusionen“ ist also eine umfassende Beschreibung der gegenwärtigen Ära der Spätmoderne, in der es nun auch wiederum spät geworden ist und die Reckwitz zufolge kurz vor ihrem Ende steht. Im Programm des Suhrkamp Verlags stellt sich Reckwitz mit diesem Werk in eine lange Reihe von Autoren, die in den vergangenen Jahren versucht haben, die widersprüchlichen und beunruhigenden gesellschaftlichen Entwicklungen der Gegenwart zu erklären. In diesem Blog hatte ich zum Beispiel schon über „Retrotopia“ von Zygmunt Bauman, „Die schleichende Revolution“ von Wendy Brown und „Europadämmerung“ von Ivan Krastev geschrieben. Daneben beschrieb das Buch „Jenseits von Kohle und Stahl“ von Lutz Raphael den Strukturwandel seit der industriellen Moderne, Philip Manow erklärte „Die politische Ökonomie des Populismus“ und Andreas Reckwitz selbst hatte bereits 2017 der Individualisierung in der Spätmoderne das Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ gewidmet.
Zu dieser Reihe gehört auch eine Analyse, der Reckwitz offenbar nicht zustimmen kann, nämlich das im Jahr 2016 erschienene Buch „Die Abstiegsgesellschaft“ von Oliver Nachtwey. Dort zeichnete Nachtwey ein sehr negatives Bild von der Gegenwart. Nach dem Aufschwung der Nachkriegsjahrzehnte sieht er die internationale Wirtschaft in einer Regression. Auf den Fahrstuhleffekt nach oben folgte die Rolltreppe nach unten. Als die Leidtragenden sieht er nicht nur arbeitslos gewordene Industriearbeiter, sondern Fachkräfte und Akademiker, deren Arbeitsbedingungen sich durch Outsourcing und Befristung ihrer Jobs verschlechtert haben. Reckwitz hingegen schreibt ausdrücklich, dass es sich bei seiner Spätmoderne nicht um eine Abstiegsgesellschaft handelt. Auch wenn er die Dinge vielleicht zurecht weniger schwarz sieht, als Nachtwey, kann man seinem Buch allerdings vorwerfen, dass es die Schattenseite der Beschäftigungsverhältnisse seiner neuen akademischen Mittelschicht weitgehend verschweigt. Wenn Reckwitz in Anlehnung an den Fahrstuhleffekt vom spätmodernen Paternoster-Effekt spricht, und es also für einige bergauf und andere bergab geht, dann meint er mit den Benachteiligten anscheinend nur die Dienstleister der neuen Unterschicht. Für seine akademische Mittelschicht, fährt die Kabine nach oben. Die von Nachtwey sehr eingehend beleuchteten Probleme des akademischen Prekariats und der Generation Praktikum, die sich oft mit schlechtbezahlten, befristeten Jobs durchschlagen muss und in der Hoffnung auf ein solides Arbeitsverhältnis über Lebensjahrzehnte hinweg vertröstet wird, kommen bei Reckwitz nicht vor, obwohl gerade auch in diesem Milieu die von ihm beschriebene Hyperkultur zu Hause ist.
Trotz dieser Lücke ist „Das Ende der Illusionen“ aber insgesamt ein Augen öffnendes Buch. Es gelingt Andreas Reckwitz, neue Kategorien einzuführen, die eine scheinbar widersprüchliche Zeit neu sortieren und sie, obwohl sie noch nicht einmal vergangen ist, schon fast einleuchtend erscheinen lassen.
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