Existenzielle Wohngemeinschaften | „Sphären I, Blasen“ von Peter Sloterdijk

Mit dem Begriff der Sphäre waren seit der Antike die Himmelsschalen verknüpft, von denen man dachte, dass sie die Erde einhüllen und dass an ihnen die Himmelskörper befestigt sind. Den wissenschaftlichen Fortschritt hin zu einer modernen Kosmologie verbildlicht Peter Sloterdijk am Anfang seines Buches als ein Durchbrechen dieser Himmelssphären. Der Mensch dringt mit seinem Wissen über Mond, Sonne, Sterne und Galaxien immer weiter nach außen vor und lässt die ehemals schützenden Schalen hinter sich. In Sloterdijks Worten:

„Durch Forschung und Bewußtwerdung ist der Mensch zum Idioten des Kosmos geworden; er hat sich selbst ins Exil geschickt und sich aus seiner unvordenklichen Geborgenheit in selbstgesponnenen Illusionsblasen ins Sinnlose, Unbezügliche, Selbstläufige ausgebürgert.“

Aber nicht nur die Wissensgeschichte, sondern auch das Leben des einzelnen Menschen macht laut Sloterdijk eine Entwicklung von innen nach außen durch, in der schützende Hüllen immer wieder durchbrochen und durch größere ersetzt werden. Die Geburt ist der erste und deutlichste Durchbruch von innen nach außen. Danach bewohnt der Mensch intime Innenräume, die durch die Verbundenheit mit anderen aufgespannt werden und die Verbundenen gemeinsam umhüllen. Zuerst ist es die Mutter und dann auch der Vater und die weitere Familie, mit denen die Sphären geteilt werden. Der Mensch ist immer wieder vor die Herausforderung gestellt, die Sphären zu erweitern und neue Pole in sie zu integrieren. Freunde, Kollegen, Geliebte kommen hinzu, aus einem privaten Wesen wird eines, das größeren Gesellschaften angehört und sich schließlich auch in der größten Sphäre, der globalisierten Welt zurechtfinden soll. Um die Sphäre des Globus und die Entwicklung der Völker und Imperien geht es aber erst im zweiten Band der Sloterdijkschen Sphären-Trilogie.

Zwischen Herzen und Gesichtern

Ihr erstes Buch mit dem Untertitel „Blasen“ handelt von den intimen Mikrosphären, die von nur zwei Polen erzeugt werden. Sloterdijk durchläuft die Bewegung zunächst in einer umgekehrten Richtung, von außen nach innen. Ausgehen von den Spannungsfeldern, die zwischen Liebenden symbolisch durch ihre Herzen oder durch die gegenseitige Faszination am Gesicht des anderen entstehen können, fährt er mit den hypnotischen und therapeutischen Beziehungen fort, die Psychoanalytiker und ihre Vorgänger seit Franz Anton Mesmer mit ihren Patienten eingegangen sind. Über diese Verbindungen, die an der Grenze des Bewussten verlaufen kommt er dort an, wo die stärksten Partnerschaften sich bereits vor der Entwicklung des Bewusstseins bilden konnten, nämlich vor der Geburt.

Bis hierhin macht Sloterdijks Analyse die Versuche deutlich, mit denen man im Lauf der Geschichte der zwischenmenschlichen Anziehung und Verbundenheit eine Beschreibung durch etwas konkretes und substanzielles geben wollte. Bei Platon und seinen Wiederentdeckern in der Renaissance waren es die Strahlen, die zwischen einem Gesicht und dem Auge eines liebenden Betrachters hin und her geschickt wurden und die sich sogar auf das Blut der Beteiligten auswirken konnten. In Mesmers „Animalischem Magnetismus“ waren es dann mysteriöse Naturkräfte, die durch Seile, Drähte und andere physische Verbindungen zwischen Menschen ausgetauscht wurden und sich auf die Psyche auswirkten. Eine vorgeburtliche Verbindung zwischen Kind und Mutter wird wie man inzwischen weiß akustisch durch die Stimme und den Herzschlag der Mutter und wohl auch durch den sich entwickelnden Tastsinn des Embryos geknüpft, mit dem er sich, wie Sloterdijk spekuliert, im Mutterleib schon ein Gefühl für hier und dort entwickelt.

Mysteriöse Ur-Begleiter

An dieser Stelle kommt Sloterdijk zu einem überraschenden Gedanken, den er wie eine Entdeckung präsentiert. Im Uterus spürt der Fötus möglicherweise nicht nur die ihn umgebende Mutter, sondern auch eine andere Präsenz. Er teilt sich seinen engen Raum mit einem schweigenden Begleiter, den Sloterdijk zunächst als das „Mit“ bezeichnet, um den profanen Namen des Organs nicht vorwegzunehmen. Gemeint ist die Plazenta, die laut Sloterdijk sträflich unterschätzt und als erster Sphären-Mitbewohner des Menschen nicht ernstgenommen wird. Dass dieses Organ in westlichen Kulturkreisen nach der Geburt einfach entfernt, in den Müll geworfen und nie wieder erwähnt wird, ist laut Sloterdijk ein Fehler der modernen Geburtshelfer, Mediziner und Eltern, der sich folgenreich auf alle späteren Sphärenbildungen auswirken kann. Einem Menschen, der nicht weiß, dass er nicht alleine, sondern mit einem „Ur-Begleiter“ auf die Welt gekommen ist, wird auch später vielleicht nicht bewusst sein, dass er nie alleine existieren kann.

Hierin liegt eine der wesentlichen Aussagen des Buches: Der Mensch existiert immer schon in intimen Verbindungen zu anderen. Er kann diese höchstens lösen, um neue einzugehen. Ein Selbstbild als einsames, unabhängiges Individuum ist eine Illusion. Der Mensch bewohnt von anderen geteilte und mit ihnen gemeinsam geschaffene Sphären der Nähe und hat keine andere Wahl. Von den Anschauungen der religiösen Mystiker bis zu den Forschungsergebnissen der modernen Medizin lässt Sloterdijk alles gelten, was diese These untermauert. Indem er weit ausholt und sich quer durch die Ideengeschichte bewegt, hebt er seine Sphären der intimen Verbundenheit als einen roten Faden der Menschheitsgeschichte hervor. Es ist insofern ein gegen den Zeitgeist der Individualisierung geschriebenes Buch.

Räume der menschlichen Existenz

Am Ende kommt Sloterdijk als einzige mögliche Steigerung der Mutter-Kind-Verbindung bei den transzendenten Sphären an, deren Bewohner so eng mit einander verbunden sind, dass sie sich am Ende nicht mehr von einander unterscheiden. Es handelt sich hier um die Bindung zwischen Seele und Gott und schließlich, als die ultimative, intimste und alles umfassende Sphäre, die Verbindung von Gott mit sich selbst in seiner dreifaltigen Gestalt. In den Theorien der christlichen Kirchenväter über diese Einheit, von Vater, Sohn und heiligem Geist, die zu einander irgendwie in Beziehung stehen aber doch nicht als drei verschiedene Gottheiten gedacht werden dürfen, identifiziert Sloterdijk den Ursprung eines hinreichend abstrakten Sphären-Denkens, das er mit seinem Buch fortzusetzen versucht.

Es ist interessant, dass Sloterdijk in diesem kurz vor der Jahrtausendwende erschienenen Buch für seine Mikrosphären der intimen Verbundenheit denselben Begriff verwendet, nämlich den der Blase, den wir im Zeitalter der sozialen Medien für den Raum der medialen Verbindungen benutzen, in dem wir gefangen sind, weil die Algorithmen uns immer zuverlässig mit der selben Suppe versorgen, in der wir längst schon schwimmen. Facebook gab es noch nicht als das Buch erschien und die berüchtigte Social-Media-Bubble kann mit Sloterdijks Blasen also noch nicht gemeint sein. Sie hat mit ihnen auch nicht viel gemeinsam, sondern ist eher ein Gegenentwurf im Sinne von Heideggers Theorie des „Man“, die Sloterdijk ganz am Ende des Buches aufgreift. Zu der Macht, den die mit uns medial verbundenen anderen heute vielleicht mehr als je zuvor über uns haben, wird Heidegger mit den folgenden Sätzen aus „Sein und Zeit“ zitiert:

Diese anderen sind dabei nicht bestimmte andere. Im Gegenteil, jeder andere kann sie vertreten. Entscheidend ist nur die unauffällige, vom Dasein als Mitsein unversehens schon übernommene Herrschaft der Anderen. Man selbst gehört zu den Anderen und verfestigt ihre Macht. […] Jeder ist der andere und Keiner er selbst. Das Man… ist das Niemand, dem alles Dasein im Untereinandersein sich je schon ausgeliefert hat.“

Die Blase und die Bubble

Sloterdijks Blase ist eine kleine Zwei- oder Drei-Zimmer-WG, die wir mit ganz bestimmten, intim verbundenen Partnern teilen und zu der die anderen keinen Zutritt haben. Die heutige Bubble dagegen ist so wie Heideggers „Man“ eher ein Außenraum mit viel zu vielen Mitbewohnern. Sie ist das Ergebnis des Fehlers, den wir machen, wenn wir unsere Mikrosphären unvorsichtig erweitern. Die Wände der WG werden eingerissen und jeder vorbeikommende darf einen Blick ins Schlafzimmer werfen und schmutziges Geschirr in der Küche stehen lassen. Der Schritt in die Online-Öffentlichkeit, der eine Selbstermächtigung (das vielbeschworene empowerment) hätte werden sollen, wird immer, wie Heidegger anscheinend vorausahnte, zur Unterwerfung unter die Macht der Anderen. Das Eintauchen in die Masse ist gleichzeitig auch das Untergehen im Strom der ununterscheidbaren sich gegenseitig folgenden, die Auslieferung an das Untereinandersein.

Der Bezug zu Heidegger ist für Sloterdijks Buch zentral, denn wie er vorher schon zugibt, ist sein Sphären-Projekt der Versuch, Heideggers berühmtestes Werk in der dort nur kurz angerissenen Frage nach dem „wo“ zu ergänzen, also „Sein und Zeit“ ein „Sein und Raum“ hinzuzufügen. Während er die Nähe zu Heidegger betont, distanziert er sich andererseits von Lacan und kritisiert insbesondere dessen Theorie vom Spiegelstadium. Auch wenn manchmal von einer Topologie der Sphären die Rede ist, will Sloterdijks Sphärologie keine strenge Geometrisierung des Zwischenmenschlichen sein. Die Intuitionen der Mystiker und Kirchenväter und die Phantasmen der frühen Naturforscher und Philosophen spielen in Sloterdijks Argumentation eine wichtigere Rolle, als Formalismen oder logische Schlüsse. Das macht dieses Buch interessant und abwechslungsreich.

Ähnlich wie vielleicht Nietzsche, mit dem er immer wieder in Verbindung gebracht wird und sich selbst in Verbindung bringt, gehört Peter Sloterdijk zu den Philosophen, die einen Gedanken nicht nur möglichst klar sondern immer auch möglichst elegant formulieren müssen. Der Verdacht drängt sich auf, dass es manche dieser Gedanken vielleicht sogar nur dank ihrer originellen Formulierung ins Buch geschafft haben. Das lässt sich aber in Kauf nehmen. Sloterdijks Denken ist kein vorsichtiges Vorantasten in strengen philosophischen Begrifflichkeiten, sondern ein Aufsehen erregendes Assoziationsspektakel mit starken Meinungen und rhetorischen Finessen. Man ahnt nie, welchen Existenzialisten, Renaissance-Denker oder Heiligen der Autor auf der nächsten Seite auftreten lässt und durch welche Epochen und Körperregionen der menschlichen Existenz die Reise weitergeht. Die spektakuläre Vielfalt und Originalität der mäandernden Assoziationskette macht „Sphären I, Blasen“ zu einem echten Leseerlebnis.


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