Texte über den Bachmannpreis beginnen normalerweise mit den Zitaten von Sigrid Löffler über das „würdelose Wettlesen“ im kaputten Klagenfurt und von Marcel Reich-Ranicki über die „Arbeitstagung“ und das „Fest der Literatur“, als das er den Wettbewerb 1977 bezeichnete. Manchmal wird auch noch die blutige Stirn von Rainald Goetz von 1983 erwähnt. Diese Pflichten sind damit also erfüllt und was jetzt noch folgt, ist eine Zusammenfassung aller vierzehn Texte und Jury-Diskussionen der 46. Tage der Deutschsprachigen Literatur und am Ende ein Versuch, für die überraschende Entscheidung der Jury eine Erklärung zu finden.
1) Hannes Stein: „Die königliche Republik“
Am Donnerstag den 23. Juni 2022 beginnt der Wettbewerb mit dem Text des in den USA lebenden Hannes Stein. Wie alle Autoren liest er auf einer Freiluftbühne mit Publikum draußen vor dem Fernsehstudio. Die Lesung wird nach drinnen übertragen, wo die Jury auf ihren Einsatz wartet. In seinem Text „Die königliche Republik“ erzählt Hannes Stein von einem schwarzen Historiker in New York, der sich auf einen bestimmten Teil der europäischen Geschichte spezialisiert hat, nämlich das im vierzehnten Jahrhundert gegründete Staaten-Konstrukt der Polnisch-Litauischen Union. Er hat seine Universitätsprofessur wegen eines kleinen Skandals verloren und nach verschiedenen Schicksalsschlägen steigert er sich nun in die Glorifizierung dieser längst vergangenen osteuropäischen Union hinein, die er für ein ideales Königreich und noch immer für eine Realität hält. Er glaubt, dass dieses Reich sich in Wirklichkeit nicht längst aufgelöst hat, sondern in Form einer Geheimgesellschaft oder einer Art Parallelwelt weiterbesteht und ihm geheime Nachrichten sendet. Diese glaubt er aus dem Fernsehen und aus einem Glückskeks im chinesischen Restaurant zu erhalten. Die Handlung erinnert mich an Thomas Pynchons Roman „Die Versteigerung von No. 49“, den ich auch hier besprochen habe, weil sich hier ebenfalls eine Hauptfigur auf der Spur eines auf historischen Begebenheiten begründeten Geheimbundes glaubt, die Trennung zwischen Realität und Fiktion nicht mehr leisten kann und den Verstand zu verlieren droht.
Dieser erste Text spaltet bereits die siebenköpfige Jury des Bachmannpreises 2022. Dem an der Universität Graz lehrenden Literaturprofessor Klaus Kastberger und der in Wien lebenden Literaturkritikerin Brigitte Schwens-Harrant gefällt der Text grundsätzlich gut. Die ebenfalls in Wien arbeitende Schriftstellerin Vea Kaiser, die diesen Text vorgeschlagen hat, findet ihn hervorragend und sieht darin Bezüge zu einer österreichischen Tradition, über das Irreale zu schreiben. Auf der Gegenseite findet sich der in Zürich lebende Schriftsteller Philipp Tingler, der für das schweizer Fernsehen Literatursendungen moderiert. Er findet diesen Text banal und betulich und er erinnere ihn an einen ältlichen Verwandten, der mit altbackenen Phrasen gespickte Geschichten erzählt, die man gar nicht wirklich hören will. Dieser Kritik widerspricht der aus Deutschland stammende Publizist Michael Wiederstein. Er sieht in der betulichen Sprechweise die Stimme des Erzählers und nicht die des Autors. Die in Berlin lebende Literaturwissenschaftlerin Mara Delius, die die Literaturbeilage der „Welt“ leitet, und die in Frankfurt arbeitende Germanistin Insa Wilke sehen den Text aber ebenfalls kritisch und werfen ihm insbesondere erzählerische und dramaturgische Ungenauigkeiten vor. Insgesamt ist das Urteil also durchwachsen. Ich persönlich finde diese Erzählung nicht schlecht, aber ich kann Philipp Tinglers Kritik der Betulichkeit nachvollziehen, weil mir beim Zuhören Phrasen wie „bis hierher und nicht weiter“ und „noch ist Polen nicht verloren“ unangenehm aufgefallen sind, oder auch eine altbackene Wortwahl wenn zum Beispiel von der „Mattscheibe“ die Rede ist. Herr Tingler beendet die Debatte mit der Bemerkung, der Text scheitere an seinem eigenen hohen Anspruch und das ist ironischerweise fast identisch mit dem Motto, das Hannes Stein seinen amerikanischen Historiker am Anfang der Geschichte in seinem Glückskeks finden lässt. Dort heißt es nämlich: „Konfuzius sagt: Wer das Unmögliche will, der wird auf die Nase fliegen.“
2) Eva Sichelschmidt: „Der Körper meiner Großmutter“
Im zweiten Text mit dem Titel „Der Körper meiner Großmutter“ schreibt Eva Sichelschmidt über die letzten Lebenstage einer alten Frau aus der Sicht ihrer Enkelin. Es geht um die Trostlosigkeit und zähe Routine, die das Leben am Ende beherrschen können, und um die Einsamkeit im Sterben. Die einhundertdreijährige Großmutter wird in einer statischen Situation beschrieben, in der alle Tage gleich sind und sich nur um Banalitäten und die regelmäßigen Mahlzeiten drehen. Sie wird von Medikamenten am Leben gehalten und hat den Willen weiterzuleben längst verloren. Die Dinge in ihrer Wohnung und was aus ihnen wird, machen ihr größere Sorgen, als was mit ihr selbst passiert. Es ist ein sehr ernster, schlichter und am Ende wegen seiner Einfachheit auch rührender Text.
Mara Delius und Vea Kaiser heben in ihren Wortmeldungen die Themenwahl des Textes sehr positiv hervor. Wichtig sei, dass es hier um einen Frauenkörper gehe, der am Ende des Lebens eine andere Bedeutung gewinne. Klaus Kastberger deutet diesen Bedeutungswandel so, dass die Frau ihr ganzes Leben lang ihren Körper verborgen gehalten hat und er nun durch seine Schwäche und die Notwendigkeit, sich um ihn zu kümmern, in den Vordergrund tritt. Er hält den aus seiner Sicht sehr gelungenen Text außerdem für ein radikales Experiment, was ich nicht ganz nachvollziehen kann. Obwohl Philipp Tingler den Text ebenfalls sehr lobt und ihn als unsentimental und sogar als großartig bezeichnet, beginnen hier die gegenseitigen Sticheleien zwischen ihm und Herrn Kastberger, die anscheinend schon zu den zahlreichen Bachmannpreis-Traditionen gehören und sich durch den gesamten Wettbewerb ziehen werden. Insa Wilke würdigt, dass der Text nicht nur die Person der Großmutter sondern auch ihre Beziehungen zu anderen Menschen und die Thematik einer weiblichen Generationenfolge behandele. Aus ihrer Sicht hat die Herangehensweise der Autorin aber Schwächen. Besonders stört es sie, dass manche Floskeln der Großmutter und der Erzählerin hier aus ihrer Sicht unhinterfragt als Wahrheiten präsentiert werden. Auch Michael Wiederstein sieht formale und auch inhaltliche Mängel und kritisiert einige Details, wie zum Beispiel die Umstände einer im Text kurz erwähnten Patientenverfügung, als unrealistisch, was mir etwas pedantisch vorkommt. Insgesamt ist die Reaktion der Jury auf diesen Text positiv und es deutet sich hier schon vorsichtig an, dass manche Mitglieder der Jury eine Neigung zu Themen haben, die sich als feministisch deuten lassen.
3) Leon Engler: „Liste der Dinge, die nicht so sind, wie sie sein sollten“
Der dritte Text stammt von Leon Engler und heißt „Liste der Dinge, die nicht so sind, wie sie sein sollten“. Ein junger Schauspieler reist mit dem Zug in eine Kleinstadt, um dort für ein Fotoshooting einer Werbekampagne zu modeln. Er denkt auf der Reise und dann in seinem Hotelzimmer darüber nach, wie er auf andere Menschen wirkt, was an ihm echt ist und was er tun müsste, um besser zu wirken. Seine diesbezüglichen Vorbilder sind Klaus Kinski und sein Schauspiellehrer Hendrik, den er für seine großspurige Art und seine Coolness bewundert und gleichzeitig hasst. Nach dem Modelling-Termin trifft er Hendrik zufällig auf der Rückfahrt im Zug. Der Text besteht weitgehend aus den Selbstzweifeln des Ich-Erzählers und ich muss zugeben, dass er mich persönlich wegen dieses Um-sich selbst-Kreisens nicht besonders interessiert hat. Es war für meinen Geschmack zu viel Selbstmitleid und zu viele Selbstfindungsweisheiten, die ich teilweise als platt empfunden habe.
Aber wahrscheinlich sehe ich das ganz falsch, denn die Jury ist von diesem Text begeistert. Für Insa Wilke ist es ein simpler Text mit einer klaren Struktur und die Figur des sich selbst suchenden Ich-Erzählers findet sie gegenwärtig, anspielungsreich und einfach großartig. Michael Wiederstein hat den Text sehr genossen, wie er sagt, und ordnet ihn der Pop-Literatur zu. Er betont, dass das Bewusstsein sich hier wandele, das Sein aber nicht. Vea Kaiser meint, der Text sei deprimierend, aber das sei gut so. Allerdings beklagt sie eine gewisse Beschreibungsarmut. Die Beschreibung von Details findet Insa Wilke hier aber gerade toll. Auch Philipp Tingler, der den Text schließlich vorgeschlagen hat, findet ihn ganz großartig, weil er eine gewisse zeitgemäße Befindlichkeit treffend darstelle. Er sieht hier eine grandiose Kritik des Dogmas der Selbstoptimierung. Mara Delius findet, der Text sei einfach gut erzählt und Brigitte Schwens-Harrant betont, er sei nicht so simpel, wie er scheine. Allein Klaus Kastberger wirft dem Text vor, er sei zu unkritisch und möglicherweise einfach nur belanglos, was ungefähr zu meiner Wahrnehmung passt. Insgesamt gibt es in der Jury aber großen Zuspruch für diesen Text und Leon Engler ist damit ein früher Favorit für den Bachmannpreis.
4) Alexandru Bulucz: „Einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen“
„Einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen“ ist der vierte Text des Wettbewerbs. Alexandru Bulucz beschreibt hier auf komplexe Weise mit verflochtenen Erinnerungen und Vergleichen die Heimat- und Orientierungslosigkeit, die ein Immigrant empfindet, der seine Kindheit in Osteuropa verbracht hat. Alexandru Bulucz stammt selbst aus Rumänien, und das liegt, wie Rumänen mir mal erklärt haben, eigentlich nicht im Osten sondern ziemlich in der Mitte Europas, aber eben „einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen“. Der Text deutet an, dass in der Kindheitserinnerung an die östliche Heimat eine Tragödie liegt, nämlich eine nächtliche Gasexplosion in einem Wohnhaus. Die Hauptfigur des Textes hat die Katastrophe überlebt, trägt das Trauma aber bis in die Gegenwart mit sich herum und leidet unter Selbstmordgedanken. Der gesamte Text ist eingebettet in eine Szene in einem Café, in der die Hauptfigur mit einem Mann am Nachbartisch ins Gespräch kommen will, indem er ihn mit der Redewendung „Gott ist kein Eisenbahner“ konfrontieren will, obwohl er sie selbst immer rätselhaft fand. Es ist ein sehr ernster, bildreicher Text, den ich ebenfalls rätselhaft finde, aber auf eine angenehme Art.
Mara Delius lobt den Text als sprachlich genau und interessant. Vea Kaiser sagt, sie sei begeistert von seinen Assoziationen und Wortschöpfungen. Auch Klaus Kastberger sieht den Text positiv und erkennt in ihm einen komplexen, lyrischen Versuch, die Grundlagen der Narration in Frage zu stellen. Einen Bezug zur Geometrie in einander gesetzter Kreise erkennt Michael Wiederstein, mit der verlorenen Heimat als Kreismittelpunkt, an dessen Fehlen die Hauptfigur verzweifelt. Auch Insa Wilke greift das Thema Geometrie auf, weil es am Anfang des Textes heißt „Er hatte sein Leben auf ein einfaches geometrisches Modell reduziert“ und danach von Tangenten und Sekanten die Rede ist. Sie glaubt, dass die Hauptfigur versuche, mit Hilfe von Geometrie und Grammatik die Kontrolle zu behalten. Brigitte Schwens-Harrant empfindet den Text als schwer. Die Reflexionen seien grundsätzlich gut, aber manches sei dann doch zu viel. Die negativste Meinung über diesen Text vertritt Philipp Tingler, der den Begriff der „erzählerischen Ökonomie“ ins Spiel bringt und deren Mangel beklagt. Er versteht nicht, warum der Text so viele in einander verkettete Kreise ziehen und so viele Erzähletappen durchlaufen müsse. Auch manche Formulierungen gefallen ihm nicht und grundsätzlich hält er den Text für eine hermetische Seelenstudie mit zu wenig „Weltbezug“. Insa Wilke widerspricht seinem Urteil und empfindet die geschilderten Lebenserfahrungen im Gegenteil als sehr zugänglich. Es überwiegt insgesamt also ein positives Urteil der Jury, auch wenn die Wortmeldungen im Schnitt etwas weniger enthusiastisch wirken, als bei der Besprechung von Leon Englers Text.
5) Andreas Moster: „Der Silberriese“
Im fünften Text mit dem Titel „Der Silberriese“ erzählt Andreas Moster von dem Diskusswerfer Patrick, der sich auf die Olympischen Spiele in Peking vorbereitet. Er versucht gleichzeitig, sich um seine kleine Tochter zu kümmern, mit der er von der Mutter des Kindes sitzen gelassen wurde. Es ist eine stringente Erzählung, die sehr offen das schlechte Gewissen und die Fremdheit thematisiert, die der Vater gegenüber seinem Kind empfindet. Das Baby ist ein Hindernis für den Leistungssportler und andersherum steht der Sport der väterlichen Fürsorge im Weg, die Patrick zu leisten versucht. Die Situation spitzt sich zu, als er wegen einer Verletzung nicht an den Olympischen Spielen teilnehmen kann und am Ende die Mutter des Kindes zurückkommt. Indem er sie wieder wegschickt, entscheidet der Diskusswerfer sich für seine bislang unfreiwillige Rolle des alleinerziehenden Vaters. Der Text hat insofern am Ende eine klare Pointe und mir gefällt er gut.
Auch Insa Wilke und Mara Delius finden den Text grundsätzlich ok, aber sie sehen an einigen Stellen auch eine Nähe zum Kitsch. Mara Delius und Philipp Tingler fällt außerdem auf, wie wenig das Kind beschrieben werde. Vea Kaiser, die den Text vorgeschlagen hat, ist der Meinung, er sei faszinierend weil er nicht von einer Frau geschrieben sei und trotzdem den Themenkomplex Kindeserziehung und Verzicht aufgreife. Der Feminismus brauche solche Geschichten und die gesellschaftspolitische Botschaft des Textes ist ihr offenbar sehr wichtig. Soweit die positiven Stimmen. Brigitte Schwens-Harrant hingegen findet es egal, ob der Text von einem Mann oder einer Frau stammt, er sei in jedem Fall zu konventionell. Michael Wiederstein stört sich an der unklaren Erzählperspektive, der Länge des Textes und an gewissen Stereotypen wie etwa dem physischen Gegensatz zwischen dem Baby und den aufgepumpten Diskusswerfern im Kraftraum, der ihn an einen Schwarzenegger-Film erinnere. Für Klaus Kastberger, dessen Kritik ich als überzogen empfinde, ist der Text von vornherein unglaubwürdig, allein schon weil es um einen Diskusswerfer geht und seine Tochter Jelly heißt. Die Jury ist also ähnlich wie bei Hannes Stein gespalten, wobei die Kritik überwiegt. Damit endet der erste Lesetag.
6) Ana Marwan: „Die Wechselkröte“
Der zweite Tag beginnt mit dem Text „Die Wechselkröte“ von Ana Marwan. Die Ich-Erzählerin reiht zunächst ein paar mehr oder weniger belanglose Nicht-Ereignisse ihres Alltags zu Pandemiezeiten an einander. Sie denkt darüber nach, in ihrem Garten einen Baum zu pflanzen oder sich im Pool abzukühlen, und tut beides nicht. Sie leidet unter Kontaktarmut und hofft auf die seltenen Besuche des Briefträgers oder Gärtners. Irgendwann findet sie im Pool eine Kröte, ruft beim Umweltamt an, um zu fragen, was sie damit tun soll und rettet das Tier. Bis hierhin hat der Text mich ehrlich gesagt gelangweilt. Dann kommt ein zweiter Teil, in dem die Erzählerin plötzlich schwanger ist und sich ausmalt, wie sie das Kind erziehen wird, wie es sich immer weiter gegen sie durchsetzen wird, erwachsen wird, und sie schließlich in ferner Zukunft im Altersheim besuchen wird, undankbar und nur aus Pflichtgefühl. Folgerichtig entscheidet sie sich für die Abtreibung des Kindes. Das wird nicht explizit gesagt, aber dadurch angedeutet, dass sie im Pool noch den Laich der Kröte findet, die sie gerettet hat, und vom Umweltamt erfährt, dass zwar die Kröte aber nicht der Laich gerettet werden muss und einfach abgesaugt werden kann, wie es am Ende heißt. Ich persönlich kann mit diesem Text nicht viel anfangen, auch weil mich die gespielte Naivität im Erzählstil stört.
Es ist wahrscheinlich dieser Stil, den Mara Delius in ihrer Wortmeldung als Kauzigkeit beschreibt, aber positiv wahrnimmt. Für sie handelt es sich hier um das feinsinnige Porträt einer Eremitin und natürlich um feministische Literatur. Vea Kaiser findet den Text großartig, auch wenn er ihr zu lang ist, und erkennt in ihm die Dekonstruktion gesellschaftlicher Mythen. Michael Wiederstein kommt auf den Mann der Erzählerin zu sprechen, der in dieser Geschichte nur andeutungsweise im Hintergrund vorhanden ist. Die Komposition des Textes findet er gelungen. Klaus Kastberger spricht sogar von einem Gänsehaut-Text, den er ja selbst vorgeschlagen hat, und er glaubt, in ihm sowohl Witz als auch eine Spannung zwischen Idylle und Horror zu finden. Das Ende des Textes, wenn Krötenlaich und Embryo abgesaugt werden sollen, vergleicht er mit dem Ende des Films „Apokalypse Now“, was ich als weit hergeholt empfinde. Weitgehend einig ist sich die Jury trotz allen Lobs aber darin, dass der Text in zwei, oder wie Insa Wilke meint sogar in drei Teile zerfällt, und es zwischen diesen Teilen Qualitätsunterschiede gibt. Brigitte Schwens-Harrant, Mara Delius und Philipp Tingler finden, dass der Teil, in dem es um das Kind geht, weniger gelungen sei. Auch die zentrale Parallele zwischen der Schwangeren und der Kröte wird von Brigitte Schwens-Harrant und Philipp Tingler kritisiert und als zu platt empfunden. Insgesamt wird der Text also zwar positiv bewertet, aber mit gewissen Einschränkungen. Ich denke zu diesem Zeitpunkt müsste ein Bachmannpreis-Zuschauer deshalb den Eindruck haben, dass der Text von Leon Engler noch immer vorne liegt.
7) Behzad Karim Khani: „Vae victis“
Der von Behzad Karim Khani stammende Text „Vae victis“, was sich mit „Wehe den Besiegten“ übersetzen lässt, begleitet den kriminellen Saam durch seine ersten Monate im Gefängnis. Um klarzustellen, dass es sich bei Saam um keinen Unschuldigen handelt, sehen wir ihn schon am Anfang der Erzählung im Gefängnistransport einen anderen Inhaftierten brutal verprügeln. In der trostlosen Gefängniszelle angekommen fühlt er sich zum ersten mal im Leben, als sei er am richtigen Ort. Es gefällt ihm im neuen, einfachen Gefangenenleben. Sein kleiner Bruder, der ebenfalls in die Kriminalität abgedriftet ist, stattet ihm einen kühlen Besuch ab. Dann wird Saam aber in Isolationshaft verlegt und der Text schildert minutiös, wie er dort Schritt für Schritt verrückt wird. Er geht manisch auf und ab, zählt seine Schritte, wozu er irgendwann nicht mehr in der Lage ist, portioniert pedantisch seine Mahlzeiten und spricht schließlich mit seinem Essen und mit einer Stubenfliege. Von seinen Gedanken glaubt er irgendwann nicht mehr, dass sie seine eigenen sind. Im Spektrum zwischen der unerwünschten Bedrängung durch die übelriechenden Mitinsassen im engen Gefängsnisbus und der absoluten Einsamkeit der Isolationshaft untersucht der Text also die Frage, wie viel Nähe der Mensch braucht und worin der Verstand noch besteht, kurz bevor man ihn verliert. Mir hat dieser Text sehr gut gefallen.
Auch Insa Wilke findet den Text seht gut, hat aber das Bedürfnis, ihn in das Genre der Knastgeschichte einzuordnen und erwähnt, dass das Zeitgefühl im Gefängnis in anderen Geschichten dieser Art schon besser beschrieben worden sei. Mara Delius sieht keinen Nachteil darin, dass es sich um einen Genre-Text handelt, und lobt das schnelle Tempo der Erzählung. Michael Wiederstein findet den Anfang sehr gut gelungen und glaubt aber, dass dann eine gewisse Stringens und Motiviertheit verlorengehen. Auch Brigitte Schwens-Harrant findet manches gut gelungen, aber sie kritisiert die unentschiedene Erzählperspektive und glaubt, dass dem Text stilistisch etwas fehle. Philipp Tingler, der den Text vorgeschlagen hat, ist begeistert und lobt die Mischung aus Härte, Feinheit, Melancholie und Zärtlichkeit, die ihn sogar an Kendrik Lamar und Nas erinnert. Klaus Kastberger bestätigt seinen Ruf als Philipp Tinglers ärgster Widersacher und kritisiert den Text hart wegen der Gewalt in der Anfangsszene, die er unnötig findet und auch die Beschreibung der Isolationshaft mag er nicht. Grundsätzlich ist der Text aus seiner Sicht unglaubwürdig und hat ihm zu viel Testosteron. Ich finde diese Kritik wieder ziemlich platt und sie erinnert mich an die Diskussion zum Text von Andreas Moster über den Diskusswerfer, den Herr Kastberger ebenfalls wegen eines Protagonisten mit erhöhtem Testosteronspiegel abwatschte.
Damit haben wir die Hälfte der Bachmannpreistexte geschafft und es lässt sich schon eine gewisse Tendenz in der Jurymeinung erkennen. Die Texte von Hannes Stein, Andreas Moster und Behzad Karim Khani haben sich für diese Jury dadurch angreifbar gemacht, dass sie einer relativ klaren Erzählstruktur folgen. Der chronologische Handlungsablauf steht hier jeweils im Vordergrund. Die Texte von Ana Marwan, Eva Sichelschmitt und insbesondere Alexandru Bulucz bestehen hingegen eher aus statischen, in viele Bilder aufgelösten Zustandsbeschreibungen, die einigermaßen komplex wirken. Diese Texte haben die Jury hier mehr interessiert und vielleicht auch stärker herausgefordert. Der Text von Leon Engler fällt aus diesem Schema heraus, weil er zwar geradlinig eine Handlung beschreibt, aber trotzdem die größte Begeisterung hervorgerufen hat, weil er anscheinend eine bestimmte Empfindung genau getroffen hat. In den Wortmeldungen der Jury ist übrigens immer wieder auch von Traditionslinien und Bezügen zu Klassikern die Rede, die in den Texten ausfindig gemacht werden. Es kommt mir aber so vor, als ob die Suche nach solchen literarischen Querverbindungen, die sich auch bei den noch kommenden Texten fortsetzen wird, von der Jury eher aus Freude an der intellektuellen Schnitzeljagd betrieben wird und für das eigentliche Urteil über die Texte nur eine geringe Rolle spielt.
8) Usama Al Shahmani: „Porträt des Verschwindens“
Der nächste Kandidat ist der aus dem Irak stammende Schriftsteller Usama Al Shamani, der vor zwanzig Jahren wegen seiner Übersetzung eines Theaterstücks aus seiner Heimat fliehen musste und heute in der Schweiz lebt. Indem sein Text „Porträt des Verschwindens“ das Thema der eigenen Herkunft und der verlorenen Heimat behandelt, hat er eine Gemeinsamkeit mit dem Beitrag von Alexandru Bulucz. Allerdings handelt Usama Al Shamanis Text stärker von der Erinnerung an konkrete Personen, insbesondere an die Großmutter des männlichen Protagonisten und an eine ihrer Freundinnen. Während die Großmutter nie lesen und schreiben gelernt hat, arbeitet die Freundin als selbstständige Apothekerin. Die Beschreibung der beiden Figuren ergibt eine Momentaufnahme der irakischen Kultur der siebziger Jahre als Mischung aus poetischer Volksweisheit und Modernität. Aus der Sicht des Kindes erzählt der Text dann von Veränderungen, die den politischen Wandel von 1979 andeuten. Die moderne Freundin der Großmutter, die kein Kopftuch getragen hatte, verkauft ihre Apotheke und zieht weg. Im Fernsehen sieht man einen Mann mit Turban, dem zugejubelt wird. Vater und Onkel verhalten sich den Frauen der Familie gegenüber plötzlich anders und in der Schule werden Jungen und Mädchen von einander getrennt. Schließlich verkauft die Familie ihren Esstisch und nimmt alle Mahlzeiten auf dem Boden sitzend ein. Als der Junge der Familie stolz berichtet, er habe in der Schule ein Gedicht geschrieben und es sei in einer Zeitschrift abgedruckt worden, ist ein Moment der Anspannung spürbar, weil die Eltern im Gegensatz zum Kind wissen, dass auch Gedichte inzwischen gefährlich sein können. Der Text arbeitet mit vielen poetischen, fast märchenhaften Bildern, wenn es zum Beispiel heißt „es duftete nach Wintersonne“ und die Haare der Großmutter glänzten „wie das Wasser des Euphrats“, was für mich an manchen Stellen etwas zu dick aufgetragen. Der Text ist aber mit seinem Anfang und Ende in ein komplexes Bild eingebettet, das ich genial finde. Am Anfang heißt es, die Hauptfigur klopfe jeden Tag an die Tür des Exils und das Leben im Exil sei wie ein Schachspiel gegen sich selbst. Indem er sich daran erinnert, wie er als Kind die Figuren auf das Schachbrett stellte, beginnt die Rückblende in die siebziger Jahre. Am Ende des Textes, zurück in der Gegenwart, klopft der Mann in Gedanken versunken mit dem Knöchel auf das anfangs erwähnte Schachbrett, und er glaubt, als Antwort auf sein Klopfen das Olivenholz des verkauften Esstischs zu hören. Für mich war das die beste Textstelle im ganzen Bachmann-Wettbewerb.
Klaus Kastberger hebt lobend hervor, dass es in diesem Text um den Gegensatz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit geht, vertreten durch die Großmutter und den Enkel, und Wörter wie Körper behandelt werden. Die Betrachtung der großen politischen Ereignisse aus der Sicht des Kindes findet er sehr gut und in diesem Urteil schließen sich sich Brigitte Schwens-Harrant und Insa Wilke an. Philipp Tingler und Vea Kaiser werfen dem Text vor, konventionell zu sein. Die Figur der Großmutter empfindet Herr Tingler sogar als Kitsch. Mara Delius kritisiert außerdem die Sprache des Textes als zu betulich. Es geht in den kritischen Wortmeldungen auch um die Nähe zu einem gewissen Klischee von poetischen Erzählungen aus dem arabischen Raum. Insa Wilke ist der Meinung, dass der Text durch eine gewisse Härte vom arabischen Grundschema abweiche. Die Klischees werden ihrer Ansicht nach gebrochen. Auch Michael Wiederstein verteidigt den Text. Er empfindet die Erzählweise nicht als betulich, sondern als ruhig und einfach und dadurch auch als spannend. Das Pathos ist aus seiner Sicht an den richtigen Stellen platziert. Insgesamt ist sich die Jury also in positiven Aspekten des Textes einig und in den kritischen Punkten gespalten, aber allein die Tatsache, dass in dieser Besprechung die bösen Wörter „Kitsch“ und „konventionell“ aufgetaucht sind, deutet an, dass es leider kein heißer Kandidat für den Bachmannpreis sein wird.
9) Barbara Zeman: „Sand“
Der Text „Sand“ der in Wien lebenden Autorin Barbara Zeman handelt von einem Urlaub der weiblichen Ich-Erzählerin und ihres Partners in Venedig. Die Erzählerin hat etwas mit der Wassernymphe Undine zu tun, wohl als eine Anspielung auf Ingeborg Bachmanns Text „Undine geht“, der später von der Jury erwähnt wird und der wiederum ein Theaterstück von Jean Giraudoux aufgreift. In der Mythologie ist Undine ein Wesen, das erst dann eine Seele erhält, wenn sie sich mit einem Mann vereint und sie bringt diesem den Tod, wenn er untreu wird. Dementsprechend geht es in Barbara Zemans Text, der verschiedene Bilder und kurze Szenen des Venedigurlaubs durchläuft, um die Spannung in der Beziehung der Erzählerin zu ihrem Partner, auf den sie stark fokussiert ist und der ihre Zuneigung nicht erwidert. Es ist eine einseitige Beziehung, deren Auseinanderbrechen sich andeutet, und am Ende des Textes ist sie bereit, ihn einfach zurückzulassen. Am nächtlichen Strand geht sie immer weiter ins Wasser und ignoriert sein Rufen. Mit dem Klirren heruntergefallener Messer wird angedeutet, dass der Partner am Strand, irgendwo hinter ihr, möglicherweise gerade ermordet wird, während sie sich nicht mehr zu ihm umdreht. Bevor es zu dieser Schlusszene kommt, gibt es viele Rückblenden zu einem Arztbesuch, bei dem der Erzählerin ein gutartiger Tumor diagnostiziert wird, viele Impressionen von Venedig-Schauplätzen, eine bestellte Cola, ein bestellter Saft, einen Schwächeanfall auf offener Straße und literarische Anspielungen auf Dostojewski, Puschkin, das Lukas-Evangelium und viele andere.
Vea Kaiser lobt die große sprachliche Qualität des Textes, seine rhythmische Prosa und wunderbaren Adjektive. Andererseits fühlt sie sich erschlagen durch die Häufung von zu vielen Symbolen und Zeichen. Im Wesentlichen ist das ein Fazit, dem sich die meisten Juroren mehr oder weniger anschließen. Der lyrische Stil und die Bilder des Textes werden auch von Mara Delius und Brigitte Schwens-Harrant gelobt. Frau Delius ist sich nicht sicher, wo die Erzählerin mit all den geschilderten Stimmungen hin will, wobei sie das aber nicht als störend empfindet. Insa Wilke sieht hier einen politischen und feministischen Text und hält die Querverweise des Textes für wichtig. Für Michael Wiederstein ist es ein melancholischer und überfrachteter Text, dessen Konzept aber trotzdem aufgeht. Klaus Kastberger ist es zu viel, was auf dieser Venedigreise alles an Anspielungen mitfahre, und der Text wirke durch die Flut der literarischen Bezüge überladen. Das drastischste, negative Urteil kommt hier wieder von Philipp Tingler, der froh darüber ist, dass dieser assoziative, sensualisierte Stil aus der Mode gekommen sei. Er beklagt auch eine Infantilisierung der Sprache in Formulierungen wie „ich acht nicht drauf“, die sich durch den gesamten Text ziehe. Sein wesentlicher Vorwurf ist aber, dass es sich um eine hermetische Art von Prosa handele, die viele nicht erreiche.
Ich persönlich muss ihm da leider zustimmen, denn ich bin einer von denen, die der Text beim ersten Hören wegen seiner Künstlichkeit und der Aneinanderreihung von Bildern tatsächlich nicht erreicht hat. Auf den zweiten Blick sehe ich zwar, dass einiges in diesem Text drinsteckt, aber ich weiß nicht, ob ich ihn deshalb mögen muss. Ich denke Barbara Zemans Beitrag wirft die Frage auf, wem die Bachmanntexte eigentlich gefallen sollen, dem Publikum, das die Lesungen live oder in den Mediatheken von ORF und 3Sat hört, oder den Juroren, die sich mit den Beiträgen in ihrer schriftlichen Version länger und intensiver auseinandersetzen. Philipp Tingler legt offenbar großen Wert darauf, dass Texte ein Publikum erreichen, während beispielsweise Brigitte Schwens-Harrant meint, man müsse Texte eben manchmal zweimal lesen und wenn man gewisse Bezüge nicht erkenne, habe man den Text eben nicht verstanden. Zwischen diesen gegensätzlichen Positionen scheint die Jury generell einen Mittelweg zu suchen, so dass weder nur publikumswirksame Open-Mike-Prosa, noch das hochdurchdachte Kunstprodukt aus dem literarischen Elfenbeinturm eine Chance auf den Preis haben wird, sondern irgendetwas dazwischen.
10) Mara Genschel: „Das Fenster zum Hof“
Der Konflikt zwischen Unterhaltung und literarischem Anspruch wird in Mara Genschels Text „Das Fenster zum Hof“ mit anderen Mitteln fortgesetzt. „Das Fenster zum Hof“ ist natürlich ein berühmter Thriller von Alfred Hitchcock, in dem ein Reporter zu Hause mit gebrochenem Bein im Rollstuhl sitzt und aus dem Fenster einen Mord im gegenüberliegenden Gebäude beobachtet. Mara Genschels Text folgt derselben Handlung, nur dass der unbewegliche Beobachter hier ein amerikanischer Krimi-Autor ist, der sich mit seinen Cowboystiefeln selbstgefällig an seinen Schreibtisch begeben hat, um irgendeine Serie zu verfassen. Durch das Fenster beobachtet er im anderen Gebäude eine Lyrikerin, die so ähnlich heißt wie Mara Genschel. Die anderen Bewohner dieses Hauses heißen so, wie die anderen Bachmannpreis-Kandidaten. Die Lyrikerin verhält sich aus der Sicht dieses geschwätzigen Unterhaltungsschriftstellers irgendwie komisch, denn statt einfach drauflos zu tippen, so wie er, starrt sie nur stundenlang auf eine leere Seite im Textverarbeitungsprogramm ihres Laptops und macht zwischendurch ein paar Kniebeugen. Dann dichten Handwerker die Fenster ihrer Wohnung ab und der Erzähler kann nicht mehr sehen, wie es mit der Lyrikerin weitergeht. Er beschließt, zu ihr hinüber zu gehen und begreift auf dem Weg dorthin, dass er selbst nur das Klischee des Unterhaltungsautors in dem Text ist, den die Lyrikerin gerade schreibt. Um das zu verhindern, will er sie ermorden und den Text aus ihrer Sicht zu Ende schreiben. Dann bricht seine Erzählung ab und es wird berichtet, dass der Autor spurlos verschwand, nachdem er die Lyrikerin besuchte und dabei möglicherweise von ihr ermordet wurde. Mara Genschel hat sich für ihre Lesung einen Schnurrbart angeklebt und trägt den Text bis zu dieser Stelle in einem amerikanischen Akzent vor, mit dem sie die Rolle des Erzählers verkörpert. Mich hat der Text mit seinem inkompetenten, klischeehaften Erzähler am Anfang etwas genervt und ich finde, dass der starke Akzent, den Frau Genschel imitiert, nicht zur Wortwahl passt, wenn zum Beispiel „partielle Erregtheit“, „Sogwirkung“ und andere Begriffe verwendet werden, die auf eine bessere Sprachbeherrschung hinweisen. Die Selbstspiegelung der Autorin und das Ende haben mir dann wieder gut gefallen und insgesamt ist der ungewöhnliche Text für mich eine angenehme Abwechslung in diesem Wettbewerb.
Vea Kaiser findet diesen Text, der das Nicht-Entstehen einer Geschichte zeige, amüsant und großartig. Auch für Klaus Kastberger ist es ein lustiger Text und ihn interessiert der Bezug der Handlung zum Bachmannpreis, durch die Nennung der Teilnehmer. Den Preis selbst zum Thema zu machen sei in der Vergangenheit oft eine erfolgsversprechende Idee für Bachmanntexte gewesen. Michael Wiederstein erkennt auch typische Kritiker-Themen des Bachmannpreises wieder und fragt sich deshalb, ob die Jury selbst und sogar die Besprechung des Textes ebenfalls Teil der gesamten Performance seien, die Mara Genschel durch diesen Bezug initiiert habe. Es geht in der gesamten Diskussion stark um den Begriff der Performance, womit einerseits Mara Genschels Vortragsweise in der Rolle des amerikanischen Autors aber dann im weiteren Sinne auch der Bezug zum Wettbewerb gemeint sind. Die Vortragsweise wird von Mara Delius als ablenkend kritisiert. Auch Brigitte Schwens-Harrant ist wegen der Langsamkeit und der Behäbigkeit der Sätze nicht von der Darbietung überzeugt. Insa Wilke erklärt aus der Defensive heraus, sie habe den Text ausgewählt, weil er sich Erwartungen verweigere, witzig und gut gearbeitet sei, sowie wegen seiner Zeichenzusammenhänge und Strukturen. Philipp Tingler findet den Text hingegen anstrengend und einfach nicht gut geschrieben. Dass es sich um eine Gesamtperformance mit Einbeziehung der Jury handeln könnte, scheint ihn eher zu stören als zu interessieren.
Wie alle Autoren hört Mara Genschel sich diese Diskussion von ihrem Leseplatz draußen vor dem Fernsehstudio an und zeigt an einer Stelle kurz aber unmissverständlich einen Mittelfinger in Richtung Kamera. Die Geste ist in Richtung Jury adressiert, die sich im Studio befindet und über Kamera und Bildschirme mit den Autoren verbunden ist. In einem späteren Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ stellte Mara Genschel klar, dass die Geste speziell an Philipp Tingler gerichtet war. Seine beleidigende Bemerkung, der Text sei schwerer zu hören als zu schreiben, habe sie als verbalen Mittelfinger empfunden, den sie ihm dann zurück gezeigt habe. Der Jury ist diese Geste während der Diskussion anscheinend entgangen und auch in der Aufzeichnung taucht sie nicht auf. Was in früheren Wettbewerben vielleicht ein Skandal gewesen wäre, ist im Bachmannpreis 2022 nur ein Mini-Eklat, der niemanden wirklich aufregt. Nach zwei Jahren, in denen pandemiebedingte Videokonferenzen zur Normalität geworden sind, ist auch der in die Kamera gezeigte Mittelfinger vielleicht einfach ein Stück ganz normale Kommunikation geworden.
11) Leona Stahlmann: „Dieses ganze vermeidbare Wunder“
Die nächste Kandidatin heißt Leona Stahlmann und ist Lesern dieses Blogs schon bekannt, denn ich habe hier ihren Debütroman „Der Defekt“ besprochen. Ihr Wettbewerbsbeitrag mit dem Titel „Dieses ganze vermeidbare Wunder“ ist nun ein Auszug aus ihrem zweiten Roman, der verwirrenderweise so ähnlich heißt, nämlich „Diese ganzen belanglosen Wunder“. Vielleicht ist das Wunder der Geburt gemeint, wie es schon bei Monty Python heißt, denn es geht um eine Frau namens Leda und ihren kleinen Sohn Zeno, für den Sie sich trotz des Weltuntergangs entschieden hat, der sich gerade im Hintergrund abspielt. Sie leben in einer einsamen Salzwiesenlandschaft, in einem Nest aus Salz und Teer, wie es heißt. Die große Katastrophe, die immer wieder erwähnt und angeprangert wird, ist hier der menschengemachte Klimawandel. Die Leute hätten „dem Kind die Zukunft angezündet“ heißt es an einer Stelle. Der Text lässt aber weitgehend offen, wie weit die Apokalypse schon fortgeschritten ist und worin sie genau besteht. Er schildert das zivilisationsferne Einsiedlerleben der beiden Protagonisten, Details der sie umgebenden Natur, Ledas Überlegungen zur Namensgebung ihres Sohnes und mit der Fremdheit zwischen Elternteil und Kind kehrt auch ein Thema aus Andreas Mosters Text wieder. Zu den stärkeren Bildern in diesem Text gehört die Beschreibung eines mäandernden Flusses, die ich sehr gelungen finde, und das untergehende Venedig, mit einer Kirche, in der ganz zum Schluss noch ein Licht leuchtet. Wie schon in Leona Stahlmanns erstem Roman findet eine poetische Vermischung von Mensch und Natur statt. Leda bezeichnet den Fluss als Bruder ihres Sohnes und ihn selbst als Rattenkind. Formal wird der Text dadurch als eine Einheit zusammengehalten, dass Leda mehrmals dazu ansetzt, ihrem Kind die Situation zu erklären, in der sie sich befinden.
Es handelt sich wieder um einen Text, der die Jury spaltet und noch stärkere Unterschiede im Meinungsbild hervorruft, als die Beiträge von Hannes Stein oder Barbara Zeman. Vea Kaiser findet den Text wunderbar drastisch und lobt die Bezüge zur Mythologie und die Fluss-Metapher. Mara Delius bezeichnet Leona Stahlmann als eine talentierte und souveräne Autorin. Einiges sei gut gelungen, wie die Verzweiflung der Mutter und die Anthropomorphisierung der Natur. Allerdings ist ihr die Apokalypse nicht klar genug geschildert und die Zivilisationskritik an der städtischen Gesellschaft ist ihr zu platt. Michael Wiederstein hat den Text vorgeschlagen und erklärt, es handele sich um nature writing. Der Text sei strukturiert durch sechs Versuche der Mutter, dem Kind die Apokalypse zu erklären. Im Urteil der übrigen Juroren geht es aber wieder um das schlimme Wort namens Kitsch. Das Klima-Thema wird für den Geschmack von Herrn Tingler, Herrn Kastberger und Frau Schwens-Harrant mit zu viel Pathos und auf moralisierende Weise aufgegriffen. Laut Philipp Tingler „erschöpft“ der Text „sich in Posen“. Michael Wiederstein wendet ein, dass man über dieses Thema, so aktuell und brisant es sei, eben nur mit Pathos schreiben könne. Herr Kastberger meint aber, der Text müsse trotz der wichtigen Botschaft noch nicht unbedingt gut sein. Immerhin schränkt er ein, der Text sei nur teilweise kitschig, aber insgesamt findet er ihn nicht überzeugend. Das härteste Urteil kommt diesmal überraschend von Insa Wilke, weil es zusätzlich zum Inhalt die Sprache des Textes kritisiert. Die Bilder des Textes sind ihrer Meinung nach ungenau und nur „dekorativ“. Sie sieht die Autorin nicht in Kontakt mit ihrem eigenen Text. Ich finde es schade, dass dieser Beitrag hier insgesamt so hart kritisiert wird, kann die Kritik aber teilweise nachvollziehen. Der Beitrag klingt für mich besser, als Leona Stahlmanns erster Roman, aber man muss das nature writing eben mögen, und so ganz hat es mich auch noch nicht gepackt. Mit Leona Stahlmann hat der dritte und letzte Lesetag begonnen und es folgen nach ihr noch drei Männer, die für den mutmaßlichen Spitzenreiter Leon Engler eine Konkurrenz darstellen können.
12) Clemens Bruno Gatzmaga: „Schulze“
„Schulze“ von Clemens Bruno Gatzmaga ist ein trockener und witziger Text über einen Tag im Leben eines gleichnamigen Spitzenmanagers. Er beschreibt, wie dieser Herr Schulze sich nach dem Aufstehen im Badezimmer ausführlichste Gedanken über einen Tropfen Urin macht, der sich, für ihn vollkommen unverständlich, trotz seiner routinierten Abschütteltechnik in seiner Unterhose findet. Schulzes Gedanken wandern weiter zu der Verteidigungsrede, die er später vor der Presse halten muss. Er ist offenbar in Kritik geraten und will nun seinen unternehmerischen Kurs verteidigen. Aus seinen Gedankengängen wird klar, dass der wichtige Mann vollkommen von den kleinen Gesten und Blicken seiner Frau abhängig ist, die ihn damit regelrecht steuert. Mit einer karrierebewussten Kollegin tritt noch eine andere starke Frauenfigur auf, der er nicht gewachsen ist. Am Ende steht Schulze auf der Pressekonferenz und in diesem Moment erinnert er sich wieder an seinen Traum aus dieser Nacht, in dem er seine Fehler zugibt. Während ihm diese Erinnerung durch den Kopf geht, tut er aber das genaue Gegenteil und verteidigt sich vor der Presse mit seinen üblichen Phrasen.
Bis auf eine Ausnahme findet die Jury diesen Beitrag grundsätzlich gut. Klaus Kastberger gefällt es, wie hier eine innere Welt zum Einsturz gebracht wird und wie der aus seiner Sicht originelle Text auf den Urin des Protagonisten fokussiert. Michael Wiederstein sieht hier ebenfalls einen gut gemachten Text mit einem Antihelden, der dennoch sympathisch ist. Das Ende findet er allerdings erwartbar und eher konventionell. Philipp Tingler findet den Text zwar – natürlich Herrn Kastberger widersprechend – nicht originell, aber trotzdem gut komponiert. Eine Schwäche erkennt er darin, dass eine Trennung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, wie sie der Text voraussetzt, inzwischen eigentlich nicht mehr existiere. Außerdem müsse der Protagonist ambivalenter sein. Brigitte Schwens-Harrant hebt die Präzision des Textes und die Einheit von Raum und Zeit hervor. Aus ihrer Sicht ist es ein politischer Text, der Männer wie Schulze kritisiere. Mara Delius sieht hier einen ruhigen, konzentrieren Text, der etwas antiquiert sei, aber trotzdem gut. Insa Wilke erkennt die Souveränität des Autors darin, dass er auf einen einfach gebauten Text vertraut. Sie interessiert außerdem die Rolle der mit sanftem Druck kontrollierenden Ehefrau der Hauptfigur, in der sie eine Mutterfigur erkennt. Insgesamt kommt dieser Text, den ich sehr gut finde, bei der Jury mit einer Zwei Minus weg und die Kritik der Jury ist für mich nachvollziehbar, bis auf die eine Ausnahme.
Vea Kaiser kann als einzige gar nichts mit diesem Text anfangen. Ihre Begründung ist bezeichnend und im Nachhinein ein Omen, für das, was noch kommen soll. Sie stört es ausdrücklich, dass der Text am Anfang dem Intimbereich eines Mannes große Aufmerksamkeit schenkt. Wörtlich sagt Frau Kaiser:
Ich find es schon problematisch, dass im Jahr 2022 die Körperlichkeit einer Mutter abgetan wird als „kennt man schon“, „interessiert doch niemand“, „ist alles Klischee“, und die Unterhose eines alten weißen Mannes plötzlich einen interessanten Einblick in öffentlich und privat darstellt.
Mit der Körperlichkeit der Mutter mein Frau Kaiser wahrscheinlich die Mutterfigur aus dem vorangegangenen Text von Leona Stahlmann. Mit der Wortgruppe „alter weißer Mann“ greift sie hier ganz unkritisch die übliche Rhetorik gewisser feministischer Strömungen auf und schließt sich ihnen auch in der Argumentationsweise an, indem sie die eigentliche Aussage des Textes ignoriert und sich stattdessen auf die Frage der sogenannten Aufmerksamkeitsökonomie beschränkt. Clemens Bruno Gatzmagas Text kritisiert ja gerade das Verhalten sogenannter alter weißer Männer wie Schulze und die Fokussierung auf dessen Genitalregion ist hier ganz klar ein literarisches Mittel dieser Kritik. Trotz dieser Bedeutung ist aber allein die Tatsache, dass der Männerkörper damit ins Zentrum der Aufmerksamkeit gezogen wird, oder man könnte sagen „ihm eine Plattform geboten wird“, für Frau Kaiser ein Zeichen der Rückschrittlichkeit. Diese Art von Kritik zeigt sehr klar, welche Rolle der Geschlechterkampf zumindest für Frau Kaisers Werturteile in diesem Wettbewerb spielt.
13) Juan S. Guse: „Im Falle des Druckabfalls“
Zwei letzte weiße aber noch nicht ganz so alte Männer folgen noch. Der vorletzte ist Juan Sebastian Guse mit seinem Text „Im Falle des Druckabfalls“. In dieser Erzählung folgt Juan Guse einem Prinzip, das er einmal in einem Interview erklärt hat: In einer realistischen Welt fügt er an nur einer Stelle ein irreales Detail hinzu und denkt diese veränderte Welt dann konsequent zu Ende. Das Irreale besteht in diesem Text darin, dass mitten in den Wäldern des Taunus ein kleiner und isolierter Stamm von wilden Ureinwohnern lebt und eines Tages durch Zufall entdeckt wird. Das ist besonders deshalb witzig, wie später auch Herr Kastberger bemerken wird, weil ausgerechnet der Taunus nördlich des dicht besiedelten Rhein-Main-Gebietes weltweit das Gebirge sein mag, in dem man mit der geringsten Wahrscheinlichkeit noch irgendetwas unentdecktes finden kann, geschweige denn ein ganzes Dorf von Ur-Taunusianern. Als Konsequenz dieser bahnbrechenden Entdeckung bildet sich eine internationale Expedition aus Wissenschaftlern und Kulturschaffenden, die in der Nähe des Entdeckungsortes ihr Lager aufschlägt. Zu ihr gehören die Schriftstellerin Inés, die einen großen Bericht über die Expedition verfassen will, und der Dramatiker Lotz, in den Inés sich während ihres gemeinsamen Aufenthalts in der Taunus-Wildnis verliebt. Inés wird ausgewählt, mit einer kleinen Gruppe von Forschern bis zum Lager der Ureinwohner vorzudringen und zu ihrer Überraschung finden sie dort eine maßstabsgetreue Nachbildung des gesamten Frankfurter Flughafens. Die Wilden begrüßen die Forschergruppe und schicken sie sofort zum Check-In im nachgebauten Terminal. Die verwirrten Forscher durchlaufen unter der Anleitung der Ureinwohner den üblichen Boarding-Prozess, besteigen ein nachgebautes Flugzeug und heben ab.
Für mich ist es der beste Text dieses Wettbewerbs und auch die Jury überschlägt sich in Begeisterung und untypischer Interpretierlust. Vea Kaiser sieht hier einen witzigen, fein gearbeiteten Text und einen Versuch darüber, wie man die Gegenwart anders beschreiben könne. Klaus Kastberger findet den Beitrag originell und grandios. Der nachgebildete Flughafen, in dem das Flugzeug plötzlich funktioniert und losfliegt, könnte, so spekuliert er, in Wahrheit der echte Flughafen sein. Demzufolge wären wir diejenigen, die nur die Nachbildung kannten und die ethnologische Perspektive würde sich umkehren. Die vermeintlichen Wilden wären in Wahrheit die Zivilisierten, die die unwillkommene Gruppe von Eindringlingen zu ihrer Abschiebung geleitet. Eine andere interessante Interpretation liefert Michael Wiederstein, der in diesem Text ähnlich zum Text von Mara Genschel eine Anspielung auf den Bachmann-Wettbewerb sieht, denn auch hier sollen ja die noch Unentdeckten gefunden werden. Die Expedition der gebildeten Kulturmenschen wäre in diesem Fall also die Jury und die vermeintlich unzivilisierten Autoren treiben ihr eigenes Spiel mit ihnen. Brigitte Schwens-Harrant findet den Stil zwar nicht immer grandios, lobt den Beitrag aber als sehr originell. Mara Delius bescheinigt dem Text eine Sogwirkung und, obwohl er erzählerisch sei, eine extreme Tiefe. Auch Philipp Tingler spricht von einem Sog und sieht in dem Text eine gelungene Gratwanderung zwischen Absurdität und Banalität. Die Liebesgeschichte zwischen den beiden Hauptfiguren empfindet er allerdings als unnötig und die Sprache ist ihm oft zu schlicht. Insa Wilke findet die Mischung aus Pathos und Schlichtheit aber gerade besonders gut. Sie erkennt in diesem Text nicht nur das Witzige sondern auch das Entsetzliche und einen Versuch, ein System aufrecht zu erhalten, das kollabiert sei. Nach dieser lebhaften, ausgesprochen positiven Diskussion erscheint Juan Sebastian Guse neben Leon Engler ganz klar als einer der Favoriten für den Bachmannpreis.
14) Elias Hirschl: „Staublunge“
Der letzte Text des Wettbewerbs, „Staublunge“, ist eine witzige Erzählung, die mit ironischer Übertreibung die Auswüchse des heutigen Arbeitslebens im Online-, Lieferservice und Startup-Bereich zeigt. Elias Hirschl schreibt aus der Sicht eines Erzählers, dessen Beruf es ist, klickbait-Artikel für Internet-Plattformen zu verfassen, die er in rasendem Tempo wie am Fließband produziert. Über Tinder lernt er Jonas kennen, der einen Lieferservice gegründet hat und mit absurdem Optimismus versucht, seine neue Firma in einer heruntergekommenen Industrieruine aufzubauen. Während einer Reihe von Dates, bei denen der Erzähler Jonas besucht, werden die Zustände dort immer schlimmer. Zuerst sind Wasserleitungen gefroren, dann ist das Gebäude wegen eines Rohrbruchs überschwemmt. Im Wasser sitzend erzählt Jonas die tragische Geschichte von seinem ersten Lieferservice, den er bereits als Kind gründete. Er hätte seine Mutter, die zu Hause plötzlich zusammengebrochen und gestorben war, vielleicht retten können, wenn er ihr die eingekauften Lebensmittel nur etwas schneller nach Hause gebracht hätte. Mit dieser traumatischen Kindheitserinnerung erklärt sich seine Besessenheit, seine Mitarbeiter zu immer kürzeren Lieferzeiten zu drängen. Während der Startup-Gründer inzwischen schwer krank aus seiner zerfallenen Firma vom Rettungsdienst abgeholt wird und noch auf der Trage von absurd kurzen Lieferzeiten schwärmt, eskalieren draußen auf den Straßen die Proteste der ausgebeuteten Lieferanten. Schauplatz der Erzählung ist eine Geisterstadt in einer früheren Braunkohleregion und ein inaktiver, gigantischer Schaufelradbagger symbolisiert im Hintergrund die alte Kohleindustrie, die durch die neuen, genauso ausbeuterischen Industriezweige abgelöst wurde.
Philipp Tingler, Mara Delius und Vea Kaiser sind sich darin einig, dass der Text am Ende gekürzt werden müsse. Herr Tingler erkennt im Text außerdem eine eindeutige Botschaft, nämlich die Kritik an der Spätmoderne (vielleicht hat er auch das Buch von Andreas Reckwitz gelesen?) und findet den Text insgesamt nicht schlecht aber auch nicht originell. Vea Kaiser hingegen sieht keine eindeutige Botschaft und lobt besonders die Figur des Firmengründers Jonas als den letzten unironischen Optimisten. Mara Delius lobt die elegant lakonische Sprache der Erzählung. Auch Brigitte Schwens-Harrant findet den Text sprachlich gut. Sie sieht in der Handlung eine humorvolle und tragische Pervertierung des Mottos „Carpe Diem“ und schließt sich dem Urteil an, dass der Text zu lang wirke. Insa Wilke lobt das rührende Gründermythos, das Jonas mit der tragischen Geschichte seiner Mutter erzählt. Außerdem kommt sie wegen des Schaufelradbaggers, der im Text eine bestimmten Namen hat, auf ein Youtube-Video mit einem gleichnamigen Minibagger und ich muss zugeben, dass ich dieses Video nach fast 13 Stunden Bachmannpreisvideos nun nicht mehr gegoogelt habe und deshalb nicht weiß, worauf Frau Wilke damit anspielt. Michael Wiederstein lobt die Ästhetik der Erzählung, die ihn an Zombiefilme erinnert, aber er bemängelt die Sozialkritik des Textes, denn die hier geschilderten desaströsen Zustände der Startup- und Dienstleistungs-Economy hält er für eine Untertreibung der noch schlimmeren Wirklichkeit. Darin widerspricht ihm Klaus Kastberger. Er findet die soziale Botschaft des Textes gut und sehr zeitgemäß. Insgesamt wird der Text, der mir auch gut gefallen hat, also für Sprache und Inhalt gelobt, aber für seine Länge kritisiert und ist aufgrund der kritischen Stimmen kein ganz heißer Favorit für den Bachmannpreis.
Die Entscheidung
Am Ende ergibt ein Vergleich aller Jury-Diskussionen also meiner Meinung nach das folgende Bild: „Im Falle des Druckabfalls“ von Juan Sebastian Guse und „Liste der Dinge, die nicht so sind, wie sie sein sollten“ von Leon Engler liegen vorne, wobei Guses Text der Spitzenreiter ist. Das ist übrigens auch die Meinung des ORF, der auf seiner Homepage zum Bachmannpreis schreibt, Juan S. Guse gelte nach dem letzten Lesetag als neuer Favorit. Hinter den beiden folgt ein Feld von Texten, die ebenfalls überwiegend positiv aber nicht ganz so überschwänglich beurteilt wurden. Hierzu zähle ich „Der Körper meiner Großmutter“ von Eva Sichelschmidt, „Die Wechselkröte“ von Ana Marwan, „Einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen“ von Alexandru Bulucz und vielleicht auch „Schulze“ von Clemens Bruno Gatzmaga. Nach neuen Bachmannpreis-Regeln verteilt jedes Jury-Mitglied eine gewisse Anzahl von Punkten unter den Texten und ein Justiziar wertet das Ergebnis aus. Nach dieser Prozedur steht am Sonntag den 26. Juni die Entscheidung fest: Ana Marwan wird für ihren Text „Die Wechselkröte“ als die Gewinnerin des Bachmannpreises 2022 verkündet und geehrt.
Diese Entscheidung finde ich im ersten Moment erstaunlich. Auch die taz bezeichnet Ana Marwan als eine „überraschende Siegerin“. Die Diskussion zu diesem Text war wie gesagt positiv, aber die Jury wirkte hier weniger überzeugt, als zum Beispiel im Fall von Juan Guses Erzählung. Mehrere Juroren hatten einen Qualitätsunterschied zwischen den verschiedenen Teilen des Textes beklagt und auch das titelgebende Bild der Kröte war kritisiert worden. Für mich stellt sich deshalb die Frage, ob die Jury ihre Meinung zwischen der Diskussion und der Preisverleihung noch änderte und den Text nachträglich aus irgendeinem Grund doch noch höher bewertete, als direkt nach der Lesung. Wenn man sich die Chronologie des Bachmannpreises 2022 mit diesem Hintergedanken noch einmal ansieht, stößt man tatsächlich auf eine interessante Koinzidenz.
Ana Marwan las ihren Text zwei Tage vor der Preisverleihung, also vormittags am Freitag den 24. Juni. Am Abend des selben Tages ging eine Nachricht durch die Medien, die weltweit für große Erschütterung sorgte: Der oberste Gerichtshof der USA hatte eine Regelung zum Abtreibungsrecht gekippt, die als Urteil des Gerichtsprozesses „Roe versus Wade“ bekannt ist. Dieses richtungsweisende Urteil aus den siebziger Jahren hatte die amerikanischen Bundesstaaten in ihrer individuellen Gesetzgebung zum Thema Abtreibung eingeschränkt und dadurch bundesweit liberale Abtreibungsregelungen ermöglicht. Mit der Aufhebung dieses Urteils gab der Supreme Court nun den Bundesstaaten freie Hand für eigene Abtreibungsgesetze. Es war bekannt, dass manche Staaten dies nutzen würden, um Abtreibungen rigoros zu verbieten. Die Entscheidung wurde daher international als Schlag gegen liberale Abtreibungspolitik und gegen den Feminismus aufgefasst.
Diese Nachricht und der internationale Aufschrei in den sozialen Medien kann den Juroren in Klagenfurt nicht entgangen sein. Nachdem mehrere Juroren im Lauf des Wettbewerbs ihre Vorliebe für politische und insbesondere feministische Texte deutlich gemacht hatten, halte ich es für plausibel, dass man angesichts dieser aktuellen Entwicklung nun mit dem Bachmannpreis ein Zeichen für ein liberales Abtreibungsrecht setzen wollte und der Text „Die Wechselkröte“ bietet sich dafür perfekt an, fast so als hätte die Autorin diese Wendung voraussehen können. Zwar können auch andere Texte des Wettbewerbs als feministisch gedeutet werden, aber Ana Marwans Text ist der einzige, in dem sich eine Frau in der finalen Pointe der Erzählung für eine Abtreibung entscheidet. Tatsächlich wird dies auch bei der Preisverleihung von Laudator Klaus Kastberger erwähnt, wenn er davon spricht, dass in der hier beschriebenen Entscheidung zwischen Mutterschaft und Kinderlosigkeit eine „Selbstermächtigung“ liege, die zum besten gehöre, „was Literatur leisten kann“.
Falls es also stimmt, dass der Bachmannpreis als ein Zeichen für diese Selbstermächtigung und noch konkreter gegen den amerikanischen Supreme Court vergeben wurde, kann man sich fragen, ob eine solche Politisierung, oder, um es noch härter zu sagen, eine politische Instrumentalisierung dieses Literaturpreises zu kritisieren ist. Ist es nicht ganz unvermeidlich, dass im Urteil über komplexe literarische Texte, die alle Themen des Lebens behandeln können, auch Urteile über Politisches eine Rolle spielen? Ich denke das stimmt zwar, aber die Frage ist, welchen Raum man dem Politischen geben will. Als Zuschauer des Bachmannpreises bin ich persönlich vor allem an den literarischen Urteilen dieser Jury interessiert und weniger an ihren politischen Meinungen. Ich interessiere mich für die Eigenschaften der vorgetragenen Texte und nicht so sehr für deren mehr oder weniger zufälligen Bezüge zu tagesaktuellen Ereignissen. Wenn diese Dinge in den Vordergrund treten, verliert der Preis dadurch für mich seine Bedeutung.
Um Missverständnisse auszuschließen, will ich ergänzen, dass ich der Gewinnerin den Preis natürlich gönne. Ana Marwan hat den Bachmannpreis verdient. Sie hat einen originellen und hochwertigen Beitrag vorgelegt, und das er mich persönlich nicht angesprochen hat, besagt überhaupt nichts. Diesen Text aus rein literarischen Gründen zum Sieger zu küren, wäre vollkommen verständlich. Nur hätte sich eine solche, von weiteren Ereignissen unabhängige Entscheidung, in den Äußerungen der Jury irgendwie andeuten müssen. Oder um es anders zu sagen: Ana Marwans Text als solcher mag diese Entscheidung rechtfertigen, aber die Jury-Diskussion des zweiten Lesetages tut es nicht.
Am Ende ist das vielleicht auch alles egal. Leon Engler gewinnt noch den 3Sat-Preis, Juan S. Guse den KELAG-Preis, Alexandru Bulucz den Deutschlandpreis, Elias Hirschl den Publikumspreis, und vielleicht waren den Teilnehmern, unter denen laut Presseberichten große Kollegialität und Harmonie herrschte, die Preise gar nicht so wichtig, wie man glauben könnte. Angeblich hatten sie vor der Ergebnisverkündung darüber abgestimmt, alle Preisgelder in einen Topf zu werfen und zu gleichen Teilen unter den 14 aufzuteilen. Der Vorschlag soll an nur zwei Gegenstimmen gescheitert sein.
Aber auch unabhängig von dieser Harmonie, die wir Außenstehende höchstens indirekt mitbekommen konnten, hat der Bachmann-Wettbewerb mir in diesem Jahr insgesamt sehr gut gefallen. Es ist immer sehr leicht, am Ende einer solchen Veranstaltung von oben herab zu kritisieren, wie langweilig und rückständig dieses vermeintliche Relikt aus den Siebziger Jahren doch angeblich ist und sich Sigrid Löffler mit ihrem Urteil vom „würdelosen Wettlesen“ anzuschließen. Für eine solche Kritik muss man sich nicht einmal mit der Literatur beschäftigen. In Sophie Passmanns gefühlt sehr langem Artikel in der ZEIT geht es zum Beispiel um die angeblich so langweilige Studioeinrichtung, die prekären Verhältnisse im Literaturbetrieb, die „ausgeblichenen Perserteppiche“ unter der Lesebühne, die Anglerhose, die Clemens Bruno Gatzmaga in seinem Vorstellungsvideo trägt und auch sonst noch um so ziemlich alles, nur eben mit keinem einzigen Wort um die vierzehn Texte, die hier zu hören waren.
Nicht alle Texte haben mir gefallen. Manche hätte ich mir unter anderen Umständen nicht zu Ende angehört. Aber insgesamt hat die Jury eine gute Auswahl auf die Bühne geholt. Frau Passmann hat etwas versäumt. In der ORF-Mediathek kann sie sich ja vielleicht wenigstens nochmal ein oder zwei Texte anhören, wenn Sie sich von Ihrem Entsetzen über die Ästhetik des Bühnenbildes wieder erholt hat. Ich habe als Zuschauer immerhin Lust bekommen, diese vierzehn Autorinnen und Autoren weiter im Auge zu behalten. Wenn das allein – jenseits von allen gesellschaftspolitischen Zeichen und literaturtheoretischen Richtungsentscheidungen – schon das Ziel dieses Wettbewerbs wäre, dann hätte er es erreicht.
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