Die Welt aus der Sicht eines Idioten | „Serotonin“ von Michel Houellebecq

Im Jahr 2008 gab Michel Houellebecq mit einer Mischung aus Selbstkritik und Koketterie in seinem Briefwechsel mit Bernard-Henri Levy die folgende Selbstbeschreibung:

„Als stilloser Autor platter Bücher bin ich nur durch eine Reihe geschmacklicher Fehlurteile zu literarischer Berühmtheit gelangt, die verwirrte Kritiker vor einigen Jahren abgegeben haben. Glücklicherweise ist man meiner kurzatmigen Provokationen seither überdrüssig geworden.“

Der zweite dieser beiden Sätze ist heute nicht mehr wahr. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung bezeichnete Julia Encke Hoellebecq vor kurzem als den „umwerfendsten Schriftsteller unserer Gegenwart“. Wer noch nicht wusste, dass man das Wort „umwerfend“ noch steigern kann, weiß vielleicht auch noch nichts von Hoellebecqs bisher letztem Roman, „Serotonin“.

Der Protagonist und Erzähler dieses Buches heißt Florent und ist ein aus Frankreich stammender Kettenraucher mittleren Alters. Ohne einen bestimmten Grund vollzieht er schrittweise den Ausstieg aus seinem geregelten Leben, indem er erst seine teilnahmslose japanische Freundin ohne jede Ankündigung verlässt, dann seinen soliden Job im Landwirtschaftsministerium aufgibt und sich in einem Hotel einmietet, um dort auf unbestimmte Zeit den seiner Einschätzung nach nur noch sehr kurzen Rest seines Lebens zu verbringen, indem er immer wieder in den selben Cafés sitzt, sich vor dem Fernseher betrinkt und seine Ersparnisse für Hummus und Calvados aufbraucht. Es wird erwähnt, dass Florent ein Antidepressivum namens Captorix nimmt, das ihn inzwischen seine Libido gekostet hat und möglicherweise für seine selbstzerstörerischen Entscheidungen mitverantwortlich ist. Im Verlauf seines sorgfältig geplanten und emotionslosen Abstiegs, der zielstrebig auf einen Selbstmord zusteuert, erinnert er sich an die Liebesbeziehungen seiner Vergangenheit.

Altbekannter Abstieg

Diese Handlung erinnert stark an Hoellebecqs ersten Roman, „Ausweitung der Kampfzone“, in dem ebenfalls ein mittelalter Kettenraucher aus heiterem Himmel beschließt, aus seinem Leben auszusteigen, seinen Beruf als Informatiker aufzugeben und sich auf den Weg eines kontrollierten, bewussten und scheinbar unaufhaltsamen Abstiegs zu begeben. Sogar das Motiv eines vollkommen sinnlosen Mordversuchs an einer unbeteiligten Person kommt in „Serotonin“ wieder vor. Diese auffälligen Wiederholungen lassen ahnen, dass die jeweiligen Protagonisten der zwanzig Jahre auseinanderliegenden Romane vielleicht einiges gemeinsam haben mit dem französischen Kettenraucher mittleren Alters, dem ehemaligen Informatiker und ehemaligen Mitarbeiter des Landwirtschaftsministeriums, der diese beiden Bücher geschrieben hat – aber dazu später etwas mehr.

„Serotonin“ könnte als Roman vielleicht funktionieren, wenn sein Erzähler Florent nicht ausgerechnet genau die Person wäre, die man auf keinen Fall kennenlernen will. Der Roman beginnt mit einem Anfall von Selbstmitleid, weil sich sein Vorname angeblich „schwul anhört“. Alle in der Erzählung auftretenden Frauen werden auf ihre sexuellen Attribute und Aktivitäten reduziert. Geschlechtsteile und Sexualakte werden bei ihren unschönsten Namen genannt und in aufdringlicher Weise bis ins letzte, unappetitliche Detail beschrieben. Über mehrere seiner Ex-Freundinnen behauptet Florent, sie würden wahrscheinlich gute Prostituierte abgeben, weil sie verschiedene Techniken so gut beherrschten. Jeder Anflug von Gefühl und Romantik in seinen Erinnerungen an die vergangenen Beziehung neutralisiert er sofort wieder durch die zwanghafte Erwähnung sexueller Details.

Ansichten eines Langweilers

Das alles wäre vielleicht noch zu verschmerzen, wenn dieser Florent nicht gleichzeitig ein langweiliger Schwätzer wäre, und der Roman nicht aus seinem langweiligen Geschwätz bestehen würde. Stilistisch und inhaltlich ist er ein hoffnungsloser Technokrat und seine Lieblingsthemen sind die langweiligsten der Welt: Die historische Entwicklung des spanischen Massentourismus seit Franco, die Vorzüge von gehobenen Hotels, die Situation der Aprikosenbauern, die Landwirtschaftsrichtlinien der Europäischen Union, das französische Fernsehprogramm. Das sind die Themen, mit denen Florent seine Mitmenschen und den Leser volltextet, wenn er nicht gerade widerliche Lustspiele seiner japanischen Freundin mit verschiedenen Hunderassen beschreibt, oder sich angesichts eines Videos, das er auf dem Laptop eines Pädophilen findet, nicht über den dort gezeigten Missbrauch einer Minderjährigen sondern über die amateurhafte Kameraführung beklagt. Leider kann es sich der perverse Schwätzer Florent gegen Ende des Romans auch nicht verkneifen, ein paar Ansichten über Thomas Mann und Marcel Proust loszuwerden, denen ausgerechnet er vorwirft, in ihrem Schreiben triebgesteuert gewesen zu sein.

„Serotonin“ ist nicht nur ein langweiliges sondern an vielen Stellen auch ein schlampig geschriebenes Buch mit ungeschickt wiederholten Formulierungen, Ungereimtheiten und Detailfehlern. Zum Beispiel gibt es eine Szene, in der Florent und ein Studienfreund zusammen das Pink-Floyd-Album „Ummagumma“ auflegen. Dieser Freund ist nach seinem Studium Landwirt geworden und hält Milchkühe. Als er die Schallplatte aus der Hülle herausnimmt, sagt Florent, das sei sehr passend, denn es sei ja das Album mit der Kuh. Natürlich kann es sein, dass dem bekennenden Pink-Floyd-Fan Houellebecq bewusst war, dass das Album mit der Kuh auf dem Cover nicht „Ummagumma“ sondern „Atom Heart Mother“ heißt, und er diesen Fehler nur eingebaut hat, um Leute wie mich zu Weißglut zu treiben.

Dasselbe gilt für eine andere Stelle, an der Florent eine Ex-Freundin erwähnt, von der er ein paar Seiten vorher schon erzählt hatte, und an deren Namen er sich plötzlich nicht mehr erinnert. Der aufmerksame Leser werde schon wissen, von welcher Freundin die Rede sei, schreibt er an dieser Stelle. Vielleicht ist auch das nur ein Witz, aber noch wahrscheinlicher erscheint es, dass Houellebecq tatsächlich keine Lust hatte, im eigenen Manuskript zurückzublättern und den Namen dieser Nebenfigur nachzuschlagen. Insgesamt vermittelt der gesamte Roman den Eindruck, einfach in einem Rutsch heruntergeschrieben worden zu sein.

An manchen Stellen schimmern zwei Möglichkeiten hindurch, was dieses gescheiterte Buch hätte werden können. Das eine wäre ein Buch über die Liebe. Das ist ein Thema, über das Florent oder Houellebecq offenbar doch etwas mehr zu sagen haben, als nur hohles Geschwätz über Porno und Proust. Wenn Florent die Beziehung seiner Eltern oder auch das kurze, glückliche Zusammenleben mit seiner Ex-Freundin Camille beschreibt, gelingen ihm tatsächlich ein paar wirklich schöne Abschnitte. Das andere große Thema, dem der Roman gewidmet sein könnte, wird manchmal als „Krise der Männlichkeit“ bezeichnet. Florent lebt in ständiger Angst, nicht männlich genug zu sein und versagt in jeder Probe, die er sich in dieser Hinsicht selbst auferlegt.

Hummer und Hormone

Vielleicht ist es im Hinblick auf dieses Thema kein Zufall, dass Houellebecqs Roman nur ein Jahr nach Jordan Petersons Bestseller „12 Rules for Life“ erschien, in dem die Substanz Serotonin, die Florent in Form seines Antidepressivums einnimmt, ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. Peterson erklärt im ersten Kapitel seines vielleicht überwiegend an männliche Leser adressierten Ratgebers, dass dieses Hormon im Gehirn das Selbstbewusstsein und eine positive Selbstwahrnehmung unterstützen kann und bei manchen Organismen eine wichtige Rolle zur Bildung einer sozialen Hierarchie spielt, wie man in Studien an Hummern herausfinden konnte. Ein Hummer, der gerade einen Revierkampf gewonnen hat, genießt eine erhöhte Ausschüttung dieses körpereigenen Hormons, und wird dadurch selbstbewusster und aggressiver, während der Körper des unterlegenen Hummer das Hormon nicht ausschüttet und er sich demzufolge deprimiert zurückzieht. Serotonin ist laut diesem Beispiel der Mediator einer typisch männlichen Dominanzhierarchie, die Peterson auf diese Weise als biologisch vorgegeben und fest in der Evolution verankert darstellt. Peterson verbindet damit den an seine Leser gerichteten Apell, diese Hierarchien nicht zu verteufeln, sondern sich ihren Herausforderungen so gut es geht zu stellen. Florent befindet sich mitten in diesem von Peterson vorgegebenen Koordinatensystem und ist das abschreckende Gegenbeispiel. Er ist Houellebecqs Version des den Schwanz einziehenden und allen Auseinandersetzungen aus dem Weg gehenden, unterlegenen Hummers, der durch eine Verstimmung der Gefühle und Hormone in die Abwärtsspirale gerät.

Wie gesagt macht Houellebecq es dem Leser schwer, Mitleid mit seinem Protagonisten zu entwickeln, denn die meiste Zeit zeigt sich Florent als gefühlskalter, perverser, geschwätziger, sexistischer und sich selbst bemitleidender Idiot. Man kann sich fragen, aus welchem Grund Houellebecq seinen Erzähler so unerträglich gestaltet und dafür den gesamten Roman aufs Spiel setzt. Eine Antwort dafür findet sich wiederum in seinem Briefwechsel mit Levy. Hier schreibt er:

Beharrlich und verbissen suche ich danach, was ich Schlechtes an mir haben könnte, um es dann dem Publikum ganz aufgeregt vor die Füße zu legen – so wie ein Terrier seinem Herrchen einen Hasen oder einen Pantoffel vor die Füße legt. Ich tue das nicht, um irgendeine Form von Erlösung zu erfahren; allein die Vorstellung ist mir fremd. Ich möchte nicht trotz des Schlechten an mir geliebt werden, sondern aufgrund dieses Schlechten. Ich gehe sogar so weit, mir zu wünschen, dass das, was ich Schlechtes an mir habe, genau das ist, was man an mir mag.

Wie schon der Protagonist von „Ausweitung der Kampfzone“ ist Florent nun also wohl eine weitere Inkarnation von Houellebeqc selbst und allem Schlechten, für das wir ihn lieben sollen. Auch wenn Houellebeqc nicht als Provokateur gesehen werden will, ist er doch genau das, wenn er durch diese rücksichtslose Zurschaustellung seiner inneren Schattenseiten das Entsetzen und gleichzeitig die Bestätigung seines Publikums hervorrufen will.

Wie man mit all diesen hässlichen Pantoffeln auch umgehen mag, die der Terrier uns hier vor die Füße geworfen hat, so hat er doch eine Sünde begangen, für die er nicht geliebt werden kann: Er hat bei dieser ganzen Aportier-Übung vor allem ein schlechtes Buch geschrieben, um nicht zu sagen einen Roman von umwerfendster Langeweile.



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7 Gedanken zu “Die Welt aus der Sicht eines Idioten | „Serotonin“ von Michel Houellebecq

  1. Unwahrscheinlich, dass ich in einer Buchhandlung jemals nach einem Buch mit dem Titel „Serotonin“ gegriffen hätte, … Ist das nicht auch in Schokolade enthalten, oder war das ein anderes Glückszeug? – Jedenfalls danke für die fundierte Warnung. Ich bleibe dann bei Schokolade.

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    1. Aha, danke für die Information! Das wusste ich nicht, dass Serotonin auch in der Schokolade ist, aber es stimmt wohl. Anscheinend muss man sehr viel Schokolade essen bevor es wirkt, aber das soll ja nicht das Problem sein.

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  3. Pingback: Nach dem Weltuntergang | „Die Straße“ von Cormac McCarthy – Anton Weyrothers Literaturbetrieb

  4. Oooch…

    Marcel Proust und Thomas Mann, um auf mein Thema zurückzukommen, mochten die Kultur der Welt beherrschen, sie mochten (in diesem eindrucksvollen frühen 20. Jahrhundert, das eigenhändig acht Jahrhunderte, ja sogar etwas mehr, europäischer Kultur zusammenfasste) an der Spitze des gesamten Wissens und der gesamten Intelligenz der Welt stehen, sie mochten jeder für sich den Gipfel der französischen und der deutschen Zivilisation und damit der strahlendsten, stärksten und höchstentwickeltsten Zivilisation ihrer Zeit bilden, und doch unterlagen sie der Gnade und unterwarfen sich jedweder feuchten jungen Muschi oder jedwedem beherzt aufgestellten jungen Schwanz – je nach ihren persönlichen Präferenzen, Thomas Mann blieb in dieser Hinsicht unbestimmbar, und Proust wurde im Grunde auch nicht sehr deutlich. Das Ende vom Zauberberg war somit noch trauriger, als der Beginn der Lektüre vermuten ließ: Es brachte durch den Ausbruch eines abenso absurden wie mörderischen Krieges zwischen den beiden größten Zivilisationen der Zeit im Jahr 1914 nicht nur das Scheitern des gesamten Gedankens der europäischen Kultur zum Ausdruck; es stand durch den endgültigen Sieg der tierischen Anziehungskraft sogar für das endgültige Ende der gesamten Zivilisation, der gesamten Kultur. Eine heiße Mieze hätte Thomas Mann so richtig aufgeilen können; Marcel Proust wäre auf Rihanna steil gegangen; diese beiden Schriftsteller, die Glanzlichter ihrer jeweiligen Literaturen, waren, anders ausgedrückt, keine ehrenwerten Männer, und man muss um einiges weiter zurückgehen, wahrscheinlich bis ins frühe 19. Jahrhundert, in die Zeit der aufkeimenden Romantik, um gesündere und reinere Luft zu atmen.

    Das mit dem „Ornithologen“ war auch sehr lostig. Mußte dazu herzhaft-dreckig in mich reingrinsen. Jedoch nachhaltig verstörend, wie sich Laurent ausmalt, daß der „Ornithologe“ in einem lateinamerikanischen Knast zuschanden gevögelt sein Leben verröchelt, während ihm das Ungeziefer in den geweiteten After krabbelt.

    Btw.: Grad‘ warnen die corona-psychotischen Headlines vor der Mu- Variante – als nächstes dann all bound for MUMU-Land?

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  5. Berthold

    An den Autor hier: Was ist besser -Arroganz oder Idiotie?
    —-
    Mitten im Strudel des genderisierten, globalisierten Wahnsinns.
    Rezension aus Deutschland vom 6. Januar 2019 auf amazon:
    „Wer heute die Sinnleere unserer Konsumhölle und den genderisierten, multikulturellen Wahnsinn nicht mehr aushalten kann, auch die irrwitzigen Folgen der Globalisierung und die religiöse Inbrunst der Männer aus dem Orient, liegt mit diesem Buch mitten in den triefenden, langsam trocknenden Fettflecken unserer Gesellschaft. Was wird aus weißen, alten Männern, die diesen Irrsinn erkennen und wie wäre der Alltag noch einigermaßen auszuhalten? Wird man nicht notwendigerweise schizophren und hat im Grunde nur noch einen Ausweg?
    Schon der Einstieg ein Wortfeuerwerk: Wir sind mit einer simplen Morgenszene mitten um den Ich-Erzähler, er heißt Florent-Claude, 40 something. Großartig, wie er die Notwendigkeit von Kaffee und Zigaretten beschreibt, ein Höhepunkt gleich am Anfang, seine Einstellung zum Leben, um dann in der zweiten Szene zwei jungen, hübschen Frauen beim Reifendruck zu helfen. Auch hier die Fähigkeit, Alltag in großartige Sätze zu verdichten, ihn für den Frust und die Leiden der weißen, schon etwas älteren Männer zu erhellen. Florent-Claude, er hasst diesen schwulen Namen, geschenkt von liebevollen Eltern, die ein Leben lang in symbolischer Liebe zusammen blieben.
    Kurz, ich habe rasch Feuer gefangen, ein Roman, der sich schnell für die Hauptperson öffnet, ein Feuerwerk an Einsichten, Einsamkeit, Hoffnung, Depression, Spannung, Handlung und unerwarteten Wendungen. Weit abseits der deutschen Alpenprawda und allen anderen bekannten Märchenerzählern aus Hamburg wird hier kunstvoll überhöht die tatsächliche Realität abgebildet. Wir blicken in die Seele eines weißen, alten Mannes, der von einer Vergangenheit halluziniert, die noch von harten Kerlen und schönen Frauen gefüllt war.
    Die Männer heute werden verlassen, schuften bis zum Umfallen, fernab jener Liebe, die in diesem Buch als eine wilde Einheit zwischen Mann und Frau gefeiert wird, ein grandioses Panoptikum der Lust. Alles aber nur als Abglanz des Gestern, in der aktuellen Gegenwart ist Florent, so hört er andere am liebsten nach sich rufen, nicht mal in der Lage, einem Vogel das Licht auszublasen. „…ich war eindeutig nur ein Weichei, ein trauriges und unbedeutendes Weichei, das obendrein auch noch alt wurde.“
    Die aktuelle Abstraktion, für die sich Ideologen aller Couleur ins Zeug legen, von ihr das Heil der Menschheit erwarten, heißt Handelsfreiheit, Freihandel, grenzenloser Waren- und Menschenverkehr, mithin Globalisierung auf Teufel komm raus. Das erfahren wir von Florent, der lange für das Landwirtschaftsministerium arbeitete, er solidarisiert sich mit den Bauern der Normandie, die beginnen, angeführt von einem Studienfreund, die aus dem Ausland kommende Milch mit Barrieren für die LKWs aufzuhalten, die diese Milch nach Frankreich rein-fahren sollen.
    Depression hat keine Logik, sie hofft, springt, hüpft und phantasiert. An Florent ziehen viele Ereignisse und aktuelle Hoffnungen vorbei, aber er kapituliert vor der Realität, er legt sich schließlich auf einen Platz zurück, wie ein Tier, das sterben will. Umnebelt von Serotonin dämmert er vor sich hin, einige helle Stellen seines Daseins noch reflektierend, einsam ohne Ende, das Los einer Gesellschaft, die den grassierenden Wahnsinn lebt.
    Insgesamt harter Tobak, der jene wohl nicht erreichen wird, die ihn nötig hätten, die europäischen Marionettenmedien in ihrem schönen Traum von einer glücklichen Welt und grenzenlosen Möglichkeiten. Ihr Konzept hat Franz Werfel für die deutschen Streiter des Endsieges ihres paradiesischen Traums in seinem 1946 veröffentlichten Roman „Stern des Ungeborenen“ treffend projiziert: „Zwischen Weltkrieg II und Weltkrieg III drängten sich die Deutschen an die Spitze der Humanität und Allgüte. Und sie nahmen das, was sie unter Humanität und Güte verstanden, äußerst ernst. Sie hatten doch seit Jahrhunderten danach gelechzt, beliebt zu sein. Und Humanität schien ihnen jetzt der bessere Weg zu diesem Ziel. Sie fanden diesen Weg sogar weit bequemer als Heroismus und Rassenwahn. So wurden die Deutschen die Erfinder der Ethik der selbstlosen Zudringlichkeit.“
    Eine direkte Speerspitze gegen Deutschland schießt Florent mit seiner Umschreibung des deutschen Denkmals schlechthin, gegen Goethe ab, er ist für ihn einer der grauenvollsten Schwafler der Weltliteratur. Von Schwaflern ist keine Revolution zu erwarten, sehr wohl aber von Franzosen, deren Bauern in der Normandie zur Tat schreiten. Nimmt man den schwarzen Umschlag des Buches ab, öffnet sich ein strahlend gelber Einband, ein Zeichen der Hellsichtigkeit von Michel Houellebecq, ein Hoffnungsschimmern?“

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