Nach ihrem im Jahr 2018 veröffentlichten Essay „Haltung“ ist zwei Jahre später nun „Frausein“ das zweite Buch in relativ kurzer Zeit, in dem Mely Kiyak gesellschaftliche Themen und persönliche Erfahrungen mit einander verbindet. In „Haltung“ ging es um die hilflose Reaktion deutscher Medien auf den neu aufblühenden Rechtsextremismus. Enttäuscht von der eigenen Branche, die den Rechten außer heuchlerischen Bekenntnissen nicht viel entgegensetzte, schrieb die Journalistin Kiyak hier über ihren eigenen inneren Konflikt zwischen aktiven und passiven Handlungsoptionen im Umgang mit dem deutschen Rechtsruck.
In „Frausein“ sind das Aufwachsen in einer Gastarbeiter-Familie und der Weg zu einem eigenständigen, weiblichen Lebensentwurf die zentralen Themen, zu denen Mely Kiyak durch das Erzählen persönlicher Erlebnisse ihren Standpunkt entwickelt. Beginnend mit Erinnerungen an ihre Kindheit schreitet sie in Anekdoten und Episoden in Richtung Gegenwart fort und erzählt so eine fragmentarische Autobiographie.
Der Vater arbeitete im Schichtbetrieb, die Mutter war Putzfrau, und die Familie identifizierte sich wie viele andere mit der prekären Situation, die Günther Wallraff damals in seinem Buch „Ganz unten“ zusammengefasst hatte. Für Kiyak zeigt Wallraffs Buch in doppelter Hinsicht die gesellschaftliche Außenseiterrolle der Gastarbeiter, weil es nicht von einem von ihnen geschrieben war. Es musste erst der deutsche Wallraff kommen und sich als einer von ihnen verkleiden, um herauszufinden, wie es um ihre Arbeits- und Lebensbedingungen bestellt war. Eine eigene öffentliche Stimme fehlte damals noch. In „Frausein“ ist sehr deutlich spürbar, dass Mely Kiyak sich selbst berufen fühlt, als die erste in ihrer Familie, die Abitur machen, studieren, und schließlich erfolgreich schreiben konnte, diesem Missstand nachträglich und endgültig etwas entgegen zu setzen, und das eigene Leben nicht von anderen erzählen zu lassen, sondern die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
Darin verbinden sich heute zwei Ziele, nämlich einerseits Kiyaks eigener Wunsch zu schreiben und als unabhängige Autorin zu leben, und andererseits der gesellschaftliche Aufstieg, den ihre Eltern sich für sie wünschten, heraus aus dem zermürbenden Arbeiterleben, dem sie selbst nicht entkommen konnten. Zunächst aber setzt diese Erwartung der Eltern die Schülerin und Studentin unter Druck, weil sie noch nicht weiß, in welche Richtung der Aufstieg durch Bildung sie führen soll. Als sie zum Studieren in eine andere Stadt zieht, ist es eine schwere Trennung für die Eltern und insgeheim, obwohl sie glaubt, sich von der Familie loslösen zu müssen, ist es auch schwer für sie selbst. Das Studium läuft zunächst schlecht. Die Literatur, mit der sie sich beschäftigen soll, wirkt fremd und kompliziert. Die Kommilitonen wissen immer schon alles im Voraus, weil sie die Bücher um die es geht entweder schon gelesen haben, oder sie haben durch belesene Verwandte wenigstens schon davon gehört. Im Vergleich mit ihnen ist Mely Kiyak durch ihre Herkunft im Nachteil. Sie schreibt darüber aber ohne Groll. Die Kommilitonen sind aus ihrer Sicht hilfsbereit. Trotzdem kann sie sich mit ihren geisteswissenschaftlichen Studienfächern nicht anfreunden und wechselt an das Deutsche Literaturinstitut Leipzig, um kreatives Schreiben zu lernen.
Das anfängliche Scheitern im Studium ist nicht die einzige Stelle, an der es Mely Kiyak gelingt, auch von einer schmerzhaften Situation ohne Verbitterung zu erzählen. Mitten im Winter, als sie gerade ihren Vater von einer Telefonzelle aus zu Hause anrufen will, wird sie von einem Mann in Bomberjacke brutal verprügelt. Der Mann lässt sie vor Schmerzen zusammengekrümmt auf der Straße liegen und betritt einfach selbst die Telefonzelle als sei nichts gewesen. Die Studentin liegt hilflos auf der Straße und sieht die Passanten unbeirrt vorbeilaufen. Endlich kommt ihre Mitbewohnerin, die sie noch kaum kennt, in Hausschuhen durch den Schnee zu Hilfe und trägt sie in die Wohnung. Aus dem schrecklichen Ereignis bleibt einerseits der Eindruck zurück, in dieser Gesellschaft nicht als gleichwertig und schützenswert zu gelten. Andererseits entsteht daraus die tiefe, persönliche Freundschaft mit der Mitbewohnerin.
Zu diesen ernsten Stellen mischen sich in „Frausein“ viele amüsante Episoden, zum Beispiel von der älteren Cousine, die während ihres Aufenthalts in der ländlichen Türkei ihre ersten erotischen Experimente mit einem Freund erlebt und den anderen Mädchen der Familie danach davon erzählt, die wiederum alles kritisch hinterfragen und kommentieren. Auch von der scharfzüngigen Großmutter, die in der Lage war, ganze Straßenzüge und Stadtviertel mit ihren gnadenlosen Schimpftiraden zu vernichten, entsteht ein lebendiges Bild. Es geht in diesem Buch eindeutig nicht um die Belehrung des Lesers, sondern um die Lust am Erzählen und an der Erinnerung. Das anekdotisch Erzählte ist persönlich und erhebt keinen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit, aber implizit bleibt davon trotzdem auch hier und da ein Hinweis auf das Allgemeine und ein kultureller Einblick.
An einer dieser Stellen beschreibt Mely Kiyak die Trauer ihrer Eltern um die verstorbenen Großeltern. Als der gutmütige, immer zufriedene Großvater stirbt, bricht für Kiyaks Vater eine Welt zusammen. Er trauert wochenlang still und intensiv. Dieser verborgenen Trauer des Vaters wird die spätere, öffentliche Trauer der Mutter um die Großmutter gegenübergestellt. Die Großmutter ist das von allen anerkannte Oberhaupt der Familie, von Kiyak selbst als Patriarchin bezeichnet, und ihre Beerdigung ist ein regionales Großereignis mit einer Schaar von Gästen und einem gigantischen Planungsaufwand. Auch in den Beziehungen zwischen den Frauen und Männern der Familie entdeckt Kiyak ein Ungleichgewicht. Es sind die Männer, die ihre Frauen verehren und sich für sie hingeben, und es sind die Frauen, deren Schönheit und Klugheit gepriesen wird und die im Familienbund eigentlich das Sagen haben.
Mely Kiyaks eigene Entwicklung zum Frausein vollzieht sich über Umwege. Es dauert lange, bis sie die körperliche Nähe ihres ersten Freundes zulassen kann. Von einem späteren Partner löst sie sich nach mehr als zehn Jahren aus einer gut funktionierenden Beziehung, um alleine zu leben. Im Alleinsein findet Kiyak ihre bevorzugte Lebensweise als erwachsene Frau und stellt sich damit gegen gängige Vorstellungen von geglückten Lebensentwürfen, wie sie nicht nur im deutschen Mainstream sondern auch in ihrer Familie vorherrschen. Selbst der Vater, der ihren Weg zur Schriftstellerin von Anfang an unterstützte, kann diese Entscheidung zunächst nicht verstehen. Der Weg zu dieser nicht mehr von Tradition und Gewohnheit bestimmten, sondern bewusst selbst gewählten Art zu leben findet parallel zu ihrer Emanzipation von der Rolle der Gastarbeitertochter statt, einer Herkunft, die sie zwar in ihrem Schreiben immer wieder aufgreift, durch die sie sich aber nicht definieren lassen will.
„Frausein“ ist mit seinem entspannten Tonfall und seiner leichten Erzählweise ein angenehm unaufgeregtes, unspektakuläres Buch, was angesichts der Themen, um die es sich dreht, bemerkenswert ist. Es unterscheidet sich erfrischend von den vielen Kolumnen und Bestsellern, in denen andere Autorinnen in den letzten Jahren mit viel Bitterkeit und Zynismus provoziert und zum Kampf aufgerufen haben. Auch in den ernsten Episoden, die von Ungleichheit, Benachteiligung und Gewalt handeln, spielt Kiyak nicht Deutsche gegen Migranten oder Frauen gegen Männer aus, sondern erzählt von Individuen. Dieses Erzählen macht die Gräben nicht tiefer, sondern verbindet. Wie schon in „Haltung“ gelingt Mely Kiyak auf diese Weise wieder eine umsichtige und klare Perspektive und ein sehr lesenswertes Buch mit viel Humor.
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