Wie Goethes berühmtestes Drama beginnt auch Wildes einziger Roman mit einem Dialog zwischen Gott und Teufel. Ersterer ist hier vertreten durch den Maler Basil Hallward, letzterer durch seinen alten Schulfreund Lord Henry Wotton. Hallward ist ein gutmütiger Schöpfer mal herausragender und mal mittelmäßiger Kunst und Lord Wotton ist ein zynischer, herablassender Dandy, der zu jedem erdenklichen Thema eine Reihe von pointierten und moralisch verwerflichen Meinungen hat, durch die er zu einem beliebten Gast in den Salons der höheren Gesellschaft Londons geworden ist.

Die beiden Freunde beraten sich über ihren Faust, den siebzehnjährigen Dorian Gray, dessen einzige persönliche Eigenschaft es zum Beginn der Geschichte ist, einfach umwerfend gut auszusehen. Der Maler Hallward, der sich durch die Schönheit des jungen Mannes nicht nur künstlerisch inspiriert fühlt und ihn in einem großformatigen Portrait verewigt, bittet Lord Wotton darum, Dorian nicht durch seinen Umgang und seine zweifelhaften Theorien zu verderben. Der Leser ahnt, dass der zynische Verführer Wotton diese Bitte nicht erhören wird.
In dieser parallelen Faust-Konstruktion, von der aus der Roman startet, liegt bereits seine Gesellschaftskritik: Früher, so könnte man sagen, haben Leute wie Faust auf dem klassischen Bildungsweg nach höherer Erkenntnis gestrebt. Der Faust der Gegenwart aber, also des verkommenen neunzehnten Jahrhunderts, strebt nur nach gesellschaftlicher Anerkennung, und das auf der Grundlage von Schönheit und Jugend. Dorian betritt in dieser Hinsicht noch als ein Unschuldiger die Bühne, aber Lord Wotton gelingt es gleich bei ihrer ersten Begegnung im Haus des Malers, ihm seine Schönheit und deren Wert erstmalig bewusst zu machen. Als Hallwards Portrait von ihm fertig wird, ist Dorian so von seinem eigenen Anblick fasziniert, dass er sich wünscht, für immer so jung und gutaussehend zu bleiben und einfach das Gemälde an seiner Stelle altern zu lassen. Der besondere Kniff des Romans, der sich damit einen Schritt weit ins Irreale hineinwagt, besteht darin, dass dieser Wunsch wahr wird – oder jedenfalls scheint es zunächst so. Auf Dorian Grays Abbild häufen sich mit der Zeit die Falten, während sein eigenes Aussehen über die Jahrzehnte unverändert bleibt.
Spuren der Verkommenheit
Das Gemälde übernimmt aber nicht nur Spuren des Alters für Dorian, sondern verändert sich auch mit jedem moralischen Fehltritt. Die erste dieser Sünden ist die grausame Abweisung einer jungen Schauspielerin. Ursprünglich war er es, der sich in sie verliebt hatte, aber als die junge Frau Dorians Liebe erwidert, wird ausgerechnet dadurch ihr Schauspiel so schlecht, dass der heranwachsende Snob das Interesse an ihr verliert und sie nach einem misslungenen Theaterabend brutal von sich stößt. Sie bringt sich noch in der selben Nacht um, was Dorian aber so kalt lässt, dass er am nächsten Tag schon wieder seinen Mentor Lord Wotton zu neuen gesellschaftlichen Ereignissen begleiten kann. Das Gemälde zeigt ihn von diesem Tag an mit einem höhnischen und grausamen Grinsen. Dank Wottons Einfluss nutzt Dorian seine Schönheit und Eleganz, um sich in der höheren Gesellschaft zu einem Trendsetter zu entwickeln und driftet gleichzeitig in das kriminelle Leben der Opiumhöhlen ab, in das er andere hemmungslos mit hineinzieht. Mit jedem seiner Opfer wird das Gemälde, das er inzwischen versteckt aufbewahrt, hässlicher und skurriler.
Der Roman schildert diesen Niedergang nicht im Detail, sondern macht nach der Episode mit der jungen Schauspielerin erst einmal einen weiten Zeitsprung, in dem all die unterschiedlichen Themen aufgezählt werden, mit denen sich Dorian Gray aus persönlichem Bildungsinteresse über zwei Jahrzehnte hinweg intensiv beschäftigt. Es handelt sich hier durchweg um sinnlose Dinge, wie zum Beispiel prunkvollen Schmuck und sonstige Wertgegenstände, die berühmte Könige, Päpste und Herzöge angehäuft haben. Der Roman besteht hier aus uferlos erscheinenden Aufzählungen dieser Kronen, Ketten und Diamanten, die Dorian Gray aus lauter Lust am Glanz früherer Jahrhunderte in irgendwelchen Büchern zusammengesucht hat. Oskar Wilde muss bewusst gewesen sein, dass es eigentlich nichts langweiligeres gibt, als eine endlose Liste. Die Recherche dieser sinnlosen Information in einer Zeit ohne Internet muss nicht nur seinen Dorian sondern ihn selbst einiges an Zeit gekostet haben. Immerhin sind diese Aufzählungen aber in ihrer Langatmigkeit geeignet, die Jahre im Leben des Dorian Gray zu überbrücken und als Leser fühlt man sich nach diesen Passagen mit ihm gealtert. Die andere Bedeutung hinter dieser Anhäufung von Oberflächlichkeiten und profanem Geglitzer ist wohl, dass Dorian Gray offenbar noch immer nur am schönen Schein hängt und sich auch mit zunehmendem Alter mit nichts beschäftigt, was einen tieferen Sinn hätte. Er bleibt also der Anti-Faust.
Das Schicksal der Antihelden
Der Roman basiert insgesamt auf einer guten Idee und einem funktionierenden Grundgerüst, hat aber mehrere Probleme, und eines davon ist eben jene Oberflächlichkeit und moralische Niedrigkeit seiner Hauptfigur. Die Figur Dorian leidet unter dem Schicksal des konstruierten Antihelden. Es ist nicht so schlimm wie beim hoffnungslos hasserfüllten Antisemiten und Mörder Simon Simonini in Umberto Ecos „Der Friedhof in Prag“, aber auch Dorian Gray ist wie Simonini durch seine spezielle Rolle, die er im Roman einnehmen muss, eigentlich zu dünn gestrickt für einen echten Protagonisten. Immerhin darf er zweifeln und mit seiner eigenen Schlechtigkeit hadern, was Simonini verwehrt war, aber seine Taten wirken unmotiviert und sein Charakter oberflächlich. Die herzlose Abweisung der jungen Schauspielerin beispielsweise kommt aus heiterem Himmel. Man mag sie dem schädlichen Einfluss des Lord Wotton zuschreiben, aber auch diese Einwirkungen seines Mephisto sind nicht immer plausibel und zwingend.
Die Figur Lord Wotton ist das andere Problem. Dieser galante, in den Londoner Salons ein und aus gehende Zyniker versprüht seine gewagten Theorien, zitierfähigen Bonmots und Paradoxa so unnachgiebig quer durch den Roman und erscheint trotz aller Verruchtheit so konsequent als einzige Figur mit Witz und Intelligenz, dass man hier eine nur halbwegs selbstkritische Verkörperung des Autors vermuten muss. Wilde untergräbt seine eigene Gesellschaftskritik, indem er den bösen Verführer Wotton zu seiner interessantesten Figur anwachsen lässt und hierin unterscheidet sich seine Konstruktion schließlich auch vom Vorbild des Faust-Dramas, in dem der Titelheld selbst noch interessant genug war, um sich von Mephisto nicht die Schau stehlen zu lassen.
Der zu gute Mephisto
Die zu starke Nebenfigur Lord Wotton erinnert eher an den Satan in Miltons „Paradise Lost“, der sich trotz seiner Gottesferne zur Hauptfigur des Textes emporarbeitet. Diese Dominanz der heimlichen Helden aus der Hölle wäre kein Problem, wenn es sich nicht sowohl bei Miltons Gedicht als auch bei Wildes Roman um Werke mit einer ausgemachten moralischen Botschaft handeln würde, die durch ihre glanzvolle Verkörperung des Teufels entkräftet wird. Es ist klar, dass Dorian Gray stellvertretend für die damalige versnobte Gesellschaft von der eigenen Eitelkeit und seiner von Wotton eingeimpften Fokussierung auf Schönheit und Jugend verdorben wird, aber gleichzeitig ist es genau dieser Einfluss Lord Wottons, ohne den die Konversation dieser Gesellschaft langweilig wäre – und vielleicht sogar auch der gesamte Roman. Das Böse und das Interessante sind in diesem Werk so eng mit einander verknüpft, dass man sich vor die Alternative gestellt sieht, auf Dorians Rettung zu hoffen oder stattdessen wenigstens gut unterhalten zu werden. Wotton und Wilde entscheiden sich für letzteres.
André Gide soll über Oskar Wilde gesagt haben, er habe „Das Bildnis des Dorian Gray“ nur geschrieben, um seinen Freunden zu beweisen, dass er außer Theaterstücken und kurzen Texten auch in der Lage ist, einen Roman zu schreiben. Vielleicht hätte Wilde aus seiner Idee tatsächlich besser eine kürzere Erzählung gemacht oder stattdessen seinem Dorian etwas mehr Tiefe gegeben. Statt des Zeitsprungs in der Mitte hätte der Abstieg dieser Figur einen viel größeren Raum einnehmen können, aber einiges deutet darauf hin, dass das Publikum für so viel soziale Realität noch nicht empfänglich war.
Man merkt beispielsweise den distanzierten und oberflächlichen Beschreibungen der Londoner Opiumhöhlen an, aus welcher Distanz die Leserschaft der Salons auf diesen anderen Teil der Gesellschaft herabgeblickt haben muss. Spätere Autoren hätten uns Dorians Drogenexzesse lebendig vor Augen führen können, aber für Wildes Leser war es anscheinend schon an der Grenze des Erträglichen, dass ein Sohn aus höherem Hause ein Etablissement im Hafenviertel überhaupt betritt, in dem sehr klischeehaft natürlich nur ganz furchtbar kaputte Gestalten anzutreffen sind. Die Erzählung darf über all das Schreckliche, das sich dort unten abspielt, nur dezent hinwegschweifen. So bleibt Dorians Abstieg etwas, das weitgehend nur behauptet aber nicht gezeigt wird und vielleicht nicht gezeigt werden konnte.
„Das Bildnis des Dorian Gray“ wurde über und für eine Gesellschaft geschrieben, die es heute nicht mehr gibt. Der Roman soll denselben Leuten, die er kritisiert, gleichzeitig gefallen und daraus ergeben sich seine Schwächen. Von diesen einmal abgesehen ist er dank seiner eleganten Bonmots, seiner Spannung zwischen Realität und Trugbild und seinem starken Ende trotz allem ein unterhaltsames Buch.
Titelbild: @fotografie_akd
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Eine sehr interessante Betrachtung. Besonders dem im vorletzten Absatz geschilderten Aspekt hatte ich noch nie genügend Aufmerksamkeit geschenkt. – Wer „Das Bildnis des Dorian Gray“ gelesen hat, vergisst diesen Roman nie. Leider kennen viele nur den Film. Dem Sujet bin ich kürzlich in der – wie ich glaube – Erstveröffentlichung eines Romans von Elisabeth de Waal wieder begegnet: Donnerstags bei Kanakis.
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