
Im dritten Jahrtausend vor Christus war die Stadt Uruk im Gebiet des heutigen Irak die vielleicht größte und erste Metropole der Welt. Mit einer Fläche von 5,5 Quadratkilometern wäre sie nach heutigen Maßstäben eher eine Kleinstadt, aber für antike Verhältnisse war das eine gigantische Siedlungsgröße, die von der Stadt Rom beispielsweise erst im zweiten Jahrhundert nach Christus erreicht wurde. Etwa um 2600 vor Christus wurde Uruk laut den sumerischen Königslisten von Gilgamesh regiert, dem berühmtesten Sohn der Stadt und dem Protagonisten des ältesten überlieferten Epos der Litearturgeschichte.
Das Gilgamesh-Epos hat eine lange und vertrackte Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte. Nachdem in den ersten Jahrhunderten nach dem mutmaßlichen, historischen König Gilgamesh die ersten Gedichte über ihn mündlich verbreitet wurden, entstanden um 2100 vor Christus eine Reihe von sogenannten sumerischen Kurzepen, in denen bereits die wesentlichen Handlungsstränge aus dem Leben des Gilgamesh zu finden sind. Diese wurden zur altbabylonischen Zeit, etwa um 1700 vor Christus, zu einer ersten Version des Epos zusammengefasst. Das Epos und auch die Kurzepen gehörten über Jahrhunderte hinweg zu einer Art Kanon der sumerischen und babylonischen Literatur und wurden in den Schreibschulen der kulturellen Zentren immer wieder kopiert und variiert. Um 1200 vor Christus entstand schließlich die erste Fassung des Epos, die einem Autor zugeordnet werden kann, einem gewissen Sin-leqe-unninni („Mondgott Sin, nimm mein Gebet an“). Diese sogenannte ninivitische Version, benannt nach ihrem Fundort, der Bibliothek des Assurbanipal in Ninive, gilt heute als das kanonische Gilgamesh-Epos.
Moderne Übersetzer des Epos stehen vor der Schwierigkeit, dass die in sumerischer Keilschrift beschriebenen Tontafeln aus Ninive stark beschädigt sind. Ein Fünftel des Textes ist nicht zu entziffern. Einige Lücken lassen sich durch Kopien derselben Version des Epos schließen, die inzwischen an anderen Orten gefunden wurden, aber es bleiben gewisse Leerstellen im Text, die sich nur dann ergänzen lassen, wenn man auch andere Versionen, wie die altbabylonische Fassung, mit einbezieht. Ob man diese Vermischung von Quellen betreiben will und welche Passagen der überlieferten Gilgamesh-Literatur man für diese Reparaturarbeiten heranzieht liegt im Ermessen der Übersetzer.
Raoul Schrott ergänzt in seiner im Jahr 2001 bei Carl Hanser und ab 2004 bei Fischer erschienenen Übersetzung mit Hilfe verschiedener Quellen und erreicht so eine gut lesbare und inhaltlich abgeschlossene Fassung. Zusammen mit seiner Übersetzung der ninivitischen Version und einigen von Historikern beigetragenen Begleittexten bietet Schrott aber im selben Band auch eine eigenständige Neu-Dichtung des Stoffes an und reiht sich somit in die lange Ahnengalerie der Gilgamesh-Schreiber ein. Schrotts eigene Fassung der Gilgamesh-Geschichte ist sprachlich modern, liest sich wie ein Bühnenstück und ist inhaltlich durch Teile der nicht im klassischen Epos vertretenen Gilgamesh-Literatur, insbesondere aus den Kurzepen, erweitert.
Die Kern-Handlung des ninivitischen Epos und der neuen Variante von Schrott ist aber dieselbe. König Gilgamesh, ein Mann von enormer Körperkraft, zu zwei Dritteln Gott und zu einem Drittel Mensch, regiert die Stadt Uruk in rücksichtsloser Weise. Männer wie Frauen werden von ihm willkürlich tyrannisiert. Die Götter sehen sich die Situation mit gewissen Bauchschmerzen an und ringen sich schließlich dazu durch, ihm einen Partner zu kreieren, der ihn zu Ruhe und Vernunft bringen soll. Sie erschaffen den Wilden Enkidu, der auf der Steppe unter Gazellen aufwächst und mit der gleichen übernatürlichen Statur und Kraft ausgestattet ist wie Gilgamesh. Zunächst kennen die beiden sich nicht, bis ein Jäger aus Uruk sich daran stört, dass Enkidu mit seiner Herde in seinem Revier herumstreift. Als er Gilgamesh davon erzählt, ordnet dieser an, den Wilden durch eine Prostituierte bändigen zu lassen. Eine Frau namens Shamhat übernimmt diesen Auftrag, verführt Enkidu und schläft so lange mit ihm, bis er zu einem zivilisierten Menschen geworden ist. Sie bringt ihn daraufhin nach Uruk, wo er Gilgamesh begegnet, der gerade wieder einmal im Begriff ist, sich bei einem Hochzeitspaar das Recht der ersten Nacht zu nehmen. Er verwickelt den tyrannischen König in einen Zweikampf, der unentschieden ausgeht und damit endet, dass Gilgamesh und Enkidu einander als gleich stark respektieren und sich anfreunden.
Als ein erstes gemeinsames Abenteuer dieser neuen Freundschaft schlägt Gilgamesh vor, den weit vor der Stadt liegenden Zedernwald aufzusuchen und dort den Dämon Humbaba zu töten. Gilgameshs Motiv für diese Unternehmung ist seine Sucht nach persönlichem Ruhm. Er glaubt, sich durch die Tötung des gefährlichen Dämons für die Ewigkeit einen Namen machen zu können. Enkidu rät ihm von der Sache ab, begleitet ihn dann aber doch. Nach einer beschwerlichen Reise erreichen sie den Zedernwald und es gelingt ihnen, den durch mehrere Auren von Licht geschützten Humbaba zu überlisten und zu töten. Mit seinem abgeschlagenen Kopf kehren sie als gefeierte Helden nach Uruk zurück.
Dank all diesem männlichen Heldenmut und Glanz wirft die Göttin Ishtar ein Auge auf den heimgekehrten König und will ihn zu ihrem Mann machen. Dieser lehnt dankend ab, mit einem Verweis darauf, wie schlecht die Göttin ihre bisherigen Gatten behandelt hat. Daraufhin läuft Ishtar wütend zu ihrem Vater Anu, dem höchsten aller Götter, und verlangt von ihm, als Rache für Gilgameshs Abweisung, den Stier aus dem gleichnamigen Sternbild auf die Erde herunter zu lassen, damit er dort schrecklichen Schaden anrichte. Anu ist von dieser Idee nicht begeistert, aber als Ishtar droht, anderenfalls die Toten aus der Unterwelt frei zu lassen, damit sie die Menschen fressen, entspricht er ihrem Wunsch und lässt den Stier los. Dieser reißt auf der Erde ein paar Gräben auf, wird aber bald von Gilgamesh und Enkidu getötet.
Die Götter sind nun der Meinung, dass das Treiben der beiden Helden zu weit geht, und sie beschließen, dass als Strafe für die Tötung Humbabas und des Stiers einer von beiden sterben muss. Enkidu erfährt durch einen Traum, dass er derjenige ist, der für die Heldentaten der beiden mit dem Leben bezahlen soll und tatsächlich stirbt er vor den Augen seines verzweifelten Freundes. Gilgamesh ist tief erschüttert. Der Tod Enkidus führt ihm die eigene Sterblichkeit vor Augen, und er macht sich auf den Weg, um diese zu besiegen. Nach einer langen Reise und der Begegnung mit Skorpionmenschen und einer Wirtin am Rande der Welt wird er von einem Fährmann über das alles umschließende Gewässer geschifft und landet am buchstäblichen Ende der Welt beim sagenhaften Ut-napishti, dem einzigen Menschen, der die Unsterblichkeit erlangte. Auf Gilgameshs Frage, wie ihm das gelang, erzählt Ut-napishti die Geschichte von der Sintflut, so wie sie aus dem Alten Testament bekannt ist. Auf Anweisung eines Gottes hatte Ut-napishti eine Arche gebaut und mit ihr zwei Tiere jeder Art und sich selbst vor der Sintflust gerettet, mit der die Götter die Menschen vernichten wollten. Als Lohn für sein Überleben der Katastrophe erhielt er von den Göttern die Unsterblichkeit, die er nicht an Gilgamesh weitergeben kann. Als Ersatz zeigt er ihm ein wundersames Kraut, durch das man wieder jung wird, aber auf dem Heimweg verliert Gilgamesh dieses an eine Schlange. Der König kehrt mit leeren Händen nach Uruk zurück. Was ihm bleibt ist der Ruhm seiner Taten und insbesondere seines schon ganz am Anfang des Epos erwähnten, größten Werkes: der Stadtmauer von Uruk.
Das Gilgamesh-Epos ist also eine Geschichte über den zivilisatorischen Fortschritt und seine Grenzen. Sowohl Gilgamesh als auch Enkidu machen zu Beginn des Epos mit Hilfe des jeweils anderen eine Entwicklung von der Wildheit zur Zivilisiertheit durch. Während Enkidu am Anfang tatsächlich ein Wilder ist und durch Gilgameshs Einfluss zum zivilisierten Menschen wird, ist Gilgamesh selbst, als Enkidus Gegenstück, bereits von Anfang an als König von Uruk im Zentrum der Zivilisation. Er regiert Uruk aber auf unzivilisierte Weise und muss in dieser Hinsicht von Enkidu gebändigt werden. Sowohl der Kampf gegen Humbaba als auch der gegen den Stier können als symbolische Akte der Zivilisierung gedeutet werden. Mit dem Tod Humbabas wird der dunkle und bisher unzugängliche Zedernwald erschlossen und die Tötung des Stiers kann, wie Raoul Schrott in seinem begleitenden Kommentar erklärt, mit der damals sich gerade vollziehenden Domestizierung des Rindes in Verbindung gebracht werden. Carl Jung hat die Tötung des Stiers als eine Überwindung der ungezügelten Libido gedeutet.
Das Epos Differenziert nicht nur verschiedene Formen der Zivilisierung, sondern auch der Todesangst, die ebenfalls im Zentrum der Geschichte steht. Wenn Gilgamesh und Enkidu losziehen, um Humbaba aufzusuchen, ist es erst Enkidu und dann Gilgamesh, der sich vor der sagenhaften Macht ihres Gegners fürchtet, und vom jeweils anderen Mut zugesprochen bekommt. Erst als Enkidu stirbt empfindet Gilgamesh, der gegen Humbaba noch ohne tiefgreifenden Grund sein Leben riskierte, zum ersten mal wirkliche Angst vor dem Tod. Es wird ihm plötzlich zur Notwendigkeit, den Tod zu besiegen, was der ultimative Schritt der Zivilisierung wäre, der endgültige Sieg über die Zwänge der Natur und somit über die Abhängigkeit von der Göttern. Die Götter aber haben an dieser Stelle schon genug gesehen und gönnen Gilgamesh keinen weiteren Erfolg mehr. Ut-napishti, der sagenhafte, vor-sintlutliche König, bleibt der einzige, dem die Gnade der Unsterblichkeit zuteil wird.
Eine der Richtungen, in die Raoul Schrotts Neu-Dichtung das Original erweitert und interpretiert betrifft die Rolle der Götter. Durch zusätzliche Szenen und ausgedehnte Dialoge in der Unterwelt und im Himmel betont Schrott, wie willkürlich und widersprüchlich der Wille der Götter ist. Erst ermutigen sie Gilgamesh und Enkidu zu ihren Heldentaten, dann bestrafen sie Enkidu dafür. Erst beschließen sie die Auslöschung der Menschheit und dann retten sie Ut-napishti. Und was Gilgamesh betrifft erkennen Sie zwar an, dass er zu zwei Dritteln einer von ihnen ist, aber sterblich muss er trotzdem bleiben. Wenigstens machen sie ihn in Schrotts Version nach seinem Tod zum Richter der Unterwelt, so wie es in den Kurzepen geschildert ist. Schrotts Neudichtung liest sich an einigen Stellen wie eine Satire oder ein Pamphlet gegen den alten mesopotamischen Götterglauben – als wolle er sagen, dass es einfach nicht wahr sein, wie dieser lächerliche, zerstrittene Haufen das Schicksal der Welt entscheidet.
Im Begleittext erwähnt Schrott auch den satirischen Charakter des Originals, insbesondere an der Stelle, an der Enkidu, als er weiß, dass er sterben muss, die Frau Shamhat, die ihn verführt und zum Menschen gemacht hat, erst derb für diese Tat verflucht – denn wenn er die Steppe nie verlassen hätte, müsste er nun nicht sterben – und sie aber sofort danach in den höchsten Tönen preist und ihr für alle Ewigkeit das Beste wünscht. Für mich stellt sich die Frage, ob Schrotts Interpretation darin zu weit geht, in diesem Stimmungswandel und in anderen Stellen eine satirische Absicht zu sehen. Können wir heute überhaupt noch damals vielleicht oder vielleicht auch nicht eingestreute Ironie erkennen, oder ist der gesamte Kontext dafür nicht viel zu weit weg? Der plötzliche Meinungsumschwung Enkidus über Shamhat ist aus heutiger Sicht bei weitem nicht das absurdeste, was man in diesem Epos liest. Wenn diese Stelle ironisch gemeint ist, könnte auch das gesamte Werk ein einziger großer Witz sein. Es fängt bereits auf der ersten der elf Tafeln damit an, dass Gilgameshs Statur als die eines Riesen beschrieben und auch die überproportionale Länge seines Gliedes dem Leser nicht vorenthalten wird. Ist das auch schon Ironie?
Nicht als Witz gemeint ist sicher die Angst vor dem Tod, mit der es Gilgamesh im letzten Drittel des Epos zu tun bekommt. Die Stelle, an der ihm seine Sterblichkeit bewusst wird, ist ein Schlüsselmoment, weil aus dem vormaligen Tyrann und oft irrational handelnden Zwei-Drittel-Gott hier endlich ein Mensch wird, den man zu verstehen glaubt. Aus der mythischen Heldengestalt wird hier ein tragischer Protagonist und aus dem Mythos wird ein Stück Literatur, das eines der universellen Probleme des Menschseins berührt und eine Verbindung zwischen Jahrtausende von einander entfernten Menschen herstellen kann.
Wie könnte ich schweigen? Wie könnte ich ruhig sein?
Mein freund, den ich so sehr liebte, ist zu lehm geworden,
mein freund Enkidu, den ich so sehr liebte, ist zu lehm geworden.
Wird es nicht auch mir so ergehen und werde auch ich mich nicht niederlegen,
um niemals wieder aufzustehen, für alle ewigkeit nicht?
Das Problem der Sterblichkeit und der Grenzen des Fortschritts gegen die Natur (beziehungsweise gegen die Götter) sind die ewigen Themen, die dem Gilgamesh Epos sein Gewicht geben. Stilistisch ist es mit seinen vielen Refrain-artigen Wiederholungen und seinem Wechsel zwischen Passagen mit sehr dichter Handlung, wie der Erzählung von der Sintflut, und langen, vollkommen ereignislosen Abschnitten, wie der detaillierten Auflistung sämtlicher Grabbeilagen für Enkidu, ein für den heutigen Leser natürlich ungewöhnlicher Text. Raoul Schrott glättet diese Unebenheiten und präsentiert eine etwas flüssiger zu lesende Version, die vielleicht auf einer Theaterbühne funktionieren könnte. Schrott gibt dem alten Stoff eine moderne Sprache und eine abgerundete Form. Aber die eigentliche Faszination des Epos geht dann doch wieder von der beigefügten Übersetzung des ninivitischen Originals aus. In diesem Text, dem man sein Alter anmerkt und der aus einer uns unbekannten Welt der Helden und Götter stammt, wirkt es umso stärker, wenn plötzlich die Gemeinsamkeit herausscheint und der weit entfernte Zwei-Drittel-Gott zum nahen Verwandten wird.
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