Der zweite Teil des Rätsels | „König Ödipus“ von Sophokles

Nach der Sage, die deutlich älter ist, als das berühmte Theaterstück, hatte Ödipus die Region um die Stadt Theben von der Herrschaft der tyrannischen Sphinx befreit. Dieses dämonische Mischwesen aus Frau und Löwe behelligte alle Vorbeikommenden mit einem Rätsel:

Was ist es, das mit einer Stimme begabt, bald vierbeinig, zweibeinig und dreibeinig wird?

Wer die Frage nicht beantworten konnte, wurde von dem Monster verschlungen. Ödipus war der erste, der erkannte, dass mit dem gesuchten Wesen der Mensch gemeint war, der je nach Lebensalter auf allen Vieren krabbelt, auf zwei Beinen geht oder sich als drittes Bein auf einen Stock stützt. Die Sphinx stürzte sich angesichts ihrer Niederlage in einen Abgrund und Theben war erst einmal gerettet. Da Thebens König Laios gerade ermordet worden war, wird Ödipus als Lohn für seine Heldentat zum neuen König gekrönt und zeugt mehrere Kinder mit Iokaste, der Witwe des Laios.

An dieser Stelle beginnt die Tragödie des Sophokles. Theben hat nun ein neues Problem. Die Stadt ist von einer furchtbaren Seuche und Hungersnot befallen. Das Orakel von Delphi gibt bekannt, dass man die Plagen nur loswerden könne, indem man den noch frei herumlaufenden Mörder des Laios ausfindig mache und aus der Stadt vertreibe. Ödipus nimmt sich der Sache an und verspricht seinen Bürgern, den Mörder zu finden und zu bestrafen. Weil es nur wenige Anhaltspunkte gibt, empfiehlt sein Schwager Kreon ihm, den blinden Seher Teiresias um einen Hinweis zu bitten. Teiresias hat die unangenehme Aufgabe Ödipus zu sagen, dass er selbst das Problem sei. Der König hält diese Weissagung für einen von Kreon geplanten Angriff gegen ihn. Er schickt den Seher wieder weg und will Kreon hinrichten lassen, was nur durch das Einschreiten von Iokaste verhindert werden kann.

Prozess gegen sich selbst

Bei Ödipus weiterer Suche nach dem Mörder kommt heraus, dass Laios einmal von einem Orakel prophezeit wurde, sein eigener Sohn würde ihn umbringen, woraufhin er seinen Sohn verstieß. Ödipus selbst hatte wiederum von einem Orakel erfahren, er werde seinen eigenen Vater ermorden. Um das zu verhindern, hatte er sich immer von dem Mann ferngehalten, den er für seinen Vater hielt. Auch was die direkten Umstände des Mordes betrifft, gibt es beunruhigende Parallelen. Laios wurde genau an der selben Weggabelung umgebracht, an der Ödipus einmal einen ihm unbekannten Mann im Streit erschlagen hatte. Trotz allem will Ödipus bis zuletzt nicht wahrhaben, dass er selbst der Mörder sein könnte. Erst als kein Zweifel mehr besteht, dass er der verstoßene Sohn und der Mörder des Laios ist, sticht er sich selbst aus Verzweiflung beide Augen aus und sorgt für seine Verbannung aus der Stadt.

Das Stück ist der Prototyp der Aristotelischen Theatertheorie. Es spielt an einem einzigen Ort, nämlich vor dem Palast des Ödipus, und die gezeigte und im Stück vergehende Zeit sind mit einander identisch. Das Publikum leidet mit dem tragischen Protagonisten und wird, genau wie die Stadt Theben, durch dessen Leid gereinigt. Die extreme Bündelung der Geschichte auf einen kurzen Zeitraum ist möglich, weil die Ereignisse um die es geht, insbesondere der Mord an Laios, schon vergangen sind, wenn das Stück beginnt. Die Handlung besteht in einer zähen und schmerzhaften Aufarbeitung und Offenlegung dieser tragischen Geschehnisse.

Ödipus und Adam

Es gibt eine Parallele zwischen Ödipus und dem biblischen Adam. Beide werden genau in dem Moment aus ihrem Reich verbannt, in dem sie sich selbst erkennen. Adam isst vom Baum der Erkenntnis und versteht plötzlich, dass er nackt ist und sich von Gott entfernt hat. Es ist der Schritt vom homo sapiens zum homo sapiens sapiens, vom Mensch, der nicht nur denkt, sondern weiß, dass er denkt und sich seiner selbst bewusst wird. Die Bewusstwerdung Adams ist die erste und auf alle späteren Menschen vererbte Sünde. Durch das Bewusstsein ist die Entfremdung von Gott erst möglich. Der unbewusste Mensch könnte noch im Paradies leben, aber der, der sich selbst erkannt hat, kann es nicht mehr.

Auch Ödipus muss sein Theben verlassen, weil er sich selbst erkannt hat. Im Gegensatz zu Adam, verlässt er aber kein Paradies, sondern eine kranke Stadt, die durch sein Fortgehen erst geheilt wird. Ödipus hätte nicht einfach im Unbewussten bleiben können. Um Theben zu retten, muss er sich selbst opfern und den schmerzhaften Schritt zur Bewusstwerdung gehen. Das Erkennen und die Sünde sind hier im Gegensatz zur biblischen Geschichte nicht mit einander identisch. Im Gegenteil besteht die Sünde des Ödipus, wenn man den Begriff hier verwenden kann, darin, dass er sich so lange über die eigene Herkunft und seine Taten im Unklaren war. Sein Verbrechen ist, dass die Erkenntnis viel zu spät kommt. Da er in der Illusion gelebt hat, der Sohn eines anderen zu sein, ist es ein Verbrechen ohne Schuld. Er hätte es, so wie die Götter sein Schicksal zurechtgelegt haben, vielleicht gar nicht früher herausfinden können und trotzdem ist die Tragödie eine Warnung und ein Appell. Es ist gewissermaßen ein Lehrstück zum berühmten Orakelspruch von Delphi: „Erkenne Dich selbst.“

Später Sieg der Sphinx

Im Zusammenhang mit der Episode um das Rätsel der Sphinx ist der gesamte Ödipus-Mythos ein Symbol dafür, wie schwer die Selbsterkenntnis sein kann, und wie leicht man Gefahr läuft, sich mit einer oberflächlichen Selbsterkenntnis zufrieden zu geben. Genau darum handelt es sich nämlich bei Ödipus‘ anfänglichem Triumph über die Sphinx. Ihr allzu einfaches Rätsel ist die Kindergarten-Variante von „Erkenne Dich selbst“. Dass Ödipus begreift, dass es sich bei dem rätselhaften Wesen mit vier, zwei und drei Beinen um den Menschen, also um ihn selbst handelt, ist ein zu leicht verdienter Erfolg. Es ist eine lächerlich oberflächliche Einsicht, die ihm noch lange nicht das sagt, was sein eigenes Schicksal bestimmen wird. Trotzdem gibt er sich mit diesem Sieg zufrieden und genau dadurch stürzt er in sein endgültiges Verderben, indem er die Nachfolge des Laios antritt und die Frau heiratet, die sich als seine eigene Mutter herausstellen wird. Es hätte Ödipus misstrauisch machen müssen, dass das Rätsel der Sphinx zu einfach war. Die Fragen, die ihn danach erst dazu bringen, tief in der eigenen Vergangenheit nachzubohren und seine Identität aufzudecken, sind der zweite Teil des Rätsels, und diesmal bedeutet die Auflösung nicht Triumph sondern Untergang. Die längst verschwundene Sphinx gewinnt am Ende doch noch.

Sophokles greift mit seiner im fünften Jahrhundert vor Christus entstandenen Tragödie wie gesagt einen Mythos auf, der deutlich älter ist und beispielsweise schon in der Odyssee erwähnt wird. Dort ist bereits die Rede vom Inzest und Vatermord des Königs, aber dass Ödipus seine Verbrechen erst im nachhinein nach einem schmerzlichen Prozess gegen sich selbst enthüllte, ist hier noch nicht das Thema. Dieser Aspekt und die Deutung des Ödipus-Stoffes als ein Drama der Selbsterkenntnis ist erst bei Sophokles herausgearbeitet. Mit dieser Fokussierung destilliert er aus dem alten Mythos einen der stärksten Stoffe der Weltliteratur und kreiert daraus eine perfekte Tragödie, die das Genre für Jahrtausende geprägt hat.


Ähnliche Beiträge:

Im freien Fall | „Michael Kohlhaas“ von Heinrich von Kleist

Die Erbsünde der Wissenschaft | „Leben des Galilei“ von Bertolt Brecht

Die Götter müssen verrückt sein | „Gilgamesh“ von Raoul Schrott


Folgen Sie mir auf Youtube!


3 Gedanken zu “Der zweite Teil des Rätsels | „König Ödipus“ von Sophokles

  1. Pingback: Die Erbsünde der Wissenschaft | „Leben des Galilei“ von Bertolt Brecht – Anton Weyrothers Literaturbetrieb

  2. Pingback: Heiliger Krieg | „Ilias“ von Homer – Anton Weyrothers Literaturbetrieb

  3. Pingback: Geld oder Leben | „Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt – Anton Weyrothers Literaturbetrieb

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s