Die Macht des Zauberers | „Strukturale Anthropologie“ von Claude Lévi-Strauss
Der berühmte Ethnologie Claude Lévi-Strauss ist im Jahr 2009 im Alter von 100 Jahren verstorben und der Suhrkamp-Verlag veröffentlichte etwas später unter dem Titel „Wir sind alle Kannibalen“ eine Sammlung von Texten aus seiner Spätphase. Lévi-Strauss war schon jenseits der 80 als er diese Essays verfasst hatte und die FAZ schrieb, „Wir sind alle Kannibalen“…
Neukölln-Buddenbrooks | „Hund Wolf Schakal“ von Behzad Karim Khani
Behzad Karim Khani war im Sommer 2022 für den Bachmannpreis nominiert und hat ihn nicht gewonnen. Jurymitglied Klaus Kastberger hatte sich daran gestört, dass die Hauptfigur gleich am Anfang des Textes jemanden brutal verprügelt und auch sonst eine Menge Testosteron mitbringt. Dieser für Herrn Kastberger etwas zu problematische junge Mann heißt Saam und ist nun…
Sich setzend | „Dies Ich, das viel besagt“ von Dieter Henrich
Johann Gottlieb Fichte ist zwar einer der bekannteren Namen der deutschen Philosophiegeschichte, aber weshalb genau man diesen Philosophen im Schatten von Kant und Hegel kennen sollte, ist anscheinend umstritten und manche würden ihn am liebsten ganz ignorieren. Zum Beispiel schreibt Bertrand Russell in seinem berühmten Bestseller „Philosophie des Abendlandes“: Kants unmittelbarer Nachfolger Fichte (1762-1814) verzichtete…
Spuren der Verdrängung | „Moses der Ägypter“ von Jan Assmann
Jan Assmanns Buch „Moses der Ägypter“ aus dem Jahr 1998 ist durch ein anderes berühmtes Buch über den alttestamentarischen Propheten inspiriert. Kurz vor seinem Tod im Jahr 1939 veröffentlichte Sigmund Freud als sein letztes Werk ein Buch mit dem Titel „Der Mann Moses“. Erstaunlicherweise widmete sich der bereits schwer kranke Freud also in seinen letzten…
Rache für Carsten Niebuhr | „Die Dame mit der bemalten Hand“ von Christine Wunnicke
Der Roman „Die Dame mit der bemalten Hand“ aus dem Jahr 2020 handelt von der Wahrheit, and davon, wie schwer die Suche nach ihr sein kann. Mitte des achtzehnten Jahrhunderts unternimmt der persische Astronom Musa al-Lahuri eine Geschäftsreise an der indischen Westküste, um eines seiner handgefertigten astronomischen Beobachtungsgeräte zu verkaufen. Auf der Heimreise strandet sein…
Die Grenzen der Welt | „Tractatus logico-philosophicus“ von Ludwig Wittgenstein
Das ambitionierte Projekt, das Ludwig Wittgenstein mit seinem berühmten „Tractatus logico-philosophicus“ aus dem Jahr 1921 verfolgt, ist die Entwicklung einer Sprache, die für die Beschreibung der Welt perfekt geeignet ist, weil sie keine Missverständnisse mehr zulässt. Wittgenstein war fest davon überzeugt, dass es sich bei den scheinbar unlösbaren großen philosophischen Problemen, einfach um sprachliche Missverständnisse…
Ungelogen und nicht wahr | „Bullshit“ und „Über die Wahrheit“ von Harry G. Frankfurt
Der berühmte Essay des Philosophen Harry G. Frankfurt über ein Phänomen namens Bullshit erschien in einer ersten Version schon 1986 in einer Fachzeitschrift und wurde dann im Jahr 2005 als gebundenes Buch zum Bestseller. Seitdem steht das kleine rote Buch mit dem auffälligen Titel „Bullshit“ auch im Philosophie-Regal jeder deutschen Buchhandlung. Diese Behauptung ist eigentlich…
Gesundheit oder Freiheit | „Corpus Delicti“ von Juli Zeh
Die Freiheit des Einzelnen gegen die Interessen der Allgemeinheit – das ist der Konflikt, um den es in Juli Zehs Roman „Corpus Delicti“ geht. Das Schlachtfeld, auf dem er stattfindet, ist ausgerechnet das Thema Gesundheit. Die Gesellschaft hat ein natürliches Interesse daran, dass ihre Mitglieder gesund und leistungsfähig sind, und in der Regel will man…
Bachmannpreis 2022 – eine Zusammenfassung
Texte über den Bachmannpreis beginnen normalerweise mit den Zitaten von Sigrid Löffler über das „würdelose Wettlesen“ im kaputten Klagenfurt und von Marcel Reich-Ranicki über die „Arbeitstagung“ und das „Fest der Literatur“, als das er den Wettbewerb 1977 bezeichnete. Manchmal wird auch noch die blutige Stirn von Rainald Goetz von 1983 erwähnt. Diese Pflichten sind damit…
Spät in der Epoche | „Das Ende der Illusionen“ von Andreas Reckwitz
Im Lauf der letzten Jahre haben manche Entwicklungen stattgefunden, die einem Angst vor der Zukunft machen können. Die Globalisierung hat die Monopolisierung und das Auseinanderdriften von Arm und Reich beschleunigt und es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis die nächste Finanzkrise vor der Tür steht. In vielen Regionen der Erde ist in…
Ums Verrecken nicht | „Tod eines Kritikers“ von Martin Walser
Nach seiner berüchtigten Dankesrede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels war das Erscheinen des Romans „Tod eines Kritikers“ kurz nach der Jahrtausendwende schon der zweite Auslöser einer öffentlichen Debatte um Martin Walser innerhalb weniger Jahre. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, der Suhrkamp Verlag und einige der bekanntesten Namen des sogenannten Literaturbetriebs waren an diesem Streit beteiligt, in…
Gedankenübertragung | „Ion“ von Platon
Unter Platons Dialogen führte der kurze Text „Ion“ lange ein Schattendasein. Wegen seiner angeblichen argumentativen Schwächen wurde er von manchen Experten für ein Jugendwerk des berühmten Philosophen und von anderen sogar nur für das Werk eines Platon-Schülers gehalten. Andere Interpretatoren, zu denen auch Goethe zählte, waren überzeugt, Platon könne diesen Text nur als Satire gemeint…
Stolz und Vorurteil | „Kanak Sprak“ von Feridun Zaimoglu
Im Vorwort seines 1995 erschienenen Buches beschreibt Feridun Zaimoglu, wie schwierig es war, mit türkischstämmigen jungen Männern am Rande der deutschen Gesellschaft in Kontakt zu treten. Es genügte nicht, dass auch er türkische Vorfahren hat. Als Studierter war er erst einmal suspekt und musste von einem Kontaktmann vorgestellt und in diese Gesellschaft eingeführt werden, bevor…
Flach über die Tiefe schreiben | „Catching the big fish“ von David Lynch
Paul McCartney hat einmal in einem Interview erzählt, die Melodie zum Song „Yesterday“ sei eines morgens beim Aufwachen einfach so in seinem Kopf gewesen. Er dachte zuerst, es sei eine Melodie, die er irgendwo einmal gehört habe. Er spielte sie John Lennon und ein paar anderen Freunden vor und nachdem niemand die Melodie erkannte, kam…
Vererbter Hass | „Der falsche Gruß“ von Maxim Biller
Der Anfang von Maxim Billers Roman „Der falsche Gruß“ erinnert an Paul Watzlawicks Geschichte von dem Mann, der sich bei seinem Nachbarn einen Hammer ausleihen will. Während er zur Nachbarwohnung herübergeht, redet der Mann sich ein, dass dieser unfreundliche Nachbar ihm den Hammer wahrscheinlich sowieso nicht ausleihen werde. Während er klingelt und vor der Tür…
Wirr und kaputt | „Johann Holtrop“ von Rainald Goetz
In seinem Roman „Johann Holtrop“ aus dem Jahr 2012 porträtiert Rainald Goetz einen bestimmten Typus von Führungspersonal im Wirtschaftsleben der sogenannten Nuller Jahre. Die Handlung durchläuft dieses erste Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts und dreht sich um den Spitzenmanager Johann Holtrop, den Vorstandsvorsitzenden der Assperg AG, eines großen, deutschen Konzerns im Medien- und Dienstleistungsbereich. Holtrop leidet…
Streng geheim und frei erfunden | „Verschwörungen“ von Umberto Eco
Umberto Eco ist im Februar 2016 verstorben. Wenn fünf Jahre später in seinem Namen ein Buch mit dem Titel „Verschwörungen“ auf dem deutschen Buchmarkt erscheint, fragt man sich erst einmal, wo das plötzlich herkommt. Hatte Eco ein Buch über dieses Thema geschrieben, das jetzt posthum erscheint? Der Klappentext des dünnen Buches verrät uns das noch…
Geld oder Leben | „Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt
Das eine Prozent der Reichen und die restlichen neunundneunzig Prozent leben in zwei verschiedenen Welten. So sieht es die Soziologie und so sah es die Occupy-Bewegung. Die Reichen haben sich vom Leben der Normalsterblichen abgekapselt, und zwar nicht nur durch die Villa, den Tesla und die Yacht. In Zeiten des Neoliberalismus, in denen alle Lebensbereiche…
Böse Biologie | „Testosterone“ von Carole Hooven
Es muss einen besonderen Grund haben, wenn ein Buch über Hormone im Internet eine Aufmerksamkeit erfährt, wie es für Carole Hoovens Sachbuch „Testosterone“ im Sommer 2021 der Fall war. Die Biologin und Harvard-Dozentin Hooven hat es mit diesem vermeintlich trockenen, wissenschaftlichen Thema immerhin in den Joe Rogan Podcast geschafft und im Netz für gewissen Aufruhr…
Kants vergessene Mitspieler | „Tiere wie wir“ von Christine M. Korsgaard
Die meisten Menschen die ich kenne sind sich einig, dass wir Tiere oft nicht gut behandeln. Die Grausamkeit von Tiertransporten und die Zustände in Legebatterien sind allgemein bekannt. Manche würden am liebsten die Massentierhaltung oder vielleicht sogar jede Tierhaltung ganz abschaffen, während andere so weit nicht gehen würden, aber dass sich an unserem Umgang mit…
Nach dem Weltuntergang | „Die Straße“ von Cormac McCarthy
Was bleibt übrig, wenn die Welt untergegangen ist? Cormac McCarthys Roman „Die Straße“ („The Road“) aus dem Jahr 2006 zeigt eine düstere, post-apokalyptische Welt. Die Vegetation ist tot, Tiere gibt es nicht mehr, Städte und Dörfer sind verwaist. Nur ein paar Menschen leben noch und sie sind vor einander auf der Flucht, denn die letzten…
Existenzielle Wohngemeinschaften | „Sphären I, Blasen“ von Peter Sloterdijk
Mit dem Begriff der Sphäre waren seit der Antike die Himmelsschalen verknüpft, von denen man dachte, dass sie die Erde einhüllen und dass an ihnen die Himmelskörper befestigt sind. Den wissenschaftlichen Fortschritt hin zu einer modernen Kosmologie verbildlicht Peter Sloterdijk am Anfang seines Buches als ein Durchbrechen dieser Himmelssphären. Der Mensch dringt mit seinem Wissen…
Heiliger Krieg | „Ilias“ von Homer
Homers Ilias ist einer der bedeutendsten Klassiker der europäischen Literaturgeschichte, und dabei ist es nur der Mittelteil einer Chronologie des Trojanischen Krieges, die ursprünglich aus drei Texten unterschiedlicher Autoren bestand. Der erste und der letzte Teil dieser monumentalen Trilogie sind verschollen, nur ihre Inhaltsverzeichnisse sind überliefert, und so bleibt die Ilias, die eigentlich nur ein…
Aufräumarbeiten im Diskurs | „Archäologie des Wissens“ von Michel Foucault
Die Geschichte der Ideen und insbesondere der Wissenschaften wird uns oft als eine klar in Kapitel unterteilbare Chronologie präsentiert. Anscheinend gibt es immer wieder lange Epochen mit nur sehr langsamen Fortschritten oder sogar Stagnation, bis einem großen Denker ein Durchbruch gelingt und alles wieder in Bewegung gerät. Einzelne Werke eines Newton, Darwin, Freud oder Einstein…
Der zweite Teil des Rätsels | „König Ödipus“ von Sophokles
Nach der Sage, die deutlich älter ist, als das berühmte Theaterstück, hatte Ödipus die Region um die Stadt Theben von der Herrschaft der tyrannischen Sphinx befreit. Dieses dämonische Mischwesen aus Frau und Löwe behelligte alle Vorbeikommenden mit einem Rätsel: Was ist es, das mit einer Stimme begabt, bald vierbeinig, zweibeinig und dreibeinig wird? Wer die…
Traulich und treu ist’s nur in der Tiefe | „Nullzeit“ von Juli Zeh
Sven, der Ich-Erzähler des Romans „Nullzeit“ ist leidenschaftlicher Taucher und hat irgendwann einmal ein Jurastudium abgeschlossen. Das sind aber schon die beiden einzigen Gemeinsamkeiten mit der Autorin des Romans. Denn im Gegensatz zur öffentlich sehr präsenten (manchmal vielleicht überpräsenten?) Juli Zeh, die neben ihrer literarischen, politischen und journalistischen Aktivität nicht nur eine Promotion abgeschlossen hat,…
Mother, should I build the wall? | „Symbole der Wandlung“ von Carl Jung
In seinem Buch „Symbole der Wandlung“ analysiert Carl Jung mythologische Stoffe und Symbole aus allen fünf Kontinenten und verschiedensten Epochen der Menschheitsgeschichte und arbeitet ihre Verbindungslinien zur menschlichen Psyche heraus. Der Ausgangspunkt des Buches ist die Traumdeutung von Jungs Freund und Lehrer Sigmund Freud, über die Jung mit diesem Werk weit hinausgeht. Zunächst stimmt Jung…
Die Erbsünde der Wissenschaft | „Leben des Galilei“ von Bertolt Brecht
Bertolt Brechts politisches Stück „Leben des Galilei“ handelt von der Wechselwirkung zwischen der Forschung und ihren politischen und wirtschaftlichen Zwängen und formuliert eine Antwort auf die Frage, wozu Wissenschaft überhaupt gut ist. Galileo Galilei unterrichtet Mathematik an der Universität in Padua und erforscht nebenbei in seinem heimischen Studierzimmer die Bewegung der Himmelskörper. Die venezianische Obrigkeit…
Unterwegs zu sich selbst | „Frausein“ von Mely Kiyak
Nach ihrem im Jahr 2018 veröffentlichten Essay „Haltung“ ist zwei Jahre später nun „Frausein“ das zweite Buch in relativ kurzer Zeit, in dem Mely Kiyak gesellschaftliche Themen und persönliche Erfahrungen mit einander verbindet. In „Haltung“ ging es um die hilflose Reaktion deutscher Medien auf den neu aufblühenden Rechtsextremismus. Enttäuscht von der eigenen Branche, die den…
Liste der aktiven deutschsprachigen Literaturzeitschriften
Die nachfolgende Liste verlinkt Literaturzeitschriften im deutschsprachigen Raum, die in den vergangenen Monaten aktiv waren. Insgesamt sind Literaturzeitschriften offenbar gerade in einer schwierigen Situation. Von einer Krise war schon vor fünfzehn Jahren die Rede (und vermutlich schon lange vorher), aber anscheinend hat sich die Lage inzwischen noch verschärft. Selbst nach einer kurzen Recherche stößt man…
Der blinde Fleck | „Geist und Kosmos“ von Thomas Nagel
Das große Ziel der Naturwissenschaften ist es, prinzipiell alles erklären zu können. Etwas erklären bedeutet in der Regel, es zurückzuführen auf etwas Einfacheres, das bereits erklärt ist, und es so in eine möglichst lückenlose Kette von Erklärungen einzubetten, die bis zu den elementarsten Wahrheiten hinunterreicht, die nicht weiter erklärt werden müssen oder können. Die komplexen…
An der schönen Oberfläche | „Das Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde
Wie Goethes berühmtestes Drama beginnt auch Wildes einziger Roman mit einem Dialog zwischen Gott und Teufel. Ersterer ist hier vertreten durch den Maler Basil Hallward, letzterer durch seinen alten Schulfreund Lord Henry Wotton. Hallward ist ein gutmütiger Schöpfer mal herausragender und mal mittelmäßiger Kunst und Lord Wotton ist ein zynischer, herablassender Dandy, der zu jedem…
Die Welt aus der Sicht eines Idioten | „Serotonin“ von Michel Houellebecq
Im Jahr 2008 gab Michel Houellebecq mit einer Mischung aus Selbstkritik und Koketterie in seinem Briefwechsel mit Bernard-Henri Levy die folgende Selbstbeschreibung: „Als stilloser Autor platter Bücher bin ich nur durch eine Reihe geschmacklicher Fehlurteile zu literarischer Berühmtheit gelangt, die verwirrte Kritiker vor einigen Jahren abgegeben haben. Glücklicherweise ist man meiner kurzatmigen Provokationen seither überdrüssig…
Der falsche Mann für den Job | „Rage“ von Bob Woodward
Bob Woodward ist eine Ausnahmeerscheinung im amerikanischen Journalismus. Seine Enthüllungsarbeit zum Watergate-Skandal zusammen mit seinem Reporterkollegen Carl Bernstein, die beide 1974 in ihrem Buch „All the President’s Men“ zusammenfassten und die später mit Robert Redford als Woodward und Dustin Hoffman als Bernstein verfilmt wurde, gilt als Meilenstein der investigativen Recherche und führte zum Rücktritt von…
Im freien Fall | „Michael Kohlhaas“ von Heinrich von Kleist
Wie ein Zauberer, der behauptet, er werde gleich seinen Assistenten in zwei Teile zersägen, und dem man dann interessiert dabei zusieht, nicht weil man glaubt, dass der arme Mann tatsächlich halbiert wird, sondern wegen seiner Kunst, das Unmögliche real aussehen zu lassen, so beginnt auch Heinrich von Kleist seine berühmte Novelle „Michael Kohlhaas“ mit einer…
Wie ich den Buchblog-Award 2020 nicht gewann
Es ist ein handfester Skandal: Anton Weyrothers Literaturpodcast, der uns in diesem Jahr schon Werke von Wendy Brown und Jan Assmann näher brachte, berühmten Romanen von W.G. Sebald und Umberto Eco mit brillanten Rezensionen ihren rechtmäßigen Platz im Kanon der Weltliteratur für die Ewigkeit zuwies und selbst klassische Werke von Thomas Pynchon, Carl Jung, Thomas…
Maximale Entropie | „Die Versteigerung von No. 49“ von Thomas Pynchon
Thomas Pynchon, der leider nicht für ein Interview zur Verfügung stand, gilt wegen seiner Zurückgezogenheit als die große, rätselhafte Figur der amerikanischen Gegenwartsliteratur. „Die Versteigerung von No. 49“ aus dem Jahr 1966 ist sein zweiter und bisher kürzester Roman. Die Hauptfigur namens Oedipa erfährt eines Tages, dass sie zur Testamentsvollstreckerin des verstorbenen Multimillionärs Pierce Inverarity…
Überdosis Natur | „Der Defekt“ von Leona Stahlmann
Der Roman „Der Defekt“ handelt von der Suche nach Akzeptanz für den eigenen Körper und die eigene Sexualität. Für die sechzehnjährige Mina gehen erotische Erlebnisse bevorzugt mit Schmerz einher. Das entdeckt sie im Zusammensein mit dem achtzehnjährigen Vetko, der in ihrer aufblühenden Sadomaso-Beziehung die Rolle ihres dominanten Gegenparts einnimmt. Mina kennt Vetko zunächst nur als…
Dreifach destilliert | „Absalom, Absalom!“ von William Faulkner
Der biblische Abschalom aus dem zweiten Buch Samuel hat ein wechselhaftes Verhältnis zu seinem Vater, dem König David. Zunächst bemerkt er einen Inzest seines Bruders Amnon mit einer ihrer Schwestern und ermordet den Bruder aus Rache. Er muss aus seinem Elternhaus fliehen bis Davids Zorn gegen ihn verraucht ist und er Jahre später zurückkehren kann.…
Gefahr aus der Tiefe | „Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten“ von Carl Jung
In seinem Buch „Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten“ gibt Carl Jung eine verhältnismäßig kurze Einführung in seine umfangreiche Theorie der Psyche. So wie Sigmund Freud, mit dem Jung eng befreundet war und dessen Thesen er als einer der ersten unterstützte und aufgriff, setzt sich alles Psychische eines Menschen, zusammengefasst unter dem Überbegriff…
Die Götter müssen verrückt sein | „Gilgamesh“ von Raoul Schrott
Im dritten Jahrtausend vor Christus war die Stadt Uruk im Gebiet des heutigen Irak die vielleicht größte und erste Metropole der Welt. Mit einer Fläche von 5,5 Quadratkilometern wäre sie nach heutigen Maßstäben eher eine Kleinstadt, aber für antike Verhältnisse war das eine gigantische Siedlungsgröße, die von der Stadt Rom beispielsweise erst im zweiten Jahrhundert…
Drei Gesichter eines Defekts | „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ von Theodor W. Adorno
Im Jahr 1967 hielt Theodor W. Adorno bei einem Aufenthalt an der Universität Wien einen Vortrag über den damals in der Gestalt der NPD neu aufkommenden, deutschen Rechtsradikalismus. Zu dieser Zeit stand die Frage im Raum, wie es überhaupt sein konnte, dass nicht sehr lange nach dem Zweiten Weltkrieg schon wieder eine rechtsradikale Partei in…
Was der Besuch hier wollte | Das UFO-Video vom November 2004
Am 27. April 2020 deklassifizierte das amerikanische Verteidigungsministerium eine Reihe von Videos, auf denen Flugobjekte zu sehen sind, die laut Pentagon trotz eingehender Untersuchungen unidentifiziert geblieben sind. Es handelt sich hier um im Internet längst bekannte, kurze Videoclips mit kryptischen Namen wie FLIR und GIMBAL, die in den vergangenen Jahren vom US Militär aufgenommen wurden…
Lebenslauf einer Theorie | „Achsenzeit“ von Jan Assmann
Dem Pariser Bibliothekar Abraham-Hyacinthe Anquetil-Duperron gelingt um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die erste Übersetzung des Zend-Avesta, der heiligen Schrift der durch den alt-iranischen Propheten Zarathustra gegründeten zoroastrischen Religion. Nebenbei macht Anquetil-Duperron bei der Übersetzungsarbeit eine Beobachtung, die noch Jahrhunderte später Philosophen und Historiker faszinieren soll: Zarathustra hat vermutlich im sechsten Jahrhundert vor Christus gelebt…
Gnadenlose Zeit | „Austerlitz“ von W.G. Sebald
Die Erinnerung an den Nationalsozialismus und seine Verbrechen, die schon 1998 von Martin Walser in seiner berüchtigten Friedenspreis-Rede als zu viel empfunden wurde, und manchem seit jeher als lästige Pflichtübung gilt, spielt für Jaques Austerlitz, die Hauptfigur in W.G. Sebalds letztem Roman, eine vollkommen umgekehrte Rolle. Austerlitz fehlt die Erinnerung, er muss sie sich mühsam…
Die große Klage | „Doktor Faustus“ von Thomas Mann
[Klick here for an English translation] In den mehr als siebzig Jahren seit seiner Veröffentlichung ist sicher alles über diesen Roman gesagt worden, aber trotzdem hier ein kurzer Punkt dazu. Erst das Allgemeine: „Doktor Faustus“ ist die Lebensgeschichte des Komponisten Adrian Leverkühn, erzählt von seinem Freund Serenus Zeitblom. Letzterer ist Gymnasiallehrer für alte Sprachen und…
Das andere Ende der Geschichte | „Europadämmerung“ von Ivan Krastev
Ganz am Ende des Buches, in der Danksagung, erwähnt Ivan Krastev seinen Literaturagenten, der ihn überzeugt habe, „dass nur eines schlimmer ist, als mitten in einem großen Umbruch ein Buch zu schreiben, nämlich es nicht zu schreiben“. Mit dem großen Umbruch sind die Massenmigration und der Aufschwung des Rechtspopulismus in Europa gemeint. Krastevs ernüchternder Essay…
Die zu gute Recherche | „Der Friedhof in Prag“ von Umberto Eco
Als im Jahr 2011 „Der Friedhof in Prag“ erschien, waren sich Süddeutsche Zeitung und FAZ einig, dass es sich um einen gescheiterten Roman handelte. Der Plot dieses letzten großen Werkes von Umberto Eco klingt aber zunächst eigentlich so gut, dass dieses Scheitern – wenn man sich diesem Urteil anschließen wollte – erstaunlich ist. Der im…
Der letzte Alleskönner | „Maker of Patterns“ von Freeman Dyson
Freeman Dysons Autobiographie „Maker of Patterns“ beginnt mit so etwas wie einer Entschuldigung. Im Vorwort schreibt Dyson, so wie das Buch „The Double Helix“ des Biologen James Watson basiere auch „Maker of Patterns“ auf Briefen, die der Autor über die Jahrzehnte an seine Eltern geschrieben habe. Nur leider habe er im Gegensatz zu Watson hier…
Neues vom ersten Dichter | „Theogonie“ übersetzt von Raoul Schrott
Die göttliche Familie der griechischen Antike hat ihre ganz eigenen Probleme. Die Erde Gaia und der Himmel Uranos zeugen eine erste Generation von Nachkommen, die Titanen, aber Uranos findet alle seine Kinder so hässlich, dass er sie in den Mutterboden zurückstopft. Die Erde wehrt sich dagegen und stiftet ihren Jüngsten, Kronos, dazu an, den eigenen…
Medienkritik von innen | „Haltung“ von Mely Kiyak
Der Essay „Haltung“ ist Mely Kiyaks Antwort auf das „Haltung zeigen!“, das man sich auf Preisverleihungen der Medienbranche gegenseitig zuruft. Ihre Antwort ist: Haltung zu zeigen wäre vor Jahren schon nötig gewesen und genügt nicht mehr, denn die Rechtsradikalen sitzen jetzt in den Parlamenten und verändern das Land bereits. Statt der bloßen Zurschaustellung einer Haltung…
Früher war mehr Lametta | „Retrotopia“ von Zygmunt Bauman
Im kurz vor seinem Tod im Jahr 2017 vollendeten Werk „Retrotopia“ analysiert der Soziologe Zygmunt Bauman Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit. Das Themenspektrum des Buches ist breit und erstreckt sich von weltpolitischen Erscheinungen wie dem internationalen Terrorismus, globalen Migrationsbewegungen und dem Aufstieg der Rechtspopulisten bis hin zum privaten Nutzungsverhalten moderner Kommunikationsmittel und einem zunehmenden individuellen Gefühl…
Aufstieg des homo oeconomicus | „Die schleichende Revolution“ von Wendy Brown
[Klick here for an English translation] „Die schleichende Revolution“ von Wendy Brown ist eine schonungslose Darstellung des Neoliberalismus, ein schwer zugängiges und gleichzeitig aufrüttelndes Buch. Anstrengend zu lesen ist es, weil es den Anspruch verfolgt, der wissenschaftlichen Theorie über den Neoliberalismus etwas substanzielles hinzuzufügen. Aufrüttelnd ist es, weil es zeigt, wie der Neoliberalismus es schaffen…
„Der Aufruhr der Ausgebildeten“ von Wolfgang Kraushaar
„Der Aufruhr der Ausgebildeten“ fasst die internationalen Proteste des Jahres 2011 zusammen. Obwohl das Buch schon im März 2012 erschienen ist, nur ein Jahr nach den Umstürzen des „Arabischen Frühlings“ und wenige Monate nach der Räumung des Occupy-Wall-Street-Camps in New York – zu einer Zeit, als noch nicht sicher schien, ob die Occupy-Bewegung wirklich schon zu…