Das Jenseits als Remix | „Air“ von Christian Kracht

In Christian Krachts Roman „Air“ ist der Innenarchitekt Paul auf der Suche nach dem perfekten Weiß. Paul hat einmal einen Herzog in der Frage beraten, in welchem Rot er den Salon seines Jagdschlosses streichen soll und weil Paul genau das richtige Rot empfohlen hatte, schenkte der Herzog ihm ein Gemälde von James Archer, das den Zauberer Merlin und den Ritter Lancelot zeigt. Seit dieses Bild in Pauls Wohnzimmer auf den schottischen Orkney Islands hängt, läuft beruflich alles sehr gut für ihn. Er hat sich darauf spezialisiert, Häuser mit alten Möbeln, Tonkrügen und Büchern zu dekorieren, damit sie beim Verkauf bessere Preise erzielen.

Und nun erhält Paul per E-Mail diesen neuen Auftrag, der ihn besonders fasziniert. Das Einrichtungsmagazin Küki, fragt an, ob er das Innere einer großen norwegischen Datenspeicherungsanlage weiß streichen kann, aber nicht in irgendeinem, sondern eben in dem „perfekten“ Weiß. Paul nimmt die Herausforderung an und reist nach Stavanger, um dort Cohen zu treffen, der das Magazin herausgibt. Cohen tigert in seinem Büro nervös auf und ab während er Paul mit einer ganzen Reihe von konfusen Theorien bombardiert, über Steven Spielbergs Film „A.I.“, die heidnische Religion des Rodismus, die Heilkräfte von Regenwasser und die Sage von König Artus. Eine seiner Theorien besagt, dass unsere Erinnerungen auf molekularer Ebene eine Spur in der Materie hinterlassen und dadurch nach unserem Tod weiterleben. Genau deshalb ist Cohen an dem großen Datenspeicher interessiert, weil hier in der Cloud die Handy-Fotos und sonstige persönliche Erinnerungen von Millionen von Menschen gespeichert werden. Paul, der von Cohens Magazin eigentlich eine sehr hohe Meinung hatte, ist nach diesem Treffen zwar von dem wirren Herausgeber etwas enttäuscht, aber er nimmt den Auftrag an und fährt zu der Speicheranlage, um sich die Halle, für die er das perfekte Weiß aussuchen soll, genauer anzusehen.

Gleichzeitig erzählt der Roman noch eine ganz andere Geschichte. Die Handlung um Paul und Cohen wechselt sich in jedem zweiten Kapitel ab mit der Geschichte von einem achtjährigen Mädchen namens Ildr, das nicht in unserer Gegenwart sondern in einer mittelalterlichen Fantasy-Welt lebt. Ildr lebt alleine in einer Hütte im Wald. Ihre Mutter ist vor kurzem an einer pestartigen Seuche gestorben und der Vater ist lange verschollen. Ildr schlägt sich irgendwie durch. Als sie eines Tages mit Pfeil und Bogen auf die Jagd geht und glaubt, ein Reh getroffen zu haben, ist es, als sie zu ihrer Beute läuft, stattdessen ein fremder Mann, der von ihrem Pfeil durchbohrt wurde. Der Mann lebt noch und Ildr nimmt ihn mit in ihre Hütte und versorgt seine Wunde.

Während der angeschossene Fremde wieder langsam auf die Beine kommt, taucht ein Soldat des Herzogs von Tviot an Ildrs Hütte auf, und es gelingt ihr, ihn mit einem Trick abzuwimmeln, bevor er die Hütte durchsuchen kann. Der Fremde ahnt, dass der Herzog den Soldaten geschickt hat, um nach ihm zu suchen und sich seine Zauberkräfte zu nutze zu machen. Tatsächlich hat der Fremde ein paar magische Gegenstände dabei, die Ildr noch nie gesehen hat: Eine Brille, mit der man Gegenstände vergrößert sehen kann, ein Blatt Papier, aus dem der Fremde ein Papierflugzeug bastelt, und eine Pistole aus Keramik. Um den Soldaten des Herzogs zu entkommen, beschließen Ildr und der Fremde, die Hütte zu verlassen und so lange nach Süden zu gehen, bis sie das Eismeer erreichen.

Der Roman als Rätsel

Der Roman erzählt diese beiden Geschichten also parallel und verrät uns zunächst nicht, was die eine mit der anderen zu tun hat. Man ahnt allerdings schnell, dass es sich bei dem Fremden, dem das Mädchen Ildr den Pfeil in den Rücken schießt, um den Innenarchitekten Paul handeln muss, der selbst nicht weiß, wie er in diese andere Welt hinein geraten ist. Christian Kracht verstreut in den ersten Kapiteln des Romans eine ganze Reihe von Hinweisen, wie das alles zu deuten ist. Ich habe auf Social-Media-Kanälen Rezensionen gelesen, die sich diesem von Kracht inszenierten Rätselspiel ganz bewusst verweigern und alle Anspielungen grundsätzlich ignorieren. Die Genervtheit, mit der diese Verweigerung stattfindet, nimmt manchmal komische Züge an. Es ist ja schon tragisch. Da hat der KiWi-Verlag einem dieses schöne Rezensionsexemplar geschickt, und dann stellt sich heraus, dass der Autor einen anscheinend zwingen will, zusätzlich auch noch die Artus-Sage und Astrid Lindgren zu lesen, damit man versteht, worum es überhaupt geht. Kann man denn nicht einfach eine schöne Geschichte lesen und dann auf Instagram schreiben, dass in diesem Buch schöne Sätze stehen?

Bestimmt kann man das, und der Vorteil solcher Besprechungen ist, dass man künftigen Lesern, die miträtseln wollen, nichts vorwegnimmt. Der Nachteil ist, dass man dann über diesen Roman tatsächlich nur noch sagen könnte, dass er schöne Sätze enthält, was sicher stimmt, aber meiner Meinung nach nicht das hervorstechende Merkmal dieses Buches ist. Für Christian Kracht ist das rätselhafte Wechselspiel zwischen seinen beiden Handlungsstängen ganz offensichtlich von zentraler Bedeutung und wir müssen darüber reden. Ich versuche hier einen Mittelweg zu finden und nur das zu vorwegzunehmen, was sich in der ersten Hälfte des Buches abspielt und nicht zu übersehen ist.

Merlin und Artus

Der erste Zaunpfahl, mit dem Kracht uns zuwinkt, ist das Bild von Merlin und Lancelot in Pauls Wohnzimmer. Wenn die Handlung in der parallelen Fantasy-Welt etwas mit der Artus-Sage zu tun haben soll, die ja auch von Cohen erwähnt wird, und wenn Ildr den von ihr angeschossenen Fremden mehrmals als Zauberer bezeichnet, dann ist naheliegend, dass aus Paul in dieser anderen Welt eine Art Merlin geworden ist. Besonders interessant ist dann noch die Keramik-Pistole, die er dabei hat. Er selbst kann sie nicht abfeuern, aber als Ildr sie in die Hand nimmt, wird daraus plötzlich eine tödliche Waffe. Die Pistole spielt hier also die Rolle des sagenhaften Schwertes Excalibur und damit hat man das achtjährige Mädchen Ildr mit König Artus identifiziert, der ja der Sage nach von Merlin erzogen wurde.

Kracht hat noch viele weitere Motive der Artus-Sage übernommen, die ich hier nicht verraten will und die ich zum größten Teil wahrscheinlich selbst nicht erkannt habe. Die Frage, was diese Artus-Sagenwelt aber mit unserer Gegenwart zu tun haben soll, in der Paul noch Innenarchitekt ist, beantwortet ein anderer literarischer Hinweis vom Anfang des Romans. Hier findet Paul in einer zum Bücherbasar umfunktionierten Telefonzelle das Buch „Die Brüder Löwenherz“ von Astrid Lindgren. Dieses Kinderbuch aus dem Jahr 1973 ist dafür bekannt, dass Lindgren sich hier mit dem Tod beschäftigt. Der dreizehnjährige Jonathan kommt bei einem Hausbrand ums Leben, und sein kleiner Bruder Karl stirbt danach an einer Krankheit. Die beiden Brüder begegnen sich nach dem Tod wieder und das Jenseits ist hier eine Art Fantasy-Welt, in der die beiden verschiedene Abenteuer bestehen müssen. Pauls parallele Artus-Welt ist für ihn, so darf man spekulieren, also auch ein persönliches und mit Erinnerungen aus der Gegenwart dekoriertes Jenseits, was schließlich Cohens Theorie von den nach dem Tod weiterlebenden Erinnerungen aufgreift.

Der Roman begibt sich also wie ein religiöses Gedankenexperiment in eine unorthodoxe, pantheistische Spekulation über das Leben nach dem Tod und entdeckt in unserer Daten-Cloud ein modernes Symbol der Idee vom Weiterleben der Erinnerungen. Es gefällt mir sehr gut an diesem Roman, dass er innerhalb dieser Spekulation seiner eigenen Logik konsequent treu bleibt. Da Pauls Jenseits eben seine weiterlebenden Erinnerungen sind, greift diese andere Welt wie ein Remix seine Ideen aus dem Diesseits auf. Er findet sich deshalb in einer einsamen Hütte im Nirgendwo und auch sonst in einer sehr karg ausgestatteten Retro-Welt wieder, weil genau das die Ästhetik seiner Innenarchitektur im Diesseits ist. Wenn Ildr und Paul später im Buch an der Eismeerküste in eine Landschaft gelangen, die nur noch aus glatten Steinquadern besteht, dann ist all das eine überspitzte und konsequent zu Ende gedachte Version von Pauls Einrichtungskonzepten und den Fotos der kühlen Räume im Einrichtungsmagazin Küki.

Sinn im Jenseits

Christian Krachts direkte Gegenüberstellung der beiden Welten, also unserer Gegenwart und einer kargen, mittelalterlichen Fantasy-Welt, hat aber nicht nur eine mystische und ästhetische sondern auch eine ganz konkret konsumkritische Komponente. Das wird besonders durch die ersten beiden Sätze des Romans deutlich, mit denen Kracht unsere Zeit charakterisiert. Kracht schreibt hier:

Das Leben war voller Sorgen, aber auch nicht wirklich. Es war eine Zeit, in der viele Dinge schnell erworben und dann wieder vergessen wurden.

In der Tat sind Pauls diesseitige Sorgen keine wirklichen Probleme. Er muss die richtigen Farben und Tonkrüge aussuchen und die unangenehmste Situation, in der wir ihn im Diesseits erleben, ist ein Regenschauer, in den er gerät, als er mit dem Fahrrad zum Bäcker fährt. Im Jenseits hingegen beginnt er seine Reise mit einem Pfeil im Brustkorb und während seiner Flucht mit Ildr schweben beide ständig in Lebensgefahr. Denn auch im Jenseits, so steht es auch bei Astrid Lindgren, kann man noch einmal sterben. In dieser anderen Welt sind die Probleme also echt und verleihen Pauls dortiger Existenz eine gewisse Bedeutung. Dieser Unterschied zeigt sich besonders in den Dialogen. Während Paul und Cohen im Büro des Küki-Magazins irritiert an einander vorbei reden, erreichen Pauls einfache Dialoge mit Ildr auf fast rührende Art eine ganz andere Tiefe und erinnern an die Gespräche zwischen Vater und Sohn in Cormac McCarthys Roman die Straße, in dem die Protagonisten ja ebenfalls am Rande ihres eigenen Untergangs einen transzendenten Sinn in ihrer Gemeinschaft finden.

Auch was die in Krachts zweitem Satz erwähnten Dinge betrifft, die wir schnell erwerben und vergessen, sieht es zwischen Diesseits und Fantasy-Jenseits ganz anders aus. Als Innenarchitekt versucht Paul, die Gegenstände, die er in seinen Einrichtungsfotos platziert, künstlich mit Bedeutung aufzuladen. Im Jenseits hingegen hat jeder der wenigen überhaupt existierenden Gegenstände eine Bedeutung. In der glatten Steinwelt an der Eismeerküste leben die Menschen in einer idyllischen Kommune, in der sie das wenige, das sie besitzen, mit einander teilen und sich in jahrhunderte alte Tierfelle kleiden, die sie niemals wegwerfen, weil sie in diesem Landstrich ohne Wald und Tiere durch nichts zu ersetzen wären. Auch Paul selbst besitzt hier keine Gemälde, Militärfahrräder oder Ruderboote mehr, von denen er im Diesseits nicht wusste, ob und wozu er sie überhaupt brauchte, sondern er läuft nur mit einem kleinen Beutel auserlesener, magischer Gegenstände durch die Welt. Die Keramik-Pistole, zu der Paul im Diesseits nur ohne jeden Grund eine Bauanleitung für 3D-Druck besaß, ist in diesem Jenseits, in dem alle Dinge einen Sinn haben, zur funktionsfähigen Waffe geworden, die Ildr und Paul das Leben rettet.

Zum Gral

Insgesamt erscheint unsere Zeit also im Kontrast gegen diese gefährliche und mit Sinn gefüllte Welt der Ideen und Erinnerungen zwar bequem aber auch relativ hohl. Unser Überfluss an Dingen und Daten, so könnte man diesen Vergleich deuten, lenkt uns von dem ab, was unserem Leben mehr Tiefe geben könnte. Es gibt allerdings auch eine Gemeinsamkeit der beiden Welten. Paul selbst, und mit ihm übrigens auch Cohen, ist hier wie dort ein Suchender. Im Diesseits versucht er, einen Sinn im Absoluten zu entdecken, im perfekten Weiß oder in einem verlassenen Haus am Ende der Welt, in dem er am liebsten leben würde. Im Jenseits setzt sich diese Suche fort und richtet sich hier ebenfalls auf ferne, vielleicht unerreichbare Bezugspunkte, zuerst das Eismeer und dann eine andere Welt dahinter, die er und Ildr nur fliegend erreichen würden. Eine Mischung aus all dem ist Pauls ganz persönlicher heiliger Gral, von dem er selbst nicht weiß, wie genau er aussieht und was er erreicht hat, wenn er ihn jemals finden sollte.

Zum Abschluss lohnt sich noch die Frage, ob Christian Kracht mit diesem vielschichtigen Werk auch etwas über die Literatur sagen will, die er so unübersehbar zitiert. Ich weiß nicht, ob Kracht uns wirklich animieren will, die unübersichtliche Artus-Sage oder Lindgrens „Die Brüder Löwenherz“ zu lesen. Vielleicht geht es ihm mit diesen Verweisen noch um etwas anderes. Denn das Prinzip der weiterlebenden Erinnerungen nach dem Tod trifft nicht nur auf den Protagonisten Paul sondern auch auf den gesamten Roman zu, der ja selbst ein Remix aus der Artussage und Astrid Lindgrens Kinderbuch ist und damit ein Weiterleben dieser Ideen darstellt. Indem Kracht seinem Innenarchitekten Paul also ein Jenseits gibt, schenkt er gleichzeitig auch diesen uns vielleicht kaum noch präsenten Werken eine neue Form und damit ein Leben nach dem Tod des Vergessen-Werdens.

Christian Krachts Roman „Air“ ist nicht nur eine gut lesbare Geschichte mit ein paar schönen Sätzen. Es ist ein konsequent durchkonstruiertes, mystisches Gedankenexperiment, eine Kritik unserer Zeit, in der es schwer ist, im Überfluss der Daten und Produkte einen Sinn zu ahnen, nach dem es sich überhaupt zu suchen lohnt und schließlich ist das Buch auch noch eine literarische Hommage, vielleicht sogar eine Wiederbelebung. Es ist ein beeindruckender Roman, der seinen Hype vollkommen verdient.


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und

Die Brüder Löwenherz von Astrid Lindgren


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