Allein gegen die Welt | „Der Fänger im Roggen“ von Jerome D. Salinger

Wir reden manchmal über Literatur, als wäre sie nur zu unserer Unterhaltung da. Literarische Quartette treffen sich zum kultivierten Plausch im barocken Festsall und auch wenn auf meinem Youtube-Kanal schöne alte Bücher ins Bild gehalten werden, sieht es vielleicht so aus, als ginge es nur um irgendwelche Fragen der Ästhetik und eines höheren literarischen Geschmacks. Aber für manche Menschen geht es beim Lesen bestimmter Romane um sehr viel mehr. Für manche geht es um nichts geringeres als die Frage, wie sie ihr Leben in den Griff kriegen sollen. Vielleicht geht es sogar um Leben und Tod.

Mark David Chapman hatte sein Leben nicht im Griff. Am achten Dezember 1980 wartete er zusammen mit einer kleinen Gruppe von Autogramm-Jägern vor dem Dakota Building, einem alten Appartment-Gebäude in Manhattan. Chapman hatte einen Revolver in seiner Manteltasche. Die Gruppe wartete auf John Lennon der sich hier für einen New-York-Aufenthalt eingemietet hatte und als Lennon aus dem Gebäude kam, um sich auf den Weg zu einem New Yorker Tonstudio zu machen, gab er ein paar Autogramme. Auch für Chapman schrieb etwas auf eine Kopie seines neuen Albums, das er gerade zusammen mit Yoko Ono veröffentlicht hatte. Lennon soll Chapman dann noch gefragt haben: „Is that all? Do you want anything else?“ In diesem Moment hatte Chapman sich noch unter Kontrolle. Er ging mit dem Autogramm in der Hand zurück in seine Unterkunft.

Aber am Abend kam er wieder und positionierte sich im Eingangsbereich des Dakota Building. Als John Lennon zurück kam und an ihm vorbei ging, glaubte Chapman, Lennon habe ihn wiedererkannt. Und dann hörte er, wie er später selbst aussagte, eine innere Stimme, die ihm sagte: „Do it, do it, do it.“ Er zog seine Waffe und schoss John Lennon fünf mal in den Rücken. Lennon taumelte in das Innere des Gebäudes und konnte dem Rezeptionisten noch sagen: „I’m shot.“ In der allgemeinen Panik ging der Portier des Gebäudes auf den im Schock erstarrten Chapman zu und entwaffnete ihn. Als die Polizei am Tatort ankam, hatte Chapman nur noch ein Buch in der Hand. Einen Roman, in den er mit einem Stift hinein geschrieben hatte: „This is my statement.“ Als er später vor Gericht gefragt wurde, warum er John Lennon ermordet habe, zitierte er eine bekannte Passage aus diesem Roman und alle, die ihn später nach den Gründen für seine Tat fragten, verwies er immer wieder auf dieses Buch. Dieser Roman ist der mehr als 65 Millionen mal verkaufte ewige Bestseller „The catcher in the rye“, „Der Fänger im Roggen“ von Jerome D. Salinger.

Der Roman wird uns in freundschaftlichem Ton vom siebzehnjährigen Holden Caulfield aus New York erzählt. Holden ist gerade wegen schlechter Leistungen von der Schule geflogen. Wie er uns berichtet, ist die Pency Prep in Agerstown Pennsylvania leider schon die zweite Schule, von der er fliegt. Holden Caulfield hat sein Leben nicht im Griff. Die Geschichte beginnt an dem Tag, als er von seinem Rauswurf erfährt und wir erfahren schrittweise, was genau Holdens Problem ist.

Zuerst sehen wir ihn noch in diesem Internat mit seinem Zimmergenossen namens Stradlater. Der hat ausgerechnet an diesem Abend ein Date mit Jane Gallagher, mit der Holden seit der Kindheit befreundet und in die er heimlich verliebt ist. Stradlater ist einer dieser gutaussehenden Typen, die sogar schonmal Sex hatten und Holden ahnt, was er bei diesem Date mit Jane Gallagher machen wird. Aber statt sich mit Stradlater auszusprechen albert er nur latent agressiv herum und provoziert eine kleine Schlägerei mit ihm, bei der er natürlich unterliegt. Zu allem Überfluss will der Zimmergenosse, auch noch, dass Holden die Hausaufgaben für ihn macht, die er wegen des Dates nicht schaffen wird. Wir lernen Holden Caulfield als jemanden kennen, dem es nicht gelingt, für seine Interessen einzustehen.

Holden Caulfield hat ein Problem

Das bewahrheitet sich auch im weiteren Verlauf des Abends. Holden beschließt, ohne bestimmtes Ziel nach New York zu fahren. Er hat etwas Geld dabei und nimmt sich ein Zimmer in einem Hotel. Seine erste Idee ist, eine Prostituierte anzurufen, aber weil die nicht heute sondern erst an einem anderen Tag Zeit hat, vereinbart er nichts mit ihr. Er will sich jetzt amüsieren. An der Hotelbar lernt er eine Frau kennen, die zwar sehr gut tanzen kann, aber überhaupt nicht versteht, wovon er redet und auch kein Interesse an einer Unterhaltung mit ihm hat. Dann fährt er mit dem Taxi zu einer New Yorker Bar, in der ein gewisser Ernie Klavier spiet. Ernie ist zwar ein sehr guter Pianist, aber die die bescheidene Art, wie er sich nach seinem Klavierspiel verbeugt, findet Holden verlogen. Überhaupt ist alles mögliche für ihn irgendwie verlogen. Die Filmindustrie, für die sein Bruder Drehbücher schreibt, aber auch jede zweite Person, die ihm auf seiner Irrfahrt durch das nächtliche New York begegnet. Wir lernen Holden als einen Teenager kennen, der hypersensibel auf alles reagiert, was in irgendeiner Form nach unechter Fassade aussieht. Er kann sich seiner vermeintlich verlogenen Umwelt nicht anpassen, aber sich gegen sie behaupten kann er ebenfalls nicht.

Als er wieder zurück in sein Hotel kommt, wir seine Durchsetzungsfähigkeit durch den Fahrstuhlführer Maurice auf die Probe gestellt. Der ist in diesem Hotel nebenbei auch als Zuhälter aktiv und bietet Holden an, für fünf Dollar eine Prostituierte vorbei zu schicken. As die junge Frau auf sein Zimmer kommt, hat Holden nur Mitleid mit ihr und schickt sie nach einem kurzen Gespräch mit den fünf Dollar wieder weg, woraufhin sie ihn noch beleidigt. Am nächsten Morgen steht dann Maurice vor seiner Tür und will noch weitere fünf Dollar von ihm haben, weil der vereinbarte Preis angeblich zehn Dollar gewesen sei. Holden weigert sich zuerst, aber Maurice nimmt ihm das Geld dann doch mit Gewalt weg.

Hodens Irrfahrt ist gleichzeitig ein mentaler Abstieg. Nachdem seine Umgebung ihn immer wieder zurückweist und enttäuscht, kommt er am Ende seiner Odyssee einsam und deprimiert dort an, wo er von Anfang an hätte hingehen sollen, nämlich im Haus seiner Eltern. Denen will er aber nicht begegnen und wie sich herausstellt, sind sie sowieso ausgegangen. Er will nur seine kleine Schwester Phoebe besuchen, die noch in die Grundschule geht. Ihr erzählt er, dass er von der Schule geflogen ist und sie weiß, dass den Eltern das nicht gefallen wird. Als Holden ihr auch erzählt, was für verlogenen Leuten er begegnet ist, stellt Phoebe ihm die entscheidende Frage. Sie fragt ihn, was er mit seinem Leben anfangen will? Holden hat Schwierigkeiten, diese Frage zu beantworten. Anwalt werden, wie ihr Vater, will er sicher nicht. Nach einigem Überlegen kommt er zu seiner berühmten Antwort, von der er selbst weiß, dass sie nur eine von einem Gedicht von Burns inspirierte Spinnerei oder vielmehr ein Bild für das ist, was er will: Wenn es in der Nähe eines tiefen Abgrunds ein Roggenfeld gäbe, in dem kleine Kinder spielend herumlaufen, dann will er derjenige sein, der die Kinder abfängt und davor rettet, in den Abgrund zu stürzen.

Das wirklich beeindruckende an diesem Roman ist das Ende, das ich für künftige Leser nicht verderben und deshalb nicht verraten will. Zwischendurch hat es den Anschein, dass der Roman so ziellos ist wie sein Protagonist immer weitere Episoden aus dem New Yorker Nachtleben aneinannderreiht, die nur an einem willkürlichen Punkt enden werden, wenn Holden das Geld ausgeht oder er vollständig deprimiert und von seinen frustrierenden Interaktionen erschöpft ist. Aber dann kommt ganz am Ende eine überraschende Wendung. Ich habe in letzter Zeit keinen Roman mit einem so starken Schluss gelesen und verstehe jetzt den verdienten Bestseller- und Kult-Status dieses Buches.

Jungs Frage

Aber was genau ist Holdens Problem? Manche Hörer dieses Podcasts werden jetzt vielleicht denken: „Bitte nicht schon wieder Carl Jung!“, aber Jung wird vor allem im Internet immer wieder mit einem Satz zitiert, der meiner Meinung nach hier passt: „Die Welt wird dich fragen, wer du bist, und wenn du es nicht weißt, wird die Welt es dir sagen.“ Carl Jung hat diesen Satz so wahrscheinlich nie gesagt oder geschrieben. Aber in seinem Werk „Erinnerungen, Träume, Gedanken“ schreibt Jung an einer Stelle sehr ähnlich:

Ich selbst bin eine Frage, die an die Welt gerichtet ist, und ich muss meine Antwort mitteilen — sonst bin ich abhängig von der Antwort der Welt.

Genau das scheint Holden Caulfields Problem zu sein. Er hat keine Antwort auf diese Frage. Seine kleine Schwester ist gegen Ende des Romans die erste, die ihn dazu bringt, überhaupt darüber nachzudenken. Aber weil diese Frage, wie Jung schreibt, auf keinen Fall unbeantwortet bleiben kann, gibt die Welt ihm die Antwort. Die Welt weiß längst, wer Holden Caulfield ist, nämlich ein Niemand. Er ist einer, den man nichtmal um Geld betrügen muss. Man nimmt es ihm einfach weg, so wie der Zuhälter Maurice. Er ist einer, mit dessen Freundin man ungestraft auf ein Date gehen kann und sich dann noch von ihm die Hausaufgaben machen lässt, wie sein Zimmergenosse Stradlater. Die Jungs in seinem Alter finden ihn kindisch und die Mädchen können nicht viel mit ihm anfangen. Wie sollen sie auch. Er sagt von sich selbst, dass er sich mit siebzehn noch oft wie ein Dreizehnjähriger verhält. Er ist ein Kind in einer Welt, die von ihm erwartet, ein Erwachsener zu sein. Die Machtlosigkeit, mit der Holden durch diese Welt irrt, ist sicher das, was ihn nicht nur aber ganz besonders für junge Leser zu so einer starken Identifikationsfigur macht. Wir kennen alle das Gefühl, wenn die Welt einen zum hilflosen Zuschauer unseres eigenen Lebens degradiert.

Die Antwort, die Holden seiner Schwester Phoebe auf diese Frage aller Fragen gibt, ist dann aber nicht nur eine kindische Spinnerei. Der Fänger im Roggen zu sein ist tatsächlich, wie das Ende dann zeigt, genau die Antwort, die für Holden funktioniert. Dieser Fänger, der kleine Kinder davon abhält, in einen Abgrund zu fallen, ist derjenige, der für andere da sein will. Um das tun zu können, so die entscheidende Pointe dieses Bildes, muss er aber zu allererst vermeiden, selbst in diesen Abgrund zu fallen. Indem er für andere Verantwortung übernimmt und diese Rolle annimmt, beginnt er endlich, auch für sich selbst verantwortlich zu sein. Er wird, um das dann doch vorweg zu nehmen, in gewissem Sinne endlich erwachsen.

Die zweite Deutung des Fängers

Es gibt aber noch eine zweite Lesart dieses Fänger-im-Roggen-Bildes. Und es gibt auch einen erzähltechnischen Hinweis, der uns davon abhalten sollte, diese Geschichte nur als einen pädagogischen Roman über das Erwachsenwerden, eine sogenannte coming of age Geschichte zu lesen. Zwar sehen wir hier jemandem beim Erwachsenwerden zu, aber wir tun das nicht aus der sicheren Distanz der Pädagogen. Die Geschichte wird uns von Holden selbst erzählt. Holden ist zwar in mancher Hinsicht einer dieser berühmten unzuverlässigen Erzähler, denen wir nicht alles glauben dürfen, aber die Geschichte, die er uns erzählt, ist nicht sein Fantasieprodukt. Er ist auch nicht nur das übersensible Kind, das sich von alen ungerecht behandelt fühlt. Die Welt, in der er sich bewegt, ist laut diesem Roman tatsächlich so verlogen, wie er behauptet. Wir sehen es mit eigenen Augen in jeder einzelnen Episode. In diesem Punkt teilt der Autor Salinger ganz offensichtlich den Standpunkt seines Protagonisten.

Das wirft ein ganz anderes Licht auf diese Geschichte, denn wenn Holden mit seiner Sicht auf die Dinge recht hat, ist nicht er es, der ein Problem hat, sondern es ist seine Umgebung. Die Welt will von ihm wissen, wer er ist, aber wenn die Welt nunmal verlogen ist, warum sollte er ihr dann antworten? Vielleicht hat Holden ein gutes Recht, seine Aussage zu verweigern und sich nicht auf das verlogene Rollenspiel einzulassen. Aus Holdens Sicht ist seine Geschichte sicher keine sogenannte coming of age story. Sie ist vielmehr eine Erzählung von einer Welt, in der sich nur die kleinen Kinder wie seine Schwester Phoebe ihre Echtheit bewahrt haben, weil sie noch nicht der allgemeinen Verlogenheit zum Opfer gefallen sind und von der Welt noch keine Rolle zugewiesen bekommen haben. Das von Holden proklamierte Zie ist es, sich diese Echtheit so lange es geht zu bewahren und der Welt so lange man kann die Antwort zu verweigern. Es ist eine Geschichte nicht über sondern gegen das Erwachsenwerden. Die zweite Deutung des Fängers im Roggen besteht also darin, dass dieser Fänger es den Kindern ermöglicht, unbeschwert im Feld herumzulaufen und also nicht erwachsen zu werden. Der Fänger Holden ist derjenige, der vielleicht auch unser Erwachsensein in Frage stellt.

Um zu verstehen, in wie weit diese Sichtweise auch tatsächlich Jerome D. Salingers Position ist, und welche Brisanz darin steckt, ist es interessant, sich eine andere Erzählung Salingers zum Vergleich anzusehen, die von manchen Kennern wie ein Schlüssel zu seinem Werk behandelt wird. „A perfect day for bananafish“ ist eine Kurzgeschichte, die im Jahr 1948 in einer Ausgabe des Magazins New Yorker veröffentlicht wurde, also drei Jahre vor der Fertigstellung des „Fängers im Roggen“. Die Geschichte handelt von einem erwachsenen Mann namens Seymour Glass, der sich mit seiner Frau im Urlaub befindet. Während seine Frau im Hotelzimmer telefoniert und wir von ihr erfahren, dass sie sich in letzter Zeit wegen des merkwürdig anti-sozialen Verhaltens ihres Mannes Sorgen macht, lernt Seymour am Strand ein kleines Mädchen namens Sybil Carpenter kennen. Er unterhält sich eine Weile mit dem Mädchen und erzählt ihr eine Fantasiegeschichte von erfundenen Bananenfischen. Irgendetwas beeindruckt Seymour an diesem Kind. Ähnlich wie Holdens kleine Schwester besitzt diese Sybil, die sicher nicht zufällig so ähnlich wie ein bekanntes antikes Orakel heißt, noch etwas von der Echtheit und Unverfälschtheit, die er im Rest der Welt nicht mehr finden kann. Durch die Begegnung mit ihr wird ihm sein Problem mit der Welt offenbar bewusst. Er geht dann nämlich in sein Hotelzimmer zurück, nimmt eine Pistole aus dem Gepäck und erschießt sich.

Trauma

In ihrer großen Salinger-Biographie erklären Shane Salerno und David Shields, dass dieser Seymour Glass aus dem Jahr 1948 sehr viel mit Jerome D. Salinger gemeinsam gehabt haben muss. Salinger war damals aus dem Zweiten Weltkrieg in die USA zurückgekehrt. Er hatte als einfacher Soldat an der Landung in der Normandie und an einigen der grausamsten Schlachten des Krieges in der Nähe der deutsch-belgischen Grenze teilgenommen. Nachdem er am Ende des Krieges auch an der Befreihung eines Konzentrationslagers beteiligt gewesen war, ließ er sich selbst für mehrere Wochen in ein Krankenhaus in Nürnberg einliefern, um sein Trauma zu bewältigen. Die Biografie von Salerno und Shields legt nahe, dass ihm diese Bewältigung sein ganzes lang nicht gelungen ist. Salingers eigentliches Problem bestand nach dem Krieg allerdings in der Normalität der Welt, in die er zurückkehrte. Zurück in den USA plötzlich wieder unter Menschen zu leben, die ins Kino gingen, sich um Kleinigkeiten stritten und sich in jeder Hinsicht einfach so verhielten, als sei nichts gewesen, war für ihn nicht mehr möglich. Während er sein Alter Ego Seymour Glass Selbstmord begehen ließ, wählte er für sich selbst einen anderen Weg und zog sich radikal aus der Gesellschaft zurück. Der gebürtige New Yorker, der vor dem Weltkrieg das städtische Nachtleben genossen hatte, verbrachte den langen Rest seines Lebens abgeschottet auf einem ländlichen Anwesen im Dorf Cornish in New Hampshire, wo er im Jahr 2010 verstarb.

Salinger meint es also ernst. Die Welt ist für ihn in ihrer Verlogenheit ein Ort, mit dem man erst einmal klarkommen musst. Im Gegensatz zu „A perfect day for bananafish“ ist „Der Fänger im Roggen“ bis auf die eher harmlosen Schlägereien seines Protagonisten eine weitgehend unblutige Erzählung. Salinger treibt die Eskalation zwischen Holden und seiner Umwelt hier nicht bis zum fatalen Ende, wie in der Kurzgeschichte. Aber die Anklage, die auch in diesem Roman gegen die Welt erhoben wird, ist auch hier ernst zu nehmen und es wird an mehreren Textstellen zumindest angedeutet, dass dieser Konflikt auch in Gewalt münden kann. Als einer seiner Freunde Holden am Anfang des Romans auf seine Schirmmütze anspricht und sagt, bei ihm zu Hause trage man solche Mützen wenn man auf die Jagd gehe und Rehe schieße, antwortet Holden: „Das ist eine Mütze zum Leuteschießen“. Und: „In der Mütze erschieß ich Leute.“ Nachdem Fahrstuhlführer und Zuhälter Maurice ihm später das Geld wegnimmt, stellt Holden sich explizit vor, dass er zum Aufzug geht und Maurice erschießt. Hier heißt es:

Kaum hatte der gute Maurice die Tür geöffnet, sah er mich mit der Automatic in der Hand und schrie mich mit einer ganz hohen, hasenfüßigen Stimme an, ich soll ihn in Ruhe lassen. Aber ich knalle ihn trotzdem ab. Sechs Schüsse in seinen fetten behaarten Bauch.

Ein paar Zeilen später verflucht Holden die Filme, dank derer er solche Gewaltszenen im Kopf habe, und fügt hinzu, dass ihm in diesem Moment eigentlich vielmehr danach war, sich selbst umzubringen. Es sind Textstellen, die man normalerweise vielleicht als eher unbedenkliche Fantasien eines Teenagers abtun kann, so lange man sich nicht zu gut mit Holden identifiziert und selbst schon tief in solchen Gewaltfantasien steckt. Marc David Chapman hat diese Stellen offenbar als Aufruf zur Gewalt gelesen. John Lennon war für ihn wegen irgendwelcher Geschichten, die er in der Klatschpresse gelesen hatte, die Verkörperung der Verlogenheit, die sein Idol Holden Caulfield anprangerte.

Ich denke es wäre zu einfach, sich darauf zu berufen, dass Chapman eben verrückt war, auch wenn er nach seiner Tat mit verschiedenen psychischen Problemen diagnostiziert wurde. Salerno und Shields schildern in ihrer Salinger-Biografie noch zwei weitere Gewaltausbrüche junger Männer, den Mord an einer Schauspielerin und ein versuchtes Attentat auf den damaligen Präsidenten Ronald Reagan. Auch hier beriefen sich die Täter auf den Fänger im Roggen. Natürlich stehen diesen Einzeltätern sechzig Millionen Leser gegenüber, die bei ihrer Lektüre nicht im entferntesten daran gedacht haben, jemanden umzubringen. Aber trotzdem machen diese Fälle das Buch zu einem tragischen Beispiel dafür, dass auch die schöne Literatur nicht immer positiv beeinflusst. Gerade ein Buch, das die Leser dazu bringt, ihr eigenes Verhältnis zur Welt fundamental in Frage zu stellen, geht das Risiko ein, dass manche Leser auf diese Frage genau die falsche Antwort finden. Starke Ideen können aufrichten oder ruinieren, vor allem wenn wir sie falsch verstehen.

Versöhnung mit der Welt

Salinger selbst hat sich nie zu diesen Gewalttaten geäußert. Er lebte zu dieser Zeit schon in vollkommener Zurückgezogenheit im ländlichen Cornish. Aber sein Buch spricht für sich. Wenn man es tatsächlich zu ende gelesen und halbwegs verstanden hat, ist es eigentlich unmöglich in Holden Caulfield als einen Gewaltprediger zu erkennen. Holden verachtet seine eigenen gelegentlichen Gewaltvorstellungen und am Ende des Romans wird einerseits in seiner entscheidenden Pointe aber auch in den letzten Sätzen des Buches deutlich, dass trotz ihrer Verlogenheit eine Versöhnung mit der Welt möglich ist. Holden vergibt denen, die ihm unrecht getan haben. Der Roman endet mit Sätzen:

Ich weiß eigentlich nur eins, dass ich irgendwie alle vermisse, von denen ich euch erzählt habe. Sogar zum Beispiel den guten Stradlater und Ackley. Ich glaube, ich vermisse sogar diesen verfluchten Maurice. Komisch ist das. Erzählt nie einem was. Denn sonst vermisst ihr alle mit der Zeit.

Das ist die letzte Pointe des Buches, die vielleicht wieder sehr viel über Salinger verrät. Das Erzählen wird zum Heilmittel gegen die Verbitterung um eine verlogene Welt. Die Ungerechtigkeit wird erträglich, indem wir sie erzählen. Auch wenn Salinger seit 1965 nichts mehr veröffentlichte, soll er, wie Salerno, Shields und andere vermuten, bis kurz vor seinem Tod weiter geschrieben haben, an Erzählungen die nicht für Millionen Leser sondern für ihn selbst zur Heilung bestimmt waren.

„Der Fänger im Roggen“ ist ein bewegendes Buch. Wer es als Gewaltaufruf liest, hat es nicht verstanden. Als eine Geschichte über oder gegen das Erwachsenwerden handelt es davon, ob wir der Welt wirklich eine Antwort schuldig sind, wenn sie uns fragt, wer wir sind. Vielleicht ist es auch ein altmodischer Roman, denn er hat etwas, das wir heute selten finden: Eine Pointe und ein wirklich starkes Ende.


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und die Biografie

Salinger von S. Salerno und D. Shields


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