Wer etwas von uns will, erzählt uns eine Geschichte. Der Lokalpolitiker, der im Ort eine Turnhalle bauen will, zeigt uns nicht Baupläne und Kontostände, sondern er erzählt uns die Geschichte vom kleinen Elias, der sehr traurig ist, weil er nicht zum Handballtraining kann. Der Sportschuhhersteller rechnet uns nicht vor, warum seine Schuhe die besten sind, sondern erzählt uns die Geschichte von Leuten, die bei Wind und Wetter einfach losgelaufen sind. Erzählungen sind angeblich der Modus, in dem unser Gehirn arbeitet und am besten erreichbar ist. Vom Gebrauchtwagenhändler, über den Journalisten, über die Bundesregierung bis hin zum Youtuber, der uns als Abonent seines Literaturpodcasts gewinnen will – alle, die von uns etwas wollen, erzählen uns etwas.
Obwohl wir also dauernd von solchen Storytellern bombardiert werden und von sogenannten Narrativen umgeben sind, sieht der koreanisch-deutsche Philosoph Byung-Chul Han unsere Gegenwart in einer „Krise der Narration“. In seinem gleichnamigen Essay aus dem Jahr 2023 erklärt er, dass diese Narrative und Verkaufsgeschichten nämlich nur ein Abklatsch von dem sind, was tatsächlich den Namen Erzählung verdient hätte. Die eigentlichen Erzählungen, die einen ganz anderen Charakter haben, sind seiner Ansicht nach heute auf dem Rückzug.
Um abzugrenzen, worum es sich bei diesen Erzählungen im eigentlichen Sinne handelt, verweist Byung-Chul Han zunächst auf den Aufsatz „Erfahrung und Armut“, den Walter Benjamin im Jahr 1933 veröffentlichte. Benjamin beginnt seinen Text mit der Fabel von einem Weinbergbesitzer, der seinen Söhnen auf dem Sterbebett erzählt, in seinem Weinberg sei ein Schatz vergraben. Nach seinem Tod graben die Söhne den gesamten Weinberg um. Sie finden nichts, aber durch das Umgraben wird die Erde fruchtbar und ihr Weinberg hat eine gute Ernte. „Nicht im Golde steckt der Segen sondern im Fleiß.“ So fasst Walter Benjamin die Moral dieser Geschichte zusammen, die der Vater seinen Söhnen mitgibt und die sie erst nach seinem Tod verstehen. Den Söhnen wird hier durch die Erzählung ein Stück Lebenserfahrung und damit eine Weisheit mitgegeben, die sie auf ihr eigenes Leben anwenden können. Diese Art des Erzählens, so sind sich Walter Benjamin und neunzig Jahre später Byung-Chul Han einig, ist in modernen und spätmodernen Zeiten selten geworden.
Erzähler und Barbaren
Statt diesen weisen Erzählern, die der nächsten Generation ein Stück Erfahrung weitergeben wollen, sieht Benjamin in seiner Zeit einen neuen Menschentyp aufsteigen, dem die Vergangenheit egal ist weil er nicht daran glaubt, aus ihr für seine moderne Gegenwart etwas lernen zu können. Den Erzählungen der Großeltern zuzuhören ist für diesen neuen Menschen, den Benjamin wegen seiner Vergangenheitslosigkeit einen Barbaren nennt, nur noch Zeitverschwendung. Allerdings sieht Benjamin den Aufstieg dieser Barbaren nicht nur negativ. Es sind aus seiner Sicht Menschen, die den Mut haben, das Alte hinter sich zu lassen, um quasi aus dem Nichts etwas ganz neues zu schaffen. Benjamin nennt zum Beispiel seinen Zeitgenossen Albert Einstein einen Barbaren in diesem Sinne, weil er sich nicht durch die althergebrachte klassische Physik von seinen Entdeckungen abbringen ließ. Die Barbaren haben mit ihrer radikalen Abkehr von den Traditionen der Vergangenheit also das wirklich Neue hervorbringen können.
In diesem letzten Punkt teilt Byung-Chul Han Benjamins Analyse für unserer Zeit nicht mehr. Die Moderne, also die Zeit Benjamins, war aus seiner Sicht noch eine Zeit echter Neuerungen und Zukunftsvisionen, die sich ihrerseits aber immer noch in Erzählungen ausgedrückt haben. Das kommunistische Manifest ist für ihn zum Beispiel eine solche Zukunftserzählung. Aber heute, in der Spätmoderne, fehlt seiner Ansicht nach der Mut für die Vision, weil die Erzählung nur noch ein Konsumgut ist. Sie erklärt nicht mehr, warum wir im Weinberg graben oder was wir überhaupt mit unserem Leben anfangen sollen.
Der entscheidende Unterschied zu Walter Benjamins Zeit ist für Byung-Chul Han der Informationsüberschuss, in dem wir heute leben. Die Digitalisierung und die Flut der Information sind die Ursachen für die heutige Krise der Narration. Tatsächlich sind Information und Erzählung für Byung-Chul Han nämlich so etwas wie zwei einander entgegengesetzte Pole. Die Erzählung ordnet die Ereignisse und gibt ihnen eine schlüssige Form. Sie hat eine erklärende Funktion und gibt dem Erlebten und letztlich unserer gesamten Existenz einen gewissen Sinn. Im Großen leisten das die Mythen und Religionen und im Kleinen die Geschichten, die wir uns gegenseitig erzählen. Die reine Information dagegen, so wie wir sie in Nachrichtensendungen, Zeitungsmeldungen und Online-Posts konsumieren, bewirkt das genaue Gegenteil. Im Gegensatz zur Erzählung, die wir bestenfalls unseren Kindern und Enkeln weitererzählen wollen, überdauert die Nachricht nicht die Zeit, sondern ist nur für den Moment gültig. Sie ordnet und erklärt nichts, sie schafft keine Zusammenhänge, sondern zerstückelt im Gegenteil unsere Wirklichkeit in lauter unzusammenhängende Einzelteile. Die enorme Menge dieser zusammenhanglosen Wirklichkeitsschnipsel wirkt auf uns bedrohlich und sinnlos.
In der Informationsflut
Byung-Chul Han glaubt, dass wir heute stark in Richtung der Information, also dieser Sinnlosigkeit, abgedriftet sind und den Gegenpol, also das Erzählen, vernachlässigen. Es ist für ihn ein die Wirklichkeit verschleierndes Symptom dieser Einseitigkeit, dass trotzdem überall von Narrativen und Stories die Rede ist. Diese sind aus seiner Sicht eben keine Erzählungen im eigentlichen Sinne sondern eher der Informationsflut zuzurechnen. Das Standardbeispiel, das dieser Essay mehrmals nennt, ist die sogenannte Instagram-Story. Dem Namen nach eine Geschichte ist sie in Wirklichkeit nur ein dahingeposteter, flüchtig existierender Informationsschnipsel, der, wenn er überhaupt einen Zweck hat, sicher nicht dem Weitergeben einer Erfahrung sondern nur der Selbstdarstellung seines Urhebers dient. Bereits im Vorwort des Essays schreibt Byung-Chul Han:
Auch „Storys“ auf sozialen Plattformen können das narrative Vakuum nicht beseitigen. Sie sind nichts anderes als pornografische Selbstdarstellungen oder Werbung für sich. Posten, Liken und Sharen als konsumistische Praktiken verschärfen die narrative Krise.
Im ganzen Essay wimmelt es übrigens von solchen auf knappe Formeln kondensierten, zitierfähigen Weisheiten, die fast zu schön klingen, um wahr zu sein. Auf die Frage, ob sie denn wahr sind, kommen wir noch zurück.
Byung-Chul Han zeichnet jedenfalls ein ziemlich dystopisches Bild unserer Zeit. Die Bildschirme schirmen uns von einander ab und zerstören das, was früher einmal eine um das Lagerfeuer versammelte Erzählgemeinschaft war. Der Überschuss an Information verunsichert uns. Wer danach fragt, wie es dazu kommen konnte, wird in diesem Essay mit zwei Ursachen konfrontiert, nämlich einerseits dem Kapitalismus in neoliberalen Zeiten, der das Geschichtenerzählen zur reinen Verkaufsmasche pervertiert, und andererseits der Entwicklung technischer Möglichkeiten, die eine allgemeine Informationsflut begünstigen.
Zu diesem technischen Aspekt präsentiert Byung-Chul Han einen weiteren interessanten Gegensatz, nämlich zwischen dem elektronischen Datenspeicher und dem menschlichen Gehirn. Das Gehirn speichert bestenfalls nur das Wichtige und deshalb ist die Erzählung das bevorzugte Medium unseres Gehirns, weil auch sie sich auf das Wesentliche konzentriert und unwichtiges weglässt. Das Weglassen und bewusste Vorenthalten ist eine essenzielle Technik des Erzählens. Der elektronische Datenspeicher in Zeiten verfügbarer Tera- und Petabytes beschränkt sich hingegen nicht auf Wichtiges sondern speichert im Zweifelsfall einfach alles. Das Internet und seine mystische Cloud sind ein gigantischer Datenfriedhof unsortierter News und Selfies, die irgendwann einmal für einen Moment relevant waren und es nie wieder sein werden. Die nahezu unbegrenzte technische Möglichkeit des Verbreitens und Speicherns und die sich daraus ergebende schiere Menge an Information macht es unmöglich, diese zu sortieren, sie vom Unwchtigen zu bereinigen und ihr damit irgendeinen Sinn zu geben.
Freud als Erzähler
In diesem Zusammenhang wird ein alter Bekannter dieses Podcasts erwähnt. Sigmund Freud leistet in seiner hier schon besprochenen „Traumdeutung“ ja genau eine solche Ordnung der unzusammenhängenden und oft beängstigenden Schnipsel, die unsere Träume uns aus unbewussten Gedankenwelten ins Bewusstsein steigen lassen. Freuds Methode besteht genau darin, aus dem Durcheinander, das da ankommt, eine Erzählung zu machen und uns damit einen Sinn im Traum erkennen zu lassen. Das Erzählen ist bei Freud, der aus Träumen ja Indizien für psychische Krankheiten entnimmt, ausdrücklich ein Akt der Heilung. Man kann es Freud vor diesem Hintergrund vielleicht sogar verzeihen, dass seine Analysen oft so konstruiert kingen. Es genügt für den Heilungsprozess vielleicht, dass jemand die Fragmente überhaupt in irgendeine Ordnung bringt, sei die daraus entstehende Erzählung auch noch so weit hergeholt.
Aber dieses verbindende und heilende Erzählen ist es eben, was wir laut Byung-Chul Han verloren haben. Es ist in der Informationsflut untergegangen und deshalb leben wir in einer traurigen Gegenwart, der niemand mehr einen Sinn zu geben vermag. Für Sie und für mich und für all die anderen Bücherfreunde mittleren bis fortgeschrittenen Alters klingt das alles doch sehr plausibel: Die heutige Jugend interessiert sich nicht mehr für Erzählungen. Die hängen doch nur noch hinter ihren Bildschirmen und lassen sich von News und Social-Media-Posts verunsichern. So verführerisch es auch ist, eine Jugend als psychisch labil und ihre Medien, die wir Älteren vielleicht nicht mehr ganz verstehen, als den Untergang unserer Erzählkultur abzustempeln, glaube ich, dass dieses Bild, das der Essay mit etwas sanfteren Worten von unserer Gegenwart entwirft, nicht ganz stimmen kann. Ich glaube, dass Byung-Chul Han mit seiner Dystopie falsch liegt.
Indizien gegen die Krise
Dass ich das einfach so behaupten kann, liegt daran, dass der Essay zwar seinen theoretischen Rahmen mit einigen Referenzen von Benjamin über Kant, Nietzsche und Freud bis Proust untermauert, aber nicht etwa seine Anwendung auf unsere Gegenwart. Der Essay liefert keine Daten zum Nutzungsverhalten auf Social-Media-Plattformen und interessiert sich nicht für neue Erzählformate in modernen Medien, obwohl es die sicher gibt und sie für Byung-Chul Hans Schlussfolgerungen relevant sein könnten. Es ist eigentlich sogar konsequent, dass dieser Essay, der die Erzählung preist und die Information nur als erdrückende Flut wahrnimmt, eben an genau dieser Stelle auf Information verzichtet. Es würde auch nicht zum Stil dieses Weisheiten kondensierenden Textes passen, wenn da plötzlich mittendrin eine Statistik auftauchte. Byung-Chul Han verlässt sich stattdessen darauf, dass wir schon wissen, was für ein schädlicher Unsinn all diese Snapchats und Instagram-Stories sind. Er muss es uns nicht belegen sondern verlässt sich, so ist jedenfalls mein Eindruck, auf die Abneigung, die seine Leser gegen neue Medien mitbringen.
Ich will diesen Essay dafür nicht zu hart kritisieren, weil ich seine Grundgedanken wirklich interessant und auch überzeugend finde. Vor allem der Gegensatz zwischen Erzählung und Information klingt für mich sehr sinnvoll und bietet ein nützliches Muster, um die Medien der Gegenwart zu betrachten. Es mag auch sein, dass das Erzählen heute in einer Art Krise steckt, mit all den Konsequenzen, die Byung-Chul Han benennt. Ich glaube nur, dass er zu schnell zu seinem sehr negativen Urteil über unsere Zeit kommt und dass sich einige Indizien finden lassen, die das genaue Gegenteil besagen, nämlich dass das Erzählen nach wie vor in voller Blüte steht und dank moderner Medien neue Formen angenommen hat, die genau das bestärken, was der Essay am Erzählen als wertvoll heraushebt. Ich will in aller Kürze drei Beispiele geben.
Die moderne Fernseh- oder Streaming-Serie ist das ganz offensichtliche Beispiel für ein populäres Erzählformat der Gegenwart. Nehmen wir die US-amerikanische Serie „Breaking Bad“. Das ist eine Michael-Kohlhaas-artige Erzählung von einem rechtschaffenen Pferdehändler – oder vielleicht war es hier ein rechtschaffener Chemielehrer – aus dem aufgrund äußerer Umstände und der allgemeinen Ungerechtigkeit der Welt ein Schwerverbrecher wird. Das passiert hier aber nicht auf den knapp hundert Seiten einer Kleistschen Novelle, dem Medium für die kurze Aufmerksamkeitsspanne des neunzehnten Jahrhunderts, sondern in den insgesamt 62 Episoden, die im amerikanischen Fernsehen von 2008 bis ins Jahr 2013 erstmalig gesendet wurden. Die letzte Episode hatte mehr als zehn Millionen Zuschauer und es werden nicht wenige gewesen sein, die den gesamten erzählerischen Marathon über fünf Jahre hinweg verfolgten oder später in schnellerem Tempo auf einer Streaming-Plattform nachholten. Warum sollte man das tun, wenn man keine Lust auf Erzählungen hat. Es ist gerade das Erfolgsrezept solcher Seien, dass sie nicht aus zusammenhanglosen Schnipseln bestehen, sondern eine durchgehende, komplexe Handlung zeigen.
Ein Argument gegen dieses Beispiel könnte lauten, dass hier zwar erzählt aber keine Erzählgemeinschaft hergestellt sind. Wir können selbst nicht als Erzähler teilnehmen und unsere eigene Fernsehserie produzieren, sondern sind dazu verdammt, die Konsumenten dieser Produkte zu sein. Mein zweites Beispiel sind deshalb genau die modernen Plattformen, auf denen Sie gerade diesen Podcast hören und die uns nie dagewesene Möglichkeiten bieten, mit Erzählungen selbst ein Publikum zu erreichen. Das perfekte Beispiel ist der neunundzwanzigjährige kanadische Youtuber Joel Haver. Haver startete seinen Youtube-Kanal vor etwa dreizehn Jahren und wurde mit Kurzfilmen und Comedy-Sketchen bekannt, die er mit Freunden aufnahm. In den letzten Jahren hat Haver zu seiner eigentlichen Leidenschaft gefunden, nämlich dem Erzählen im Spielfilmformat. Allein im Jahr 2024 produzierte er 12 langformatige Filme, die alle auf seinem Youtube-Kanal frei verfügbar sind.
Wie in der Anfangsphase seines Kanals sind Havers Filme noch immer mit einem kleinen Freundeskreis und mit einfachsten Mitteln produziert. Wie Haver selbst in verschiedenen Videos vorrechnet, investiert er in die meisten dieser Filme ein Budget von weniger als 5000 Dollar und hätte sie unter Verzicht auf bestimmte Schauplätze oder Ausstattung auch nahezu ohne Budget herstellen können. Für Haver ist das ein wesentlicher Teil seiner Message: Jeder kann heute einen ansehnlichen Film produzieren. Wir müssen das Erzählen nicht Hollywood überlassen. Um diese Botschaft noch weiter zu unterstreichen rief Haver vor ein paar Jahren einen Filmwettbewerb ins Leben und rief sein Publikum dazu auf, während der mehrstündigen Live-Übertragung der Oscar-Verleihung nicht vor dem Fernseher zu sitzen sondern in dieser Zeit einen eigenen Film zu drehen und bei ihm einzureichen. Allein im Jahr 2024 hat Haver 800 Einsendungen empfangen. 800 Filme, produziert von hunderten oder vielleicht tausenden junger Social-Media-Konsumenten, einfach aus Spaß am gemeinsamen Filmemachen. Ist das wirklich diese Generation der Isolierten, die keinen Sinn mehr für das Erzählen hat?
Mein letztes Beispiel für Erzählformen der Gegenwart sind Computerspiele und ich will jetzt nicht, dass mit den Augen gerollt wird! Ich habe hier einen Punkt, also bitte jetzt nicht wegschalten! Natürlich ist die Handlung vieler Computerspiele eine Farce. Die Erzählung vom italienischen Klempner, der über aus dem Boden ragende Röhren springen muss, um eine Prinzessin aus den Klauen einer riseigen Schildkröte zu befreien ist zwar gewissermaßen eine Hero’s Journey, aber sicher nicht der eigentliche Grund, aus dem wir als Kinder dieses Jump-and-Run auf dem Gameboy gespielt haben. Heute gibt es aber ein ganzes Genre von Spielen, die daraus bestehen, eine komplexe Erzählung zu durchlaufen die durch den Spieler vorangetrieben wird. Der innovative Aspekt dieses Mediums im Vergleich zu klassichen Erzählformen liegt natürlich darin, dass die Aktionen des Spielers den Verlauf der Handlung beeinflussen. Der Spieler trifft für die Protagonisten des Spiels gewisse Entscheidungen und durchlebt mit ihnen dann verschiedene Versionen der Erzählung. Das Spiel ist also gewissermaßen eine komplexe, mit vielfältigen Abzweigungen ausgestattete Sammlung möglicher Erzählungen, die sich jeweils über viele Stunden erstrecken.
Ähnlich wie die Fernseh- oder Streaming-Serien handelt es sich also auch hier um ein Format für die lange Aufmerksamkeitsspanne und nicht etwa um eine kleine Nische sondern ein echtes Massenphänomen. Der schwedische Youtuber Felix Arvid Ulf Kjellberg alias Pewdiepie hatte bis vor wenigen Jahren mit mehr als einhundert Millionen Followern das größte Publikum auf der Youtube-Plattform, das er sich nicht zuletzt mit Unterstützung solcher handlungsbasierten Computerspiele aufbaute. Millionen haben diese Spiele selbst gespielt und viele weitere Millionen haben Pewdiepie und anderen dabei zugesehen.
Krise oder Medienwandel?
Das alles erweckt für mich den Eindruck, als ob wir heute nicht in einer Krise sondern in einer wahren Blütezeit der Narration leben. Die neuen Medien, die uns laut Byung-Chul Han angeblich von einander und vom Erfahrungsschatz der Vergangenheit entfremden, lassen sich eben nicht mit dem Verweis auf Snapchat oder Instagram-Stories zusammenfassen. Diese mögen zwar mit Erzählungen tatsächlich wenig zu tun haben, aber sie bilden nur ein winziges Segment, eine Karikatur einer komplexen Medienlandschaft, mit der sich dieser Essay in ihrer Vielfalt überhaupt nicht auseinandersetzen will. Erzählt wird eben nicht auf Snapchat sondern in einer ganzen Reihe anderer Formate, die Byung-Chul Han hier unerwähnt lässt.
Den Hinweis, dass mit dieser Art von Gegenwartskritik vielleicht ein struktureller Fehler begangen wird, gibt Byung-Chul Han sich in seinem Vorwort eigentlich selbst. Hier erwähnt er, dass nach der Ansicht von Walter Benjamin bereits das Aufkommen der Romane in der frühen Neuzeit ein erstes Anzeichen für den Niedergang der Narration darstellten. Im Gegensatz zu den älteren Erzählformen am gemeinsamen Lagerfeuer schirmt schon der Roman ähnlich wie der spätere Bildschirm seinen Leser von der Gemeinschaft ab, wie Bejnamin feststellt. Komisch ist nur, dass viele von uns heute die Form des Romans ganz klar als einen Höhepunkt der Erzählkunst wahrnehmen. Die älteren Formen, die Epen und Gesänge sind uns überliefert, aber gerade wegen seiner erzähllerischen Tiefe geben wir dem Roman üblicherweise den Vorzug. Vielleicht ist es also einfach ein wiederkehrendes Phänomen, dass ein neues Medium zuerst im Vergleich zum Alten wie ein Untergang des Erzählens aussieht und sich erst im Lauf der Zeit in der öffentlichen Meinung behaupten und seine eigenen Höhepunkte entwickeln kann. „Breaking Bad“ gilt schon heute als Referenzpunkt eines Genres und vielleicht werden wir oder unsere Nachfahren einmal auf die Videos von Joel Haver oder Pewdiepie als die frühen Klassiker eines Mediums zurückschauen. Es liegt nicht in unserem Ermessen, das heute vorherzusehen.
„Die Krise der Narration“ ist also ein interessanter Essay, der scharfsinnig zwischen echtem und falschen Erzählen, zwischen Weisheit und Klickbait unterscheidet. Er warnt uns zurecht vor denen, für die Storytelling nur ein Verkaufstrick ist und die uns nicht ihre Erfahrung sondern nur einen Werbeprospekt hinterlassen wollen. Zu unrecht glaubt der Essay, dass diese Leute schon jetzt das Erzählen verdrängt haben.
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