Wahlkampf mit Fremdenhass | „Die Angst vor den anderen“ von Zygmunt Bauman


Die Bundestagswahl im Februar 2025 hat eines gezeigt: Wir sind die erste Generation nach dem zweiten Weltkrieg, die es zulässt, dass eine rechtsradikale Partei wieder salonfähig wird und zur Volkspartei aufsteigt. In den 60er Jahren hat man die NPD für eine Gefahr gehalten. Ihr bestes Ergebnis auf Bundesebene waren 4,3%. Die Republikaner hatten selbst zu ihrer Blütezeit in den 90er Jahren nie mehr als 2,1%. Das alles ist lächerlich im Vergleich zu dem, was wir heute erleben. Man muss bis in die Dreißiger Jahre zurückgehen um ein Wahlergebnis einer rechtsradikalen Partei zu finden, das mit dem heutigen vergleichbar ist. Wir haben heute keine untergehende Weimarer Republik und keine Weltwirtschaftskrise zu verkraften. Wir gehen in die Geschichte als diejenigen ein, die es ganz ohne Not zulassen.

Wenn man die Rechten fragt, ist die Not natürlich sehr groß, das Land steht dicht am Abgrund und Schuld daran sind die Migranten, wer dennsonst. Es ist schon ein Phänomen, wie es einer Partei im Jahr 2025 gelingen kann, mit etwas Unterstützung einer konservativen Volkspartei, das Thema Migration zum wichtigsten Wahlkampfthema zu machen, so als hätten wir tatsächlich keine anderen Probleme. Sind wir alle jetzt vollkommen verblödet, oder wie ist so etwas möglich? Diese Frage beantwortet der Essay „Die Angst vor den anderen“ von Zygmunt Bauman. Der aus Polen stammende Soziologe und Philosoph Bauman musste allerdings nicht unseren Bundestagswahlkampf beobachten, um zu verstehen, wie Rechte mit dem Thema Migration Panik und Politik machen. Seine Analyse, die sich perfekt auf heutige Vorgänge übertragen lässt, schrieb er bereits im Jahr 2016, ein Jahr vor seinem Tod.

Am Anfang seines Textes erwähnt Bauman eine Fabel des antiken Erzählers Äsop. In dieser Geschichte haben die Hasen genug davon, am unteren Ende der Nahrungskette zu stehen. Sie beschließen, ihrem Leben, das nur aus dem Weglaufen vor stärkeren Tieren besteht, ein Ende zu machen und begeben sich an ein Gewässer, um sich gemeinsam hinein zu stürzen. Als sie an das Ufer treten, schrecken sie dabei eine Gruppe von Fröschen auf, die vor ihnen wegspringt. Dieser Anblick der verängstigten Frösche gibt dem Leben der Hasen einen neuen Sinn. Sie sind ganz begeistert, endlich Tiere gefunden zu haben, die sich vor ihnen fürchten und denen es offenbar noch schlechter geht, als ihnen selbst. Für diejenigen, die sich in der Gesellschaft ganz unten sehen, so Baumans Parallele, bietet sich das Herabschauen auf die an, denen man nicht nur ihren Besitz sondern auch ihre Heimat genommen hat. Das ist eine erste Grundlage für den Fremdenhass am unteren Rand der Gesellschaft. Denn dieses Herabschauen funktioniert natürlich nur, so lange es diesen anderen immer noch schlechter geht, als einem selbst. Es darf also auf keinen Fall irgend etwas für diese Menschen getan werden.

Die zweite psychische Grundlage der Abneigung gegen Migranten betrifft laut Bauman eine breitere Gesellschaftsschicht, der es etwas besser geht. Dort wo heutige Rechtsextreme ihre bürgerlichen Wähler finden. Diejenigen, die noch etwas zu verlieren haben, befürchten in Zeiten wachsender Prekarität, dass die Fremden kommen, um es ihnen einfach weg zu nehmen. Den Job, die Steuergelder, die Frauen und Töchter. Wie Bauman erwähnt, muss diese Angst aber nicht einmal so konkret sein, sondern kann einfach in dem diffusen Gefühl bestehen, dass mit den Migranten ein Stück von den Kriegen und Katastrophen anderer Länder wie Dreck an den Schuhen in das schöne eigene Land hineingetragen wird. Diese Wahrnehmung der Migranten als Überbringer der schlechter Nachrichten, die ein Stück vom Chaos der Außenwelt mitbringen, ist natürlich deshalb besonders pervers, weil man ihnen damit die Katastrophen anlastet, vor denen sie selbst auf der Flucht sind.

Die große Versicherheitlichung

Wenn man diese Ängste einmal kennt, ergeben also zwei offensichtliche Aufträge an die Politik: Im Inneren müsste sie die eigene Bevölkerung sozial absichern und prekären Verhältnissen entgegenwirken. Zweitens müsste sie außenpolitisch den weltweiten Krisen vorbeugen oder diese eindämmen. Für einzelne Nationalstaaten, die Bauman in globalisierten Zeiten als zu schwache Akteure und als Relikte einer überholten politischen Ordnung betrachtet, sind diese beiden Ziele aber viel zu schwierig und nahezu utopisch. Stattdessen verfolgt man also eine ganz andere Politik, die gerade für rechte Parteien ein Garant für gute Wahlergebnisse ist. Bauman nennt diese Politik die Securitization oder Versicherheitlichung der eigentlichen Probleme. Jedes Problem, dessen Wurzeln sozial oder weltpolitisch sein mögen, wird als Sicherheitsproblem umgedeutet. Zu diesem Prinzip gehört, dass man sich nach jedem Terroranschlag an ein Mikrophon begibt, um die Aufrüstung des Strafrechts, die Ausweisung der Eingereisten und die Abschottung des Landes zu verkünden. Wir kennen das sehr gut aus unserem Bundestagswahlkampf.

Die Politik der Brandmarkung und Abschottung bewirkt aber, wie Bauman betont, das genaue Gegenteil von dem, was sie zu bezwecken vorgibt und ist letztlich politischer Selbstmord. Nach außen bewirkt sie die Separation der Nationalstaaten und behindert den Zusammenschluss zu größeren Einheiten wie etwa der Europäischen Union, die vielleicht eine Chance hätten, auf globale Krisen Einfluss zu nehmen. Nach innen gibt diese Politik Migranten unmissverständlich zu verstehen, als Fremdkörper zu gelten, und erhöht damit die Erfolgschancen derjenigen, die für den nächsten terroristischen Anschlag rekruitieren. Je tiefer die Spaltung zwischen Migranten und Einheimischen ist, desto besser ist natürlich die Grundlage für terroristische Organisationen.

Zum Verhältnis zwischen Migranten und Terroristen liefert Bauman übrigens eine interessante Zahl. Im Jahr 2016 lebten in französischen Städten etwa eine Million junge Muslime. Selbst nach intensiver Suche durch französische Sicherheitskräfte gab es bei nur Tausend von Ihnen überhaupt auch nur einen Verdacht, in Kontakt mit Terroristen gestanden zu haben. Ein Verdacht bei einem Promille dieser Bevölkerungsschicht genügt Rechtsextremen für die Gleichsetzung von Migranten mit potenziellen Terroristen. Diese behauptete Verbindung spielt dann die tragende Rolle bei der Rechtfertigung, auf Migranten andere moralische Maßstäbe anwenden zu dürfen und und sie ihrem Schicksal zu überlassen. Bei moralisch denkenden Menschen führt das nach Baumans Theorie erst einmal zu einer kognitiven Dissonanz, die dann mit dem Argument behoben werden muss, dass diese Gruppe ja eine moralisch richtige Behandlung nicht verdient hat, weil es eben alles Terroristen sind, die Europa islamisieren wollen. Man lässt nicht mehr dieselbe Moral für alle Menschen gelten, sondern führt eine harte Trennung zwischen „uns“ und „den anderen“ ein.

Baumans Essay veranschaulicht diese Politik an Beispielen aus der Zeit der nach Europa kommenden syrischen Flüchtlinge um das Jahr 2016. Ein anderes Ereignis dieser Zeit ist Donald Trumps erster Präsidentschaftswahlkampf und Baumans Text ist meiner Meinung nach dort besonders interessant, wo er die Sehnsucht nach sogenannten starken Frauen und Männern in der Politik erklärt. Der wesentliche Punkt ist eine politische Umwandlung von Angst.

Angst als politisches Instrument

Bauman beruft sich hier auf den russischen Philosophen Michail Bachtin, der zwischen kosmischer und offizieller Angst unterscheidet. Kosmische Angst ist die Angst vor dem, was wir nicht beeinflussen können, vor Naturkatastrophen, Kriegen und Wirtschaftskrisen. Eine bestimmte Form von Politik bemüht sich, diese Angst in eine offizielle Variante umzuleiten, so dass die Angst durch die Befolgung von Regeln abgeschwächt werden kann. Baumans Beispiel für diesen Umwandlungsvorgang sind die zehn Gebote. Gegen die kosmische Angst vor einem zornigen Gott gibt Moses dem Volk die Gebote, mit dem Versprechen, Gott werde zufrieden sein, wenn diese Regeln befolgt werden. Aus der großen Angst vor dem Unbekannten wird damit die kleinere Sorge, diesen Regeln gerecht zu werden.

Dieses Modell, das aus der Angst befolgbare Regeln macht, funktioniert heute aber so nicht mehr und muss aus Baumans Sicht aus zwei Gründen ergänzt werden. Der erste Grund ist die sogenannte Individualisierung und ein damit verbundener Wechsel von einer Disziplinargesellschaft zur Leistungsgesellschaft. Durch diese Entwicklung wird dem Individuum immer größere Verantwortung für das eigene Scheitern übertragen. Bauman erwähnt hier, dass zwei Drittel der US Amerikaner von einem Gehaltscheck zum nächsten leben, schnell gefeuert werden können und sozial schlecht abgesichert sind. In dieser Gesellschaft genügt es nicht mehr, Regeln zu befolgen, um den eigenen Untergang zu verhindern. Man ist deshalb wieder auf der Suche nach starken, zornigen Göttern, denen man sich unterwerfen kann.

Der andere Grund ist ein Auseinanderdriften von Macht und politischer Entscheidungskompetenz in einer globalisierten Welt. Diesen Punkt sehen wir heute noch viel deutlicher hervortreten, als zur Entstehungszeit dieses Essays. Elon Musk ist mit seinem enormen Kapital und seinen Konzernen ist längst ein Global Player, der mit Nationalstaaten mindestens auf Augenhöhe spielt. Die Politik läuft dem Kapital in Sachen Globalisierung hinterher. Obwohl die entscheidenden politischen Probleme globaler Natur sind, finden die wesentlichen politischen Entscheidungsprozesse noch immer auf nationaler Ebene statt. Die Politik der vermeintlich starken Männer hält allerdings am Konzept des Nationalstaats fest und schottet sich gegen die globalen Probleme ab. Was eigentlich also eine Kapitulation vor der Globalisierung ist, verkauft sich selbst als die Lösung durch den starken, unabhängigen Staat. Wir sehen es aktuell mit Trumps bisher zumindest verbal angedeuteten Rückzügen aus der Nato, dem Ukraine-Konflikt und dem freien Handel mit westlichen Partnern.

Abgeschottet in den Untergang

Die Lösung aller Probleme durch Abschottung vor den sogenannten Anderen ist aber eine Illusion. Bauman betont, dass wir heute keine andere Wahl mehr haben, als uns im großem Stil mit einander zu arrangieren. Von einer menschheitsgeschichtlichen Perspektive gesehen ist das eine neue und sehr akute Herausforderung. Für die längste Zeit der Zivilisationsgeschichte hatten es die meisten Menschen bis vor kurzem noch täglich nur mit bekannten Gesichtern zu tun. Das Leben im Rudel, im Dorf und in den Kleinstädten, die antike und mittelalterliche Metropolen aus heutiger Sicht waren, war ein Leben unter Bekannten. Nach der Bevölkerungsexplosion und der Urbanisierung arrangieren sich heute Millionen mit einem Leben unter Nachbarn, die sie nicht kennen. Das Leben mit oder als Migranten ist damit gewissermaßen nur eine drastische Variante vom heute unvermeidlichen Leben unter Fremden. Ob wir dazu in der Lage sein werden, ist für Bauman die entscheidende Frage, die zwischen kollektivem Wohlergehen und kollektivem Untergang entscheiden wird.

Die letzten Abschnitte des Essays sind der Rolle der sozialen Medien gewidmet, die gemäß Marshall McLuhans Prognose die globale Gesellschaft eben doch wieder zum Dorf werden lassen und es scheinbar ermöglichen, statt unter Fremden nun doch wieder unter global vernetzten Bekannten zu leben. Bauman sieht in der Bildung der berüchtigten Online-Bubbles aber eine sehr negative Entwicklung, die eine Spaltung von „wir gegen die anderen“ nur wieder auf einer neuen Ebene entstehen und sich hier mit elektronischen Mitteln perfekt regulieren lässt. Wir vernetzen uns nur mit denen, die uns passen und blockieren alle anderen einfach weg. Die Online-Welt wird damit zu einem unterkomplexen Rückzugsraum, in dem wir den Problemen der Realität aus dem Weg gehen. Fruchtbare Debatten oder auch einfach nur echte Gespräche, mit denen man auf einander zugehen könnte, finden auf den Plattformen, die dafür eigentlich wie geschaffen wären, am wenigsten statt, weil diese Plattformen eben nicht das schwierige Gespräch sondern eher das markige Statement oder die zynische Attacke durch Likes und Retweets aus der eigenen Bubble belohnen. Trump ist, wie Bauman im Jahr 2016 bereits voraussieht, der perfekte Kandidat für diese Kultur. Seine aktuellen Statements in Interviews, Pressekonferenzen und auf höchster diplomatischer Ebene sind ja in jeder Hinsicht konstant auf unterstem Twitter-Level.

Am Ende des Essays deutet Bauman einen Ausweg aus der düsteren Welt der von starken Männern organisierten Abschottung an und das Rezept ist eigentlich sehr einfach: Die Rückkehr aus unseren Bubbles zurück zum verbindenden Gespräch mit denen, die uns fremd sind. Was er hier meint, ist in erster Linie wohl das Gespräch zwischen Einheimischen und Migranten. Ich frage mich, ob wir diesen Apell zum Gespräch aber heute noch auf die Überwindung einer anderen Kluft zwischen Fremden anwenden müssen, nämlich der Kluft zu den 20%, den Wählern der Rechtsextremen. Im Bundestagswahlkampf 2025 hat man sich gegenseitig verachtet und gegen einander demonstriert. In meiner Heimatstadt gab es immerhin einen Info-Stand der Rechtsextremen, der aber von der Polizei gegen Demonstranten abgeschottet wurde. Das ist nicht das Klima, in dem man mit einander reden und die Gegenseite von etwas überzeugen könnte. Daran glauben wir anscheinend nicht mehr.

Ich glaube, dass wir gerade auch die Fähigkeit verlernen, andere von der eigenen Meinung zu überzeugen. Denn Baumans Kritik an der Online-Kommunikation trifft heute natürlich noch besser zu als im Jahr 2016 und kann auf den gesamten öffentlichen Raum erweitert werden. Sowohl auf der größeren Plattform, den politischen Talkshows, als auch im kleinen, auf dem eigenen Social Media Account, spricht man nie wirklich mit dem anderen sondern meistens zu den eigenen Anhängern. Tatsächlich überzeugende Gespräche, die eben auch eine Bereitschaft voraussetzen, von der Gegenseite überzeugt zu werden, finden im öffentlichen Raum auf keiner Ebene statt. Weil sie in unserem öffentlichen, bereits hochpolarisierten Klima nicht honoriert werden, haben sie hier auch keinen Platz.

Wir haben jetzt vier Jahre Zeit um einen weiteren Aufstieg der Rechtsextremen zu verhindern. Was bisher getan wurde, hat offensichtlich nicht funktioniert und ich denke, wir müssen jetzt etwas vollkommen absurdes versuchen, das uns widerstrebt und das wir eigentlich schon verlernt haben: Wir müssen im nicht-öffentlichen Raum unangenehme Gespräche führen. Wir müssen da hingehen, wo niemand uns für unsere Ansichten auf die Schultern klopft sondern wo ihnen ganz im Gegenteil widersprochen wird. Diesen Widerspruch müssen wir uns anhören und ihn ernst nehmen. Und dann kommt vielleicht ein echtes Gespräch zustande, das jemanden umstimmen könnte.

Zygmunt Baumans Essay „Die Angst vor den anderen“ zeigt jedenfalls, wo wir aktuell stehen und dass das Problem Rechtsextremismus tief in den psychischen und weltpolitischen Gegebenheiten der Gegenwart verwurzelt ist. Was wir dem entgegensetzen können ist im Moment vielleicht wirklich nur unsere individuelle Kommunikation.


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