Mythos der Wiedergeburt | „Der junge Joseph“ von Thomas Mann

Nachdem es im ersten Roman noch ganz um den Vater Jaakob ging, beginnt im zweiten Teil von Thomas Manns berühmter Tetralogie die eigentliche Geschichte zwischen Joseph und seinen Brüdern. Joseph ist siebzehn Jahre alt und hütet zusammen mit seinen zehn älteren Brüdern die Viehherden des Vaters. Sein Verhältnis zu den Brüdern ist sehr schlecht, denn Joseph wird vom Vater bevorzugt und muss bei den Herden kaum arbeiten. Stattdessen darf er sich unter der Anleitung eines gebildeten Knechts mit Literatur und mit religiösen Theorien über seinen Vorfahren Abraham und dessen Gott beschäftigen.

Den Grund für diese Ungleichbehandlung kennen wir aus dem ersten Roman. Joseph ist der Sohn von Jaakobs geliebter und bereits verstorbener Frau Rahel, während seine älteren Brüder von Rahels Schwester Leah und von anderen Frauen stammen, die für Jaakob immer nur die zweite Wahl waren. Jaakob kann wegen Rahels Schicksal nicht anders, als Joseph zu bevorzugen und Joseph, dem jedes Gespür dafür fehlt, dass seine Brüder auf ihn neidisch sein könnten, macht es durch sein sorgloses Verhalten nur schlimmer. In seiner Naivität erzählt er den Brüdern von seinen Träumen, die im Wesentlichen ausdrücken, dass er sich selbst für etwas besonderes hält. Aus dem alten Testament ist Josephs Traum von den Getreide-Garben seiner Brüder bekannt, die sich auf dem Kornfeld vor Josephs eigener Garbe verneigen. Während der verwöhnte Lieblingssohn Joseph diese Dinge unbesorgt herausplaudert, weil er sich nicht vorstellen kann, dass irgendwer ihn nicht so vergöttert wie sein Vater, kochen die Brüder innerlich vor Zorn und tun das, was man in solchen familiären Krisen typischerweise tut. Sie ziehen sich mit ein paar Viehherden ins Hinterland zurück, weit genug weg vom Elternhaus, um die Verhätschelung ihres Bruders nicht weiter ansehen zu müssen.

Die Lage eskaliert schließlich, als Jaakob die nicht sehr schlaue Idee hat, ausgerechnet Joseph als Boten zu den verbitterten Brüdern zu senden um sie nach Hause zurückzuholen. Joseph erhält den Auftrag, sehr höflich zu den Brüdern sein und sie um ihre Heimkehr zu bitten. Der naive Joseph reitet los und als er nach einer mehrtägigen Reise bei den Brüdern und ihren Herden ankommt, hält er es für passend, ausgerechnet in einem besonders opulent besticktes Kleidungsstück angeritten zu kommen, das seiner Mutter als Hochzeitskleid gedient hat. Dieses besondere Familienerbstück sollte ihm eigentlich gar nicht gehören, aber er hat es dem Vater abgeschwatzt und trägt es jetzt zum Anlass des Wiedersehens mit den Brüdern. Um alles noch schlimmer zu machen, klingen seine ersten ungeschickt gewählten Worte zur Begrüßung der verwunderten Brüder dann überhaupt nicht nach Versöhnung sondern wecken eher den Eindruck, der Vater habe ihn geschickt, um sie bei den Herden zu kontrollieren.

Als die Brüder Joseph so ankommen sehen, rasten sie aus. Sie reißen ihm das kostbare Gewandt vom Leib, verprügeln ihn und werfen ihn gefesselt in einen in der Nähe stehenden Brunnen. Darin liegt Joseph drei Tage lang während die Brüder beraten, was sie mit ihm tun sollen. Immerhin sind sie sich einig, dass sie ihn nicht umbringen. Aber sie wollen ihn auch nicht einfach zum Vater zurückgehen lassen. Joseph würde dort alles erzählen und damit wäre ihre Versöhnung mit dem Vater für immer unmöglich. Am liebsten wäre es den Brüdern, wenn Joseph einfach aus ihrem Leben verschwände und sie dem Vater erzählen könnten, ein wildes Tier habe ihn getötet. Diese Möglichkeit wird plötzlich real, als nach dem dritten Tag eine Gruppe reisender Händler auftaucht und Joseph im Brunnen findet. Die Händler befreien Joseph und stoßen dann auf die Brüder, denen dieser Gefangene aus dem Brunnen zu gehören scheint. Sie kaufen Joseph den Brüdern als Sklaven ab und mit Joseph scheint sich hier bereits verändert zu haben. Mit stoischer Ruhe sieht er dabei zu, wie die Brüder sein Schicksal mit den Fremden verhandeln und ohne jeden Widerstand begibt er sich mit den Händlern auf die Reise in Richtung Ägypten.

Joseph und Adonis

In diesem zweiten Roman setzt Thomas Mann also die aus dem Buch Genesis stammende Handlung fort und führt den Protagonisten Joseph als einen zwar sympathischen aber naiven und verwöhnten Teenager ein. Vor allem fährt Mann damit fort, die biblische Geschichte zu interpretieren und mit dem weiteren historischen und mythischen Kontext in Verbindung zu setzen. Im ersten Roman des Zyklus hatte Thomas Mann die wichtigsten Wendepunkte im Leben Jaakobs als Wiederholungen uralter Muster identifiziert, wie etwa dem Brudermord von Kain an Abel. Diese Deutungsweise setzt er hier nun mit Joseph fort. Josephs Gefangenschaft im Brunnen ist für Thomas Mann nicht einfach irgendein unschöner familiärer Zwischenfall, sondern genau ein solches mythisches Muster mit einer tiefen religiösen Bedeutung.

Um diese Interpretation vorzubereiten, lässt Thomas Mann seinen Joseph bevor er im Brunnen landet zusammen mit seinem jüngeren Bruder Benjamin einen Spaziergang unternehmen. Der achtjährige Benjamin ist der einzige Bruder, mit dem Joseph sich versteht. In der Nähe ihres Elternhauses wandern sie zu einer Anbetungsstätte für den Gott Adonis und Joseph erklärt Benjamin ein Ritual, das die Einheimischen dort jedes Jahr zelebrieren. Das Ritual beginnt damit, dass einer Skulptur, die Adonis darstellt, eine Wunde aufgemalt wird. Die Gläubigen betrauern dann den Tod des Gottes und setzen die Figur in einer Grabkammer bei. Drei Tage später lassen sie dann den symbolischen Leichnam aus dem Grab verschwinden und zelebrieren ein mehrtägiges Fest der Auferstehung.

Dieses Gespräch, in dem Joseph seinem kleinen Bruder das Ritual erklärt, mit dem Thomas Mann ganz bewusst Parallelen zum Osterfest andeutet, ist einerseits wohl dazu da, uns die beiden sympathischeren von Jaakobs Söhnen etwas näher zu bringen, aber vor allem stellt diese Epsiode eine Verbindung zwischen Adonis und Joseph her, die diesem auch selbst bewusst zu sein scheint. Adonis ist heute in erster Linie aus der griechischen Mythologie als der Inbegriff des schönen Mannes und Geliebter der Aphrodite bekannt. Auch bei Joseph handelt es sich, wie Thomas Mann immer wieder betont, um einen außergewöhnlich gutaussehenden jungen Mann. Entscheidend ist aber das Motiv der Auferstehung, das Mann wohl aus einer phönizischen Version des Adonis-Kults aufgreift. Die Auferstehung nach drei Tagen in der Grabkammer ist in Manns Darstellung eine Parallele zu Josephs späterer Befreiung nach drei Tagen im Brunnen und gleichzeitig zur Auferstehung im neuen Testament. Josephs Rettung durch die reisenden Händler, die in den Brunnen steigen um ihn nach oben zu holen, wird auch später im Zyklus immer wieder mit einer zweiten Geburt gleichgesetzt. Wie im ersten Roman hebt Thomas Mann hier also ein mythisches Wiederholungsmotiv hervor und dieses Motiv, das den gesamten Roman dominiert, ist nun das entscheidende in dieser Geschichte. Die Motive des ersten Romans wirken jetzt fast wie Übungsaufgaben, die Thomas Mann zur Einstimmung vorangeschickt hat, damit wir auf das eigentliche Motiv der Wiedergeburt oder Auferstehung vorbereitet sind.

Tod und Wiedergeburt

Diese Lesart von Josephs Gefangenschaft im Brunnen als Tod und Wiedergeburt verbindet Thomas Mann noch mit einem weiteren Motiv, nämlich mit dem des antiken Opferrituals. Auf seinem Spaziergang mit Benjamin schmückt Joseph seine Haare bewusst mit Myrtenzweigen, die üblicherweise als Opferbeigaben verwendet wurden. Trotz seiner Naivität scheint Joseph sein Schicksal zu ahnen und der Gedanke von Joseph als Opfergabe passt tatsächlich genau zu den späteren Ereignissen am Brunnen. Denn die älteren Brüder stehen dann ja vor der Wahl, ihn zum Vater zurückkehren zu lassen und sich damit selbst für immer vom Vater getrennt zu wissen, oder Joseph zu opfern, um selbst zum Vater zurückkehren zu können. Joseph nimmt hier die klassische Rolle des antiken Opfertieres ein, durch das ein Bündnis zwischen Mensch und Gott – oder in diesem Fall den Söhnen und dem Vater – erneuert werden soll.

Was Thomas Manns Deutung von Joseph im Brunnen als Tod und Auferstehung betrifft, gibt es einen Aspekt dieser Geschichte, der auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheint. Wir sind hier erst im zweiten Roman der Tetralogie und Josephs Geschichte hat gerade erst begonnen. Tod und Auferstehung des Helden würde man aber doch eher am Ende einer Geschichte erwarten. Warum steht beides in Josephs Geschichte am Anfang und was soll danach überhaupt noch kommen? Diese Frage lässt sich beantworten, wenn man noch einen weiteren Mythos hinzunimmt, den der Phychoanalytiker Carl Jung in seinem Buch „Symbole der Wandlung der Libido“ als den Prototyp des Heldenmythos überhaupt hervorhebt.

In diesem Werk, das etwas mehr als ein Jahrzehnt vor den Josephsromanen entstand und das ich hier vor einer Weile auch besprochen habe, beschreibt Carl Jung den in mehreren antiken Kulturen verbreiteten Sonnenmythos, der einfach darin besteht, dass die Sonne als Gott oder Held identifiziert wird, der am Abend im Meer versinkt und in einer sogenannten Nachtmeerfahrt unter der Erde hindurch wandert, um am nächsten Morgen im Osten neu aufzuerstehen. Dieses einfache, am Sonnenlauf beobachtete Grundmuster sieht Jung in allen Kulturen der Welt in der Form von herabsteigenden und wieder neu geborenen Göttern oder Helden wiederkehren, sei es in Gestalt des ägyptischen Gottes Osiris, der zu Monstern hinabsteigenden und siegreich zurückkehrenden Helden Herakles und Siegfried, des im Walfischbauch hinabtauchenden biblischen Jonas oder schließlich dem gekreuzigten und auferstehenden Christus. Der am Lauf der Sonne vorexerzierte Abstieg in Tod und Gefahr mit anschließendem Wiederaufstieg ist für Carl Jung die universelle Vorlage für verschiedenste Mythen, Sagen und Erzählungen der Weltgeschichte und beschreibt genau das, was man heute als „heroes journey“ bezeichnet. Für Jung hat dieses Schema darüber hinaus noch sehr viel mit einem Kampf gegen die inneren Dämonen und die Mächte des Unbewussten zu tun.

Wenn wir dieses Schema auf Joseph übertragen, wissen wir also, was im dritten Roman zu erwarten ist. Joseph ist zwar aus dem Brunnen befreit, aber aus Sicht der Brüder und vor allem seines Vaters, dem die Brüder erzählen, er sei tot, ist Josephs Sonne erst einmal versunken und begibt sich auf unterirdische Nachtmeerfahrt. Zu diesem Bild passt es, dass Thomas Mann Ägypten als das sehr fremde, weit entfernte Land einführt, in dem die Toten verehrt werden. Josephs eigentliche Auferstehung aus Sicht des Vaters wird also erst mit seiner Rückkehr aus diesem Totenreich vollzogen sein.

Carl Jungs Einfluss

Es scheint übrigens nicht ganz unwahrscheinlich, dass Carl Jungs Theorien die Josephsromane direkt beeinflusst haben könnten. Kurz vor dem Beginn seiner Arbeit an diesen Romanen schrieb Thomas Mann im Jahr 1925 für einen wiener Verlag den Text „Mein Verhältnis zur Psychonalyse“ und beschäftigte sich hierfür mit Arbeiten von Freud und Jung. Mit dem gleichaltrigen Carl Jung stand Thomas Mann in den zwanziger Jahren wohl auch persönlich in Kontakt und hatte ihn mindestens einmal in München getroffen. In den dreißger Jahren distanzierte sich Mann dann von Jung, wahrscheinlich weil er eine klare Verurteilung der Nazis bei ihm vermisste. Thomas Mann schreibt in einem Brief über Jung: „Seine Haltung gegenüber den Nazis war anfangs sehr zweifelhaft und mehr als das. Literarische Beziehungen haben nie bestanden.“ Trotz dieser vielleicht nur scheinbaren politischen Differenz sehen manche aber Thomas Manns Werk generell näher bei Jung als bei Freud und ich denke, dieser zweite Josephsroman ist dafür ein gutes Beispiel.

Eine letzte Bemerkung noch zur Figur Joseph, die wir dann im dritten Roman ohne seine Brüder nach Ägypten begleiten sollen. Mit seinem Hang zum Träumen, Philosophieren und Erzählen führt Thomas Mann diesen Protagonisten hier als eine der sogenannten Künstlernaturen ein, die in Manns Werk als Stellvertreter seiner selbst immer wieder auftauchen. Joseph kann im Gegensatz zu seinen Brüdern überhaupt schreiben, er beschäftigt sich mit den Geschichten der Vergangenheit und im dritten Roman wird es für seine Laufbahn eine entscheidende Rolle spielen, dass er mächtigen Leuten am Abend auf besonders kreative Weise und mit besonders schönen Worten eine gute Nacht wünschen kann. Diese selbstironische Darstellung des Schriftstellers als den kreativen Gute-Nacht-Sager gehört zu den vielen kleinen Pointen, die „Joseph und seine Brüder“ zu einem stellenweise sehr witzigen – oder wie es bei Thomas-Mann-Rezensenten üblicherweise heißt: zu einem heiteren Werk machen.

Diese Leichtigkeit des Werkes ist Thomas Mann bei allem mythisch-religiösen Ballast spürbar wichtig und an der Stelle, an der die Brüder Joseph verprügeln und fesseln, greift seine Erzählstimme sogar direkt ein und bittet den Leser um Nachsicht für diese Grausamkeit. Joseph sei diesen erwachsenen Männern, die alle ihre eigenen Sorgen haben, schließlich enorm auf die Nerven gegangen und während wir Joseph und Benjamin besonders mögen sollen, will Thomas Mann es so, dass wir die älteren Brüder trotz allem nicht hassen. Selbst die archaische Sitte, den eigenen Bruder als Sklaven zu verkaufen, sollen wir im Kontext der Zeit verstehen und mit Nachsicht beurteilen. Es gelingt Thomas Mann insgesamt tatsächlich sehr gut, den harten biblischen Stoff in diese leichte und unbeschwerte Geschichte umzuwandeln, auf die er mit seiner Tetralogie offensichtlich hinaus will.

„Der junge Joseph“ ist in diesem Zyklus also der Roman, der Joseph als naiven Plauderer einführt und ihm das Tod und Auferstehung symbolisierende Ereignis zustoßen lässt, das ihn dann im dritten Roman als einen ganz anderen Charakter zeigen wird. Josephs „heroes journey“ ist damit vorgezeichnet und in den nächsten Episoden werden wir sehen, wie Thomas Mann sie durch das Totenreich Ägypten fortsetzt und ob er die gesunkene Sonne am Ende wieder aufgehen lässt.


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