Ouvertüre | „In Swanns Welt“ von Marcel Proust

Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ist eine Erzählung mit autobiographischem Charakter, in der ein Ich-Erzähler namens Marcel, der stark an Marcel Proust erinnert, im Frankreich des späten neunzehnten Jahrhunderts aufwächst und in das höhere pariser Gesellschaftsleben eingeführt wird. Die Erzählung besteht aus sieben umfangreichen Romanen, die zwischen 1913 und 1927 erschienen sind. Die letzten drei Bände wurden erst nach Prousts Tod von seinem Bruder veröffentlicht. Für Proust, der in seinen letzten Lebensjahren an schwerem Asthma litt und ahnte, dass er jung sterben würde, war „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ das Haupt- und Lebenswerk, das er unbedingt vor seinem Tod abschließen wollte. Er schrieb es in einem mit Kork-Vertäfelung gegen die Außenwelt abgeschirmten Schlafzimmer auf dem Krankenbett zu Ende. Heute gehört diese Erzählung zu den bedeutendsten Werken der Weltliteratur.

„In Swanns Welt“ ist der erste Roman dieses Zyklus. Er beginnt mit Kindheitserinnerungen des hier noch sehr jungen Marcel und handelt außerdem von einem Freund seiner Eltern namens Charles Swann. Der Roman besteht aus zwei großen, sehr gegensätzlichen Teilen, und einem kürzeren Schlussteil, der die ersten beiden mit einander in Verbindung setzt. Im ersten Teil, der knapp die erste Hälfte des Buches ausmacht, lernen wir das ländliche Dorf Combray kennen, in der Marcel Teile seiner Kindheit verbringt. Mit seinen Eltern, die eigentlich in Paris leben, hält er sich dort in Schulferien bei Verwandten auf, zuerst bei seinen Großeltern und später dann bei Tante Leonie und ihrer Haushälterin Françoise.

Bei den Großeltern ist Abends oft dieser Charles Swann zu Besuch, ein alter Bekannter der Familie, der in der Nähe ein Stück Land besitzt und dessen Vater schon mit Marcels Großvater befreundet war. Swann ist ein reicher Antiquitätenhändler und Kunst-Kenner. Für den kleinen Marcel sind Herrn Swanns Besuche eher lästig, weil er dann immer früh ins Bett muss und seine Mutter sich mit dem Gast unterhält, statt zu ihm zu kommen und ihm einen Gute-Nacht-Kuss zu geben. Als die Familie nach einer Weile erfährt, dass Herr Swann mit einer sogenannten Kokotte zusammen lebt, also mit einer Frau, über die man heute wahrscheinlich sagen würde, dass sie sich von verschiedenen Sugar-Daddies Geschenke machen lässt, lädt man ihn nicht mehr ein und bricht den Kontakt zu ihm ab.

Proust beschreibt in diesem ersten Teil des Romans sehr ausführlich den Ort Combray, seine Kirche, seine Bewohner, seine Geschichte und die Gegend um den Ort herum. Die Erzählung ist hier eine Zusammenstellung aus einzelnen Szenen einer Kindheit, die nicht in einer bestimmten Reihenfolge stehen sondern eher collagenhaft das Typische an dieser Zeit zeigen. Vor allem unternimmt Marcels Familie von Combray aus immer wieder Spaziergänge in Richtung der Nachbarorte Meseglise und Guermantes, auf denen sie verschiedene Dorfbewohner treffen, die der Leser auf diese Art kennenlernt. Auf einem dieser Spaziergänge begegnen sie Swanns Tochter Gilberte, in die sich Marcel sofort verliebt. Da der Kontakt zu Swann aber bereits abgebrochen ist, hat Marcel zunächst keine Gelegenheit, Gilberte kennen zu lernen.

In der zweiten Hälfte des Romans wird Charles Swann zur Hauptfigur und die Handlung springt weit zurück in eine Zeit vor Marcels Geburt. In Paris lernt Swann die elegante Odette de Crécy kennen. Obwohl sie eigentlich nicht sein Typ ist, verliebt er sich in sie und um sie näher kennenzulernen, beginnt er, im Salon des Ehepaars Verdurin zu verkehren, in dem Odette Stammgast ist. Die Verdurins veranstalten mit einem Kreis aus Künstlern und bürgerlichen Gästen regelmäßige Abendgesellschaften, auf denen Musikstücke vorgeführt, Kalauer erzählt und Gerüchte über Außenstehende verbreitet werden. Für den eleganten Swann, der mit dem Prince of Wales befreundet ist und im französischen Hochadel von Marquisen und Prinzessinnen auf Parties eingeladen wird, ist dieser eher mittelmäßige Salon eigentlich ein gesellschaftlicher Abstieg. Es gelingt ihm dort aber, Odette für sich zu gewinnen. Seine Liebe zu ihr wird allerdings schon bald durch Gerüchte belastet, Odette verkehre im pariser Halbweltmilieu und sie habe erotische Beziehungen zu anderen Männern. Verzweifelt versucht Swann zu erfahren, ob die Gerüchte über das Doppelleben seiner Geliebten wahr sind.

Innerlichkeit

Vor kurzem erst habe ich auf einem anderen Literaturkanal auf Youtube den Vorwurf gehört, dass in Prousts Romanen eigentlich nicht passiere. An der Oberfläche betrachtet ist das wohl so. Der Abschnitt über Combray ist so ereignisarm wie ein entspannter Landuraub bestenfalls sein kann und in Swanns Liebesgeschichte gibt es zwar ein paar Wendungen, die sich aber in ein paar Sätzen zusammenfassen lassen. Wenn es nur um diesen äußerlichen Plot ginge, den ich gerade sehr kurz beschrieben habe, wäre der Vorwurf gerechtfertigt. Es ist aber das entscheidende Merkmal dieses Romans und des gesamten Zyklus, dass Proust den Schwerpunkt durchgehend auf die innerlichen Vorgänge legt. Was der kleine Marcel genau empfindet, wenn er vergeblich auf den Gute-Nacht-Kuss der Mutter wartet oder einen bestimmten Satz seines späteren Lieblingsschriftstellers Bergott liest, wie genau er den Blick wahrnimmt, mit dem Gilberte ihn bei ihrer ersten Begegnung ansieht, oder was in Swann vorgeht, als er auf einer Abendgesellschaft plötzlich die Melodie hört, die er mit seiner Liebe zu Odette verbindet, das ist es, worum es hier geht. Was diese inneren Bewusstseinszustände und Gefühlsbewegungen seiner Protagonisten betrifft, ist dieser Roman ausgesprochen ereignisreich und Proust beschreibt, seziert und analysiert diese Vorgänge bis in ihre letzten Details.

Neben dieser konsequenten Innerlichkeit rührt die Besonderheit dieses Romans und der Grund dafür, dass er nicht gerade das zugäglichste Werk ist, außerdem daher, dass er im Gesamtkontext von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ eine bestimmte Funktion erfüllen muss. Wenn dieser Roman nur für sich stünde, wäre es ja ziemlich ungewöhnlich, dass er in seinem ersten Teil statt direkt in eine Handlung einzusteigen beinahe gar keine Handlung vorantreibt, sondern sich alltäglichen Vorgängen widmet, die anscheinend nur der Beschreibung des Dorfes Combray und seiner Umgebung dienen. Und nachdem der Protagonist Marcel eingeführt wurde, kann man sich fragen, warum der Roman dann in seiner zweiten Hälfte in der Zeit zurückspringt und sich auf eine Liebesgeschichte eines ganz anderen Protagonisten namens Swann konzentriert. Für sich genommen ergibt das wenig Sinn, aber im Hinblick auf die späteren Romane hat beides eine klare Funktion.

Der irritierend handlungsarme Abschnitt über Combray ist für die gesamte „Suche nach der verlorenen Zeit“ nämlich so etwas wie eine Ouvertüre. Ganz ähnlich wie eine typische Ouvertüre einer Oper beginnt hier die eigentliche Handlung noch nicht, sondern es werden erst einmal alle Motive andeutet, die später eine Rolle spielen werden. Eine ganze Reihe von wichtigen Personen und Schauplätzen der späteren Romane werden hier bereits erwähnt und manche bereits ausführlich eingeführt. Bei einem Festakt in der Dorfkirche bewundert der kleine Marcel beispielsweise die stolze Herzogin von Guermantes, in deren Gesellschaft er später einmal verkehren wird und hinter der ersten Begegnung mit Gilberte wird drohend wie ein Schatten bereits der berüchtigte Baron de Charlus angedeutet.

Der zweite Teil über Swanns Liebesbeziehung setzt dann einerseits die einführende Funktion der Ouvertüre fort, indem er mit dem Salon der Verdurins weitere Personen vorstellt, die später wichtig sein werden. Gleichzeigig beginnt Proust mit diesem Teil aber seine chronologische Erzählung und dass sie vor der Geburt des eigentlichen Protagonisten also mit der Generation seiner Eltern einsetzt, passt zum biographischen Charakter von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Die Geschichte von Swann ist die Vorgeschichte und in mancher Hinsicht auch ein Vorgriff auf die spätere Liebesbeziehung der eigentlichen Hauptfigur Marcel. Swann fungiert hier als eine Art doppelter Stellvertreter, einerseits für den Vater Marcels, von dem eine tatsächliche Biographie an dieser Stelle gehandelt hätte, und auch für Marcel selbst, denn wie es an mehreren Stellen heißt, haben er und Swann vieles gemeinsam.

In diesem Zusammenhang zwischen Marcel und Swann wird bereits Prousts Vorliebe dafür deutlich, reale Personen auf mehrere Romanfiguren aufzuteilen oder umgekehrt, einzelne Romanfiguren aus den Eigenschaften mehrerer realer Personen zusammen zu setzen. Sowohl Marcel als auch Charles Swann sind in gewisser Hinsicht, und zwar wohl vor allem hinsichtlich ihrer Leidenschaften, Inkarnationen von Marcel Proust selbst. Leute, die in Prousts Biographie sehr bewandert sind, haben in Swanns geliebter Odette eine Kurtisane wieder erkannt, mit der Proust befreundet war und in Gilberte verschiedene Jugendfreundinnen Prousts. In der Figur Swann steckt außer Proust selbst angeblich auch ein gewisser Charles Haas, ein sozialer Aufsteiger aus Prousts Bekanntenkreis, der trotz seiner bürgerlichen Herkunft in höchsten Adelkreisen verkehrte. Auf den aus dieser Zeit überlieferten Porträtfotographien sieht dieser Haas tatsächlich so aus, wie man sich einen Swann nach Prousts Beschreibung vorstellen würde.

Drei große Themen

Man tut diesem weitläufig und komplex erzählten Roman eigentlich keinen Gefallen, wenn man ihn irgendwie strukturieren und portionieren will. Ich denke, es lassen sich in dieser Ouvertüre aber drei große Themen erkennen, die hier eingeführt werden und die in der gesamten „Suche nach der verlorenen Zeit“ wichtig sein werden. Das erste, das eine Art Rahmen um diesen Roman und auch um den gesamten Zyklus setzt, ist das Thema Erinnerung. Über den berühmten ersten Satz „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“ beginnt Proust sein Werk mit einem langen Abschnitt darüber, wie der Schlaf unerwartete Erinnerungen hervorrufen kann, besonders in den ersten Sekunden nach dem Aufwachen, wenn wir manchmal im ersten Moment noch nicht wissen, wo wir uns überhaupt befinden. Von diesen Momenten der Orientierungslosigkeit, in denen wir glauben, in einem anderen Zimmer aufzuwachen, in dem wir vielleicht früher einmal gelebt haben, kommt der Erzähler zu seinen Kindheitserinnerungen in Combray, aus der Zeit als er auf den Gute-Nacht-Kuss der Mutter warten musste. Von Anfang an wird das Erzählte also deutlich als eine erinnerte Vergangenheit gekennzeichnet.

Diese durch den Schlaf in Erinnerung gebrachten Szenen aus der Kindheit sind aber nur ein erster Schritt. Die eigentliche Tür zur Vergangenheit öffnet sich für Marcel erst durch die Madeleine, in der Schweiz auch Schmelzbrötchen genannt, das berühmteste Gebäck der Weltliteratur, das Marcel in eine Tasse Lindenblütentee taucht und durch dessen Geschmack sich ihm die ganze Erinnerung an Combray öffnet. Es ist schon eine geniale Szene, wenn er zuerst bei diesem Geschmack überhaupt nicht weiß, warum er ihn so besonders findet und erst nach mehreren angestrengten Anläufen endlich herausfindet, dass es diese Kombination aus schwarzem Lindenblütentee und Madeleine war, die ihm seine Tante Leonie immer angeboten hatte. Daraus öffnet sich vor seinen Augen der Ort Combray und die vollständige Erinnerung an seine Kindheit wie eine Märchenwelt. Die zurückgewonnene Erinnerung wird in diesem Roman wie ein Triumph gefeiert, aber von Anfang an liegt darin auch eine Melancholie, die besonders am Ende des Buches und auch im letzten Band des Zyklus stark hervortritt.

Das zweite große Thema betrifft, was sich zu erinnern besonders lohnt, und das sind für den Erzähler Marcel die großen Leidenschaften, einerseits für die Frauen und andererseits für die Kunst. Beides hängt in diesem Roman untrennbar mit einander zusammen. Die kindliche Verliebtheit des jungen Marcel für Gilberte Swann ist eng mit seiner Bewunderung für den Schriftsteller Bergotte verknüpft, einer Figur, die, wenn man manchen Proust-Kennern glauben will übrigens durch Anatole France inspiriert sein soll. Marcel lernt Bergottes Werke zuerst durch eine Empfehlung seines Schulfreunds Bloch kennen. Als er erfährt, dass die Familie Swann mit Bergotte befreundet ist, idealisiert er Gilberte schon bevor er sie wirklich kennenlernt zu einem höheren Wesen, weil sie in Gesellschaft dieses schriftstellerischen Genies aufwächst.

Swanns Liebe zu Odette, die gewissermaßen einen erwachsenen und sehr viel komplexeren Gegenpart zu Marcels kindlicher Verliebtheit darstellt, ist mit einem Musikstück verknüpft, einer Sonate, die ein Klavierlehrer namens Vinteuil komponiert hat. Dieser Herr Vinteuil war mit Marcels Familie bekannt und man erfährt im Abschnitt über Combray einiges über sein problematisches Verhältnis zu seiner Tochter. Swann weiß nichts von Vinteuil, aber er hört seine Sonate, als sie im Salon der Verdurins gespielt wird. Weil sie weiß, dass es ihrem Gast besonders gefällt, lässt Madame Verdurin das Stück immer wieder für Swann und Odette spielen und es wird so zum Soundtrack ihrer Liebe. Als die Beziehung sehr viel später schon durch eine ganze Reihe von Höhen und vor allem auch Tiefen gegangen ist, hört Swann die Sonate in einem anderen Kontext noch einmal. Weil er selbst jetzt in Bezug auf Odette an einer zerstörerischen Eifersucht leidet, hört er das Stück diesmal auf eine ganz andere Weise und ihm wird jetzt erst bewusst, dass darin ein tiefer Schmerz ausgedrückt wird.

Es sind diese Pointen, auf die Proust hianus will, denn der Leser, der im Abschnitt über Combray einiges über den Komponisten Vinteuil erfahen hat, weiß im Gegensatz zu Swann genau, von welchem Schmerz die Rede ist. Das Kunstwerk stellt in diesem Moment eine besondere Verbindung zwischen zwei Menschen her, die nichts von einander wissen. Was sie tatsächlich verbindet, ist eine gemeinsame Empfindung, ein Bewusstseinszustand, in diesem Fall ein gemeinsamer Schmerz, der im Kunstwerk verewigt ist. Gegen Ende des Romans ist mir ein Halbsatz aufgefallen, der eigentlich aus einem anderen Kontext stammt, aber der mir für diese Art der von Proust besonders hervorgehobenen Verbindung zu passen scheint. Er lautet: „Ich war nur auf das aus, was mir wirklicher schien, als ich selbst mir vorkam[…]“. Kunstwerke, die wie die Sonate von Vinteuil eine wahre Empfindung enthalten, gehören für Proust offenbar in eine höhere, transzendente Sphäre der Wirklichkeit. Sie sind wirklicher als ihr reiner Klang und sogar als diejenigen, die ihn hören. Er vergleicht sie mit Gottheiten, die wir beim Hören in unsere Seele aufnehmen. Über das Stück von Vinteuil schreibt er:

Sein Los war von da mit der Zukunft, der Wirklichkeit unserer Seele verknüpft, zu deren erlesensten und kompliziertesten Besitztümern es gehörte. Vielleicht ist das Nichts das Wahre, und all unser Träumen hat kein wirkliches Sein; dann aber wissen wir aus dem Gefühl, daß diese musikalischen Ideen und alles, was in Beziehung auf sie entsteht, ebenfalls nichts ist. Wir gehen dahin, doch als Geiseln haben wir diese Gefangenen göttlichen Geschlechts, die unser Schicksal teilen. Der Tod mit ihnen aber hat weniger Bitternis, ist weniger ruhmlos, ja er erscheint vielleicht nicht einmal mehr so gewiß.“

Man kann der Kunst wohl keinen höheren Stellenwert geben, als es in Prousts Werk geschieht. Für ihn selbst – und, spoiler alert, auch für seinen Erzähler Marcel – ist das Erschaffen eines großen Kunstwerks buchstäblich der Sinn des Lebens und die Teilhabe an den Werken anderer Künstler ist für ihn eine Aufwertung des eigenen Selbst, das bis an die Unsterblichkeit der Seele heranreicht.

Das dritte große Thema des Romans und des Romanzyklus ist ein melancholisches Rückblicken und Abschiednehmen von der sogenannten „Belle Époque“, von der Kultur und Gesellschaft der in diesen Romanen beschriebenen Jahrzehnte vor dem ersten Weltkrieg. Als die Romane erscheinen, liegt diese Epoche bereits unwiderbringlich in der Vergangenheit, in der Welt der Erinnerung. Das ist neben Marcels ganz persönlichen erst verlorenen und dann doch wieder aufkommenden Erinnerungen die andere und damit natürlich eng verknüpfte Deutung von verlorener und wiedergefundener Zeit. Wenn Proust dieser Zeit vor allem am Ende des Romans nachtrauert, geht es ihm durchaus auch um das Oberfächliche, um die eleganten Roben der Frauen und um die Gewohnheit der Männer, nie ohne Hut das Haus zu verlassen.

Was die Salonkultur betrifft, die mit dieser Epoche ebenfalls untergeht, lernt man in diesem Roman mit dem Salon der Verdurins erst einmal die bürgerliche Variante kennen, in der Hausärzte und Verwaltungsbeamte verkehren. Als Swann gegen Ende des Romans eine Abendgesellschaft in höheren Adelkreisen besucht, wird aber angedeutet, dass es diese Kultur auch noch auf einem ganz anderen Niveau gibt. Für Proust geht es hier tatsächlich um die Unterscheidung eines geistigen Niveaus. Swann führt an diesem Abend mit der aus der Adelsfamilie Guermantes stammenden Prinzessin des Laumes ein Gespräch, das als besonders gewitzt und elegant gelten soll, wie um einen Kontrast zu den Kalauern des Salons der Verdurins zu setzen.

In seiner Beschreibung dieses Gespräches erwähnt Proust zum ersten mal den in späteren Romanen immer wieder zitierten Geist der Guermantes, eine besonders feine Form von Ironie, Gewitztheit oder Esprit, die Mitglieder dieser Familie in ihren Gesprächen zu kultivieren glauben. Dieser Geist, also dieses zumindest behauptete, vielleicht einfach nur eingebildete höhere Niveau, das Proust in den Konversationen mit den Guermantes abzubilden versucht, ist in dieser Epoche schon beinahe der einzige Vorsprung, der dem Adel noch vor dem aufstrebenden Bürgertum geblieben ist und der am Ende auch verschwinden wird. Das ganze Werk kann als ein wehmütiger Abschied von der französischen oder europäischen Adelsgesellschaft gelesen werden, die in der Zeit, um die es hier geht, ein letztes mal der kulturelle Mittelpunkt der Welt war.

Leider „kein Talent“

„In Swanns Welt“ führt neben diesen großen Themen noch ein weiteres Motiv ein, das zwar in der Handlung einen geringeren Raum einnimmt, aber für den Gesamtkontext von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ wichtig ist. Der kleine Marcel, der jetzt die Werke des großen Bergotte kennengelernt hat will selbst Schriftsteller werden. Aber leider gibt es ein Problem. Wie er selbst feststellt fehlt es ihm an einem Thema, über das er schreiben könnte, und vor allem hat er leider kein Talent. Das ist schon eine witzige Feststellung, wenn man bedenkt, dass es sich bei Marcel ja um Proust selbst handelt. Marcel unternimmt dann einen ersten literarischen Versuch. Auf einer Kutschfahrt fallen ihm ein paar Kirchtürme auf, die er so schön findet, dass er sich einen Stift und etwas Papier geben lässt, um diese Kirchtürme und die Art, wie genau er sie von der Kutsche aus beim Vorbeifahren gesehen hat, zu beschreiben. Der innere Eindruck zählt.

Ich denke diese Szene zeigt deutlich, dass es Proust sehr auf eine Beobachtungsgabe ankommt und tatsächlich besteht der ganze Roman ja aus sehr genauen Beobachtungen. Es ist nie einfach nur ein Kirchturm oder ein Strauch, der irgendwo steht. Es geht um das genaue Bild, den exakten Eindruck, den dieser Strauch auf den Betrachter gemacht hat. Wenn Proust seinen jugendlichen Erzähler verzweifeln lässt, weil er seine eigene Fähigkeit zu genauen Beobachtungen in Frage stellt, dann ist das vielleicht nicht nur Koketterie oder eine Erinnerung an seine eigenen Anfänge als Schriftsteller, sondern es ist vielleicht ein Eingeständnis, dass ihm auch jetzt, als dem erwachsenen Autor dieses Romans, seine eigenen Fähigkeiten noch nicht genügen und er genau wie der junge Marcel noch immer daran verzweifelt, weil er alles am liebsten noch genauer beschreiben würde, wenn er nur könnte.

Ausgerechnet in der Szene, in der Marcel zum ersten mal Gilberte Swann begegnet, scheint Proust sich zu dieser vermeintlichen Schwäche zu bekennen. Hier schreibt er:

Ihre schwarzen Augen blitzten, und da ich damals so wenig wie später einen starken Eindruck in seine einzelnen Elemente zu zerlegen verstand, weil ich nun einmal nicht, wie man es nennt, genügend „Beobachtungsgabe“ besaß, um einen deutlichen Begriff von der Farbe dieser Augen zu gewinnen, hat sich mir lange Zeit hindurch, so oft ich an sie dachte, in der Erinnerung ihr Leuchten wie das von einem kräftigen Azurblau dargestellt […]

Es gibt noch ein weiteres Indiz dafür, dass Proust seine eigenen Fähigkeiten zur Beobachtung und Beschreibung gerade wenn es um ein Gesicht geht, nicht als ausreichend empfand. Immer wieder verweist er auf Gemälde, um das Aussehen seiner Figuren zu beschreiben. Es ist bekannt, dass Proust sich schon als Jugendlicher durch regelmäßige Besuche im Louvre ein enormes Wissen über Gemälde angeeignet hat und davon macht er in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ausgiebigen Gebrauch. Zum Beispiel erfahren wir, dass Marcels Schulfreund Bloch aussieht wie Sultan Mehmed der Zweite, der Eroberer Konstantinopels, auf einem Porträt von Bellini. Swann ist der Meinung, dass eine Küchenhilfe im Haushalt von Tante Leonie so aussieht wie eine Darstellung der Caritas bei Giotto und deshalb bekommt die Frau gar nicht erst einen Namen sondern, wird immer nur die Caritas von Giotto genannt. Und um uns zu vermitteln, wie Swanns Geliebte Odette aussieht, verweist Proust auf die Darstellung der Sephora oder Zippora, der Ehefrau des Moses auf einem Fresko von Sandro Botticelli in der Sixtinischen Kapelle. Proust beschreibt an dieser Stelle genau Odettes Haltung, ihren Blick und die Art, wie das blonde Haar an ihren Wangen herabfällt, aber es genügt ihm nicht. Er will, das wir sie tatsächlich sehen, auch wenn es bedeutet, dass wir dafür erst eine Abbildung dieses Freskos auftreiben müssen, was heute natürlich viel einfacher ist, als für die Leser seiner Zeit.

Das abgelehnte Manuskript

Als allerletzten Punkt will ich noch auf ein Detail aus der Publikationsgeschichte von „In Swanns Welt“ eingehen, das ich ganz witzig finde. Der Roman wurde erst einmal abgelehnt. Proust wollte ihn in der Zeitschrift Nouvelle Revue Française veröffentlichen lassen, die wenige Jahre zuvor von Gaston Gallimard, André Gide und Jean Schlumberger gegründet worden war, und aus der später der berühmte Verlag Éitions Gallimard hervorgehen sollte. Proust hatte André Gide Jahre vorher in irgendeinem Salon kennengelernt und deshalb ließ er ihm jetzt das Manuskript seines Romans überbringen. Und dann ging es ihm so, wie vielen Schriftstellern. Er bekam erst einmal monatelang keine Antwort. Als er dann nachfragen ließ, antwortete Gide, dass er das Manuskript ablehnen müsse. Laut den Lebenserinnerungen von Prousts Haushälterin Céleste Albaret soll Gide gesagt haben, sein Verlag veröffentliche seriöse Literatur und es komme nicht in Frage, dass eine solche mondäne Dandy-Literatur dort erscheine.

Céleste Albaret berichtet weiter, dass Gide dann das Paket mit dem Manuskript zurücksenden ließ und als es wieder bei Proust ankam, sei der sehr misstrauisch geworden. Das Paket mit dem Manuskript war ursprünglich von Prousts Kammerdiener Nicolas Cottin mit besonderer Sorgfalt und einem speziellen Knoten zusammengeschnürt worden. Laut Madame Albarets Erinnerung war auf dem zurückgesandten Paket jetzt wieder dieselbe Verschnürung mit demselben Knoten. Es sah so aus, als sei das Paket nie geöffnet worden. Proust soll dazu amüsiert bemerkt haben, es sei wohl doch keine gute Idee gewesen, das Manuskript an Gide zu schicken. Der habe ihn bei ihrer damaligen Begegnung im Salon anscheinend für einen Dandy gehalten und ihm so wenig zugetraut, dass er sein Manuskript nicht einmal auspacken wollte. Im Nachhinein entschuldigte sich der spätere Literaturnobelpreisträger André Gide bei Proust. Die Ablehnung von „In Swanns Welt“ bezeichnete er später als großen Fehler und einen „der stechendsten Schmerzen und Gewissensbisse“ seines Lebens. Dass er das Manuskript nicht gelesen habe, soll er allerdings bestritten haben. Es ist jedenfalls gut zu wissen, dass selbst die größten Werke der Weltliteratur manchmal von Verlagen abgelehnt und von Zeitgenossen ignoriert werden.

Ich persönlich halte es für sehr wahrscheinlich, dass Gide den Anfang des Manuskripts tatsächlich gelesen und daraufhin abgelehnt hat. Ich kann mir auch vorstellen, dass dieser Roman heute noch viel größere Schwierigkeiten hätte, einen Verlag zu finden, wenn Proust ein unbekannter Name wäre. Es ist ein schwer zugängliches Buch, weil es eben nicht nur ein Roman sondern der Auftakt zu etwas Größerem ist. Man muss sich erst einmal daran gewöhnen, wie langsam diese verlorene Zeit vergeht, ja dass sie in diesem Dorf Combray sogar manchmal stillzustehen scheint. Und man weiß vor allem erst einmal nicht, warum man sich überhaupt für all die alltäglichen Kleinigkeiten in diesem Dorf interessieren soll, bis sie dann plötzlich wiederkehren und Swann in einem pariser Salon die Sonate von Vinteuil hört, den wir in Combray mit seiner Tochter getroffen haben, oder wenn Swann einem seiner engsten Freunde sagt, er solle Odette zu einer Abendgesellschaft begleiten und gut auf sie aufpassen, weil er im Gegensatz zu uns eben nicht weiß, welche Gerüchte über diesen Freund und seine Odette in Combray kursieren.

Mit diesen Pointen und mit dem guten Gefühl, die Menschen und Motive wieder zu erkennen, fast schon selbst ein alter Bekannter von ihnen zu sein, belohnt Proust seine Leser. Um etwas wieder zu erkennen, muss man es vorher eben kennengelernt haben und es muss viel Zeit vergangen sein, damit es ein glückliches Wiedersehen ist. Man muss sich Proust also anvertrauen und sich von ihm auf diese langen, ereignislosen Spaziergänge in der Gegend von Combray mitnehmen lassen. All diese Kirchtürme, Bäche und Weißdornsträucher muss man sich von ihm ganz genau zeigen lassen, in der Hoffnung, dass das alles irgendwann zu irgendetwas führt. Dann aber wird man belohnt. Was erst nach Planlosigkeit aussah entpuppt sich als ein viel größerer Plan, der diesen Roman weit überschreitet. Und so sicher wie man zuerst glaubte, dass es in diesem Buch eigentlich um nichts geht, stellt sich heraus: Es geht in Wirklichkeit um alles.

Für mich persönlich ist „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ mehr als ein Romanzyklus. Es ist seine eigene Gattung und auf seine Art wahrscheinlich das größte Kunstwerk, mit dem ich je in Kontakt gekommen bin. „In Swanns Welt“ ist nur der Anfang. Auf diesem Kanal würde ich gerne auch über den zweiten Band sprechen, in dem Marcel „Im Schatten junger Mädchenblüte“ seine große Liebe kennenlernt und den dritten, wenn er in „Die Welt der Guermantes“ eingeführt wird und irgendwann vielleicht alle sieben, wenn sich die Zeit dafür findet.


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