Was Hitler betrifft ist man sich heute eigentlich einig. Hitler ist kein kontroverses Thema mehr. In Diskussionen spielt er höchstens die Rolle eines extremen Bezugspunkts. Das personifizierte Böse und ein Vergleich, der nie wirklich passt. Aber dann gibt es manchmal doch diese unerwarteten Momente, in denen sich plötzlich jemand als Hitler-Versteher outet. Sei es auf großer Bühne, wenn der Rapper Ye, ehemals Kanye West, in einem Podcast verkündet, er liebe Hitler, oder im ganz kleinen, wenn auf einem Dorffest mitten im schönen Saarland die Band einen Song der Böhsen Onkelz spielt und im Publikum pünktlich zum Refrain der erste Hitlergruß erscheint.
Es liegt ein weiter Weg zwischen dem amerikanischen Rapper, der in Hitler eine Art Fashion-Ikone und den Erfinder der Autobahn zu sehen scheint, worin auch immer eine solche „Erfindung“ bestehen soll, und dem deutschen Neonazi, der im Keller Nazi-Memorabilia sammelt und den Werdegang seines Führers in und auswendig kennt. Der Wissensstand über das gemeinsame Objekt der Verehrung könnte kaum unterschiedlicher sein, aber trotzdem verbindet beide offenbar ein diffuser Glaube daran, dass an Hitler doch irgendetwas dran gewesen sein muss, das alle anderen nicht wahrhaben wollen. Irgendeine von der Nachwelt geleugnete Qualität als Politiker, vielleicht sogar als Mensch. Die allgemein bekannten Fakten genügen offenbar nicht, um diesen Glauben an einen missverstandenen Hitler tot zu kriegen. Es bedarf einer Einordnung, die sich nicht auf eine Verteufelung beschränkt.
Im Jahr 1978 erschien mit Sebastian Haffners „Anmerkungen zu Hitler“ der vielleicht einflussreichste und wie manche bis heute glauben beste Kommentar zur Person Adolf Hitler. Haffner wollte damit ganz bewusst keine Hitler-Biographie schreiben und einen der Gründe nennt er gleich zu Beginn des Buches. Hitlers Privatleben ist für ihn uninteressant. Hitler habe kein nennenswertes Liebesleben und nur wenige Freunde gehabt, von denen er Ernst Röhm bekanntlich ermorden ließ, und überhaupt war Hitlers Leben so arm an persönlichen Beziehungen und menschlicher Wärme, dass sich über den Privatmann nicht zu reden lohne. Haffner beschränkt sich also auf zwei andere Seiten Hitlers: den Politiker und den Massenmörder.
Der Politiker
Was den Politiker betrifft, verfolgt dieses Buch das Ziel, einiges klarzustellen, was auf den ersten Blick unverständlich erscheinen. Zunächst sieht Haffner in Hitlers politischer Laufbahn einen abrupten Wechsel zwischen Erfolg und Misserfolg, der erklärt werden muss. Laut Haffner bestand Hitlers Leben bis ins Jahr 1929 fast nur aus Misserfolgen, auch auf politischer Ebene. Darauf folgte eine Periode von zwölf Jahren, in denen Hitler praktisch alles gelang, was er versuchte, und dann, in seinen letzten Jahren ab 1941 folgten wieder ausschließlich Misserfolge. Zunächst muss man sich darauf einstellen, dass in diesem Buch überhaupt auch von Erfolgen Hitlers die Rede ist. „Erfolge“ und „Leistungen“ lauten zwei der Kapitelüberschriften. Das ist nicht nur aus heutiger Sicht gewagt. In einer Rezension kurz nach der Veröffentlichung schreibt Golo Mann, er habe bei der Erwähnung von Hitlers Leistungen zuerst befürchtet, das Buch könne den Diktator zu positiv darstellen, was sich beim Lesen dann aber als falsch herausstellte.
Haffner, der im Jahr 1938 nach England emigriert war, um sich als Jurist nicht in das Nazi-Regime verstricken zu müssen, kann kein Interesse daran haben, Hitler in irgendeiner Form zu verteidigen oder zu verharmlosen. Sehr ausführlich schreibt er hier über den Holocaust und über Hitlers unmenschliche Grausamkeit. Aber andererseits nimmt er über weite Teile des Buches eine Position ein, aus der er Hitler ohne Berücksichtigung moralischer Fragen als Politiker beurteilt. Darin liegt meiner Meinung nach die besondere Stärke dieses Buches. Wer Hitler nur als Monster und Wahnsinnigen darstellt, wie es in früheren Werken wohl die Regel war, lässt damit eine Lücke, in der Rapper und Neo-Nazis einen Mythos entstehen lassen können, der Hitler zwar als unmoralischen aber fähigen Politiker darstellt. Genau diesen Mythos zerstört Haffners Buch.
Zunächst analysiert Haffner die rätselhaften Wechsel in Hitlers Erfolgskurve und kommt zu einer Beobachtung, die vieles in Hitlers Leben erklärt: Hitler hatte ein Gespür für die Schwäche seiner Gegner, nicht das Auge des Adlers sondern die Witterung des Geiers, wie es an einer Stelle heißt, und er hat sich immer nur gegen schwache Gegner durchgesetzt. Am Anfang seiner erfolgreichen zwölf Jahre sieht Haffner in Hitlers Gegner die schwache Weimarer Republik, die er nur gegen zaghafte Widerstände in den schon vorprogrammierten Untergang gestürzt habe. Später, in den Jahren außenpolitischer Maneuver und der Vorbereitung des zweiten Weltkriegs, habe Hitler dann die Schwäche seiner europäischen Gegenspieler England und Frankreich ausgenutzt. Die sahen erst tatenlos dabei zu, wie Hitler aufrüstete und seine Truppen auch im Rheinland stationierte, was laut Versailler Verträgen verboten war, dann akzeptierten sie den sogenannten Anschluss Österreichs und schließlich gaben sie Hitler im Münchner Abkommen von 1938 sogar das Sudetenland, in der Hoffnung, er möge nun zufrieden sein und auf einen Krieg verzichten, was sich dann bekanntlich als falsch herausstellte.
Die Frage, ob man bei diesen Entwicklungen, die bis dahin friedlich verlaufen waren und zu einer Vergrößerung von Hitlers Reich geführt hatten, von tatsächlichen Erfolgen sprechen kann, bringt Haffner auf den Punkt, indem er ein Gedankenexperiment aus Joachim Fests Hitler-Biographie aufgreift: Was wäre gewesen, wenn Hitler im Jahr 1938 nach dem Münchner Abkommen gestorben wäre. Würde man sich dann heute an Hitler als einen erfolgreichen Politiker erinnern? Haffner glaubt, dass ein solches positives Bild höchstens ein paar Wochen angehalten hätte, weil spätestens dann aufgefallen wäre, in welchem Zustand Hitler sein Deutschland bereits zu diesem Zeitpunkt hinterlassen hätte. Hitler hatte laut Haffner nämlich von Anfang an den Staat und seine Institutionen geschwächt und bewusst durch ein Chaos ersetzt. Dass in seiner ausufernden Bürokratie Teile der Armee und der Verwaltung mit einander konkurierten und sogar gegen einander arbeiteten war kein Fehler sondern gehörte zu Hitlers Methode um sich selbst als den unverzichtbaren Alleinherrscher zu installieren, der das Durcheinander als einziger im Griff hat. Hitler hätte laut Haffner also schon vor dem Krieg nur noch eine funktionsunfähige Ruine eines Staates hinterlassen, in der es nicht einmal mehr eine gültige Verfassung gegeben habe, nach der man seine Nachfolge hätte regeln können. Das System sei schon zu dieser Zeit ganz auf seine Person ausgerichtet gewesen.
Krieg mit fünfzig
Haffner erkennt in dieser vollkommenen Ich-Bezogenheit in Hitlers Politik zwei grundsätzliche Facetten: Zum einen die Unterordnung des Staates unter seine persönliche Macht und zweitens die Unterordnung seines politischen Zeitplans unter seinen persönlichen Lebenslauf. Besonders in diesem letzten Punkt sieht Haffner eine in der Weltpolitik einzigartige Ungeheuerlichkeit und den eigentlichen Grund für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Wie Haffner betont, hätte Hitler nach dem Münchner Abkommen eigentlich genug damit zu tun gehabt, in den neuen Gebieten seines gewachsenen Reiches eine Verwaltung zu installieren und einen neuen Vielvölkerstaat zu formen. Das wäre eine Aufgabe für Jahrzehnte gewesen, aber es war nicht Hitlers Art von Politik. Vor allem aber spielte es laut Haffner eine wichtige Rolle, dass Hitler im Jahr 1939 fünfzig Jahre alt wurde. Hitler wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, um seine eigentlichen Ziele zu erreichen. Ob es für sein Reich besser gewesen wäre, fünf oder zehn Jahre zu warten, und den status quo auszubauen, war für ihn zweitrangig. Die wichtigere Rolle spielte, dass er selbst es sein musste, der seine Ziele erreichte, und nicht irgendein Nachfolger, den es in seinen Plänen sowieso nie gab, und dass er selbst seinen Krieg lieber mit 50 beginnen wollte, als mit 55 oder 60. Diese rein am eigenen Lebenslauf orientierte Überlegung führte laut Haffner zu Hitlers Angriff gegen Polen im Jahr 1939.
Was diese eigentlichen Ziele waren und wie sie sich aus seiner Ideologie ergaben, ist heute natürlich gut bekannt. Haffner erwähnt Eberhard Jäckels Buch „Hitlers Weltanschauung“ aus dem Jahr 1969, in dem Hitlers Ideologie zum ersten mal ernsthaft untersucht worden sei, und fasst das bekannte zusammen: Für Hitler war die Weltgeschichte keine Geschichte von Staaten, sondern von Völkern beziehungsweise Rassen, wobei er beide Begriffe mit einander vermengte. Diese Geschichte bestand für ihn im Wesentlichen aus kriegerischer Auseinandersetzung, in der sich das jeweils stärkere Volk durchsetzte. Das Judentum beziehungsweise der Internationalismus – ebenfalls zwei mit einander vermengte Begriffe – behindern laut Hitler diese natürliche Auseinandersetzung zwischen den Völkern und sind daher für ihn als gemeinsamer Feind aller Völker zu betrachten. Daraus ergeben sich seine beiden Ziele: Erstens die sogenannte Erweiterung des Lebensraums für das deutsche Volk durch den militärischen Sieg über die östlichen Völker und zweitens die Vernichtung des jüdischen Volkes in Europa.
Abgesehen von der offensichtlichen moralischen Verwerflichkeit dieser Vorhaben, die Millionen in den Tod gerissen haben, betont Haffner auch ihre rein rationale Absurdität. Zum einen sieht er sowohl Hitlers Fokussierung auf die Völker als Träger der Geschichte als auch den Gedanken der Eroberung von Lebensraum als völlig realitätsfern. Die Frage des Lebensraums habe seit den Zeiten der Völkerwanderung, also seit 1500 Jahren, in der europäischen Geschichte keine Rolle mehr gespielt. Die tatsächliche Macht einer Nation sei im zwanzigsten Jahrhundert nahezu vollständig von der Größe der ihr zur Verfügung stehenden Fläche entkoppelt. Außerdem betont Haffner die Widersprüchlichkeit zwischen den beiden Zielen Hitlers, sowohl in theoretischer als auch in pragmatischer Hinsicht. Europa, oder im Zweifelsfall die ganze Welt zu erobern – Hitler hat ja nie gesagt, wann er mit dem Erobern fertig wäre – hätte ihn aus Haffners Sicht eigentlich zwingen müssen, zu taktieren, Bündnisse zu schließen und sich möglichst keine unnötigen Feinde zu machen. Genau letzteres hat Hitler aber mit seinem Völkermord getan. Zuerst wurden natürlich die deutschen Juden, die, wie Haffner betont, oft deutsche Patrioten waren, aus Freunden zu Feinden. Und auch international trugen die Misshandlung und spätere Ermordung der jüdischen Bevölkerung natürlich dazu bei, Hitler Feinde zu schaffen, die er sonst nicht gehabt hätte. Obwohl Hitlers Judenhass seine Eroberungsziele also behinderte und ihn politisch isolierte, verfolgte er ihn unbeirrt. Für Haffner ist der Völkermord an den Juden also nicht nur eine Begleiterscheinung Hitlers oder etwa des Krieges, sondern ein wesentliches und ab einem bestimmten Zeitpunkt sogar das vorrangige Ziel Hitlers.
Der Massenmörder
Haffner glaubt den Zeitpunkt genau ausmachen zu können, ab dem Hitler die Ermordung der europäischen Juden als sein oberstes Ziel und seine militärischen Ziele nur noch an zweiter Stelle verfolgte. Im Dezember 1941 blieb Hitlers Armee vor Moskau stecken und wurde von einer russischen Gegenoffensive zurückgedrängt. Ab diesem Moment, glaubt Haffner, habe Hitler einen Sieg über die Rote Armee und damit die Eroberung des sogenannten Lebensraums im Osten nicht mehr für möglich gehalten. Er habe sein erstes Ziel aufgegeben und sich ganz auf das Zweite konzentriert. Was ihn bisher noch von seiner sogennanten Endlösung abgehalten habe, sei die Möglichkeit eines Friedens mit England gewesen, den er nun, nach der Niederlage vor Moskau aber für ausgeschlossen hielt. Nur einen Monat später, am 20. Januar 1942, fand die Wannsee-Konferenz statt.
Zu diesem Zeitpunkt wird aus dem Politiker der Massenmörder und es ist Haffner in diesem Buch wichtig, Hitlers Verbrechen klar zu benennen. Er kritisiert die Nürnberger Prozesse dafür, dass sie sich auf die Verfolgung von Kriegsverbrechen beschränkten, denn das war Hitlers Völkermord aus seiner Sicht nicht. Es war ein Verbrechen im eigentlichen Sinne, das eben nicht durch die Ausnahmesituation des Krieges begünstigt wurde, sondern ganz im Gegenteil den Krieg sogar behinderte aber trotz des Krieges begangen wurde. Das Verbrechen wurde nicht begangen, weil der Krieg es erforderte, sondern umgekehrt war es aus Haffners Sicht nach diesem Wendepunkt sogar so, dass der Krieg weitergeführt wurde, um eine Fortsetzung des Verbrechens zu ermöglichen.
Ein weiteres bedeutendes Ereignis aus dem Dezember 1941 deutet für Haffner bereits auf den letzten Sinneswandel und das letzte große Ziel Hitlers hin, nämlich seine Rache an der eigenen Bevölkerung. Kurz nach der Niederlage vor Moskau erklärt Hitler überraschend und ohne jeden Anlass den USA den Krieg. Wie Haffner feststellt, ist diese Kriegserklärung schon deshalb absurd, weil Hitler natürlich nie in der Lage gewesen wäre, amerikanisches Territorium anzugreifen. Es war vielmehr eine an die USA gerichtete Einladung, sich am Krieg in Europa zu beteiligen und es war laut Haffner quasi ein Geschenk an Roosevelt, der den Kriegeintritt längst gewollt habe, aber ihn gegenüber seiner eigenen Bevölkerung nicht habe rechtfertigen können. Dieses Problem nahm Hitler ihm nun ab und beschleunigte damit seinen eigenen Untergang.
Dass Hitler aus Solidarität mit Japan den Krieg gegen die USA wollte, hält Haffner übrigens für ausgeschlossen. Die Kriegserklärung ist aus seiner Sicht so irrational, dass sie eigentlich nur schon jetzt auf den Wunsch Hitlers hindeuten könne, sein offenbar unterlegenes deutsches Volk untergehen zu sehen, und zwar vollständig. Haffner zitiert hierzu aus einem Gespräch Hitlers mit skandinavischen Diplomaten im November 1941:
„Ich bin auch hier eiskalt. Wenn das deutsche Volk einmal nicht mehr stark und opferbereit genug ist, sein Blut für seine Existenz einzusetzen, so soll es vergehen und von einer anderen, stärkeren Macht vernichtet werden. Ich werde dem deutschen Volk keine Träne nachweinen.“
Als die Kriegsniederlage im März 1945 schließlich bevorsteht, gibt Hitler zwei Befehle, die Haffner als die konkrete Ausführung dieses Untergangswunsches identifiziert. Am 18. März befiehlt Hitler die westdeutschen Invasionsgebiete sofort „von sämtlichen Bewohnern zu räumen“. Als einer der Generäle auf die Unmöglichkeit dieser Evakuierung hinweist, weil das Verkehrsnetz bereits zusammengebrochen war, antwortet Hitler laut Albert Speers Aussage: „Dann sollen sie zu Fuß marschieren!“ Haffner weist darauf hin, dass das für Hunderttausende ohne Verpflegung und Schuhe einen Todesmarsch bedeutet hätte. Noch deutlicher ist dann der sogenannte Nero-Befehl vom 19. März, in dem Hitler anordnet, auf deutschem Boden alle „Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen, sowie Sachwerte“ zu zerstören. Laut Speer habe Hitler ihm dazu gesagt:
„Wenn der Krieg verloren geht, wird auch das Volk verloren sein. Es ist nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das deutsche Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil ist es besser, selbst die Dinge zu zerstören. Denn das Volk hat sich als das schwächere erwiesen, und dem stärkeren Ostvolk gehört ausschließlich die Zukunft. Was nach diesem Kampf übrigbleibt, sind ohnehin nur die Minderwertigen, denn die Guten sind gefallen.“
Die Leute mit dem Hitlergruß auf der Dorffest haben dieses letzte Update ihres Führers vielleicht verpasst.
Seinen letzten Mord beging Hitler dann bekanntlich an sich selbst, nicht ohne Eva Brau und seine letzten Begleiter zum Selbstmord zu ermutigen und das dafür verwendete Gift vorher an seinem eigenen Schäferhund ausprobieren zu lassen. Wie Haffner bemerkt, war niemand über dieses Ende sehr überrascht. Sein ganzes Leben lang hatte Hitler ja zu verschiedenen Gelegenheiten damit gedroht, es selbst zu beenden.
Keine Biographie
Obwohl Haffner sich also weitgehend chronologisch an Hitlers Lebenslauf orientiert, soll „Anmerkungen zu Hitler“ wie gesagt keine Biographie sein. Dazu wäre das Buch mit seinen 200 Seiten zu kurz. Stattdessen legt Haffner den roten Faden in Hitlers Laufbahn frei und erklärt die wichtigsten Wendepunkte. Hitlers Ablehnung der Revolution von 1918 und der Kapitulation am Ende des ersten Weltkriegs, erklärt beispielsweise die Unfähigkeit zu einer eigenen Kapitulation. Andere späte Entscheidungen erklärt Haffner durch die schon erwähnte Niederlage vor Moskau. Durch die Betontung solcher Zusammenhänge arbeitet das Buch nicht nur einen Lebenslauf ab sondern konzentriert sich auf die Frage, wie es zu den wesentlichen Entscheidungen in Hitlers Laufbahn gekommen ist.
Inzwischen sind Haffners Deutungen solcher Zusammenhänge offenbar weitgehend anerkannt. In einem Vorwort zu einer Auflage aus den späten Neunziger Jahren lobt der ZDF-Historiker Guido Knopp Haffners Werk als eines der drei wichtigsten Bücher über Hitler, neben denen von Jäckel und Fest. Viele der Thesen, die Haffner hier eher „spielerisch“ formuliert habe, seien inzwischen durch die akribische Arbeit der Historiker bestätigt worden. „Anmerkungen zu Hitler“ befindet sich heute also weitgehend im Mainstream einer Sichtweise auf Hitler, die das Buch selbst mit geprägt hat. Es enthält allerdings auch manche Ansichten, die bis heute auf Widerspruch stoßen müssen. Diese kontroverse Seite des Buches hat etwas mit seiner Tendenz zu tun, Hitler in gewisser Hinsicht als Person aus seinem Kontext zu lösen und als singulär darzustellen. Das hängt widerum mit Haffners Geschichtsverständnis zusammen. Joachim Fest schreibt im Jahr 2003 in seinem Spiegel-Artikel „Der fremde Freund“ über seinen Journalisten-Kollegen Haffner, er habe sich die Welt als eine „Bühne voller Shakespearescher Charaktere“ vorgestellt und sei der Meinung gewesen, Geschichte sei nie durch allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten bedingt gewesen, sondern immer von Menschen gemacht worden, auch wenn diese die Geschichte nie beherrscht hätten.
Diese Betonung der Rolle einzelner Protagonisten in der Weltgeschichte zeigt sich in Haffners Sicht auf Hitler sehr deutlich. Vor allem ist Hitler für ihn nicht einfach ein Produkt seiner Zeit und der deutschen Geschichte. Am Ende des Buches betont er, dass Hitler in keiner deutschen Tradition stehe, schon gar nicht in einer protestantisch-preußischen. Mit Bismarck und Friedrich, die sich dem Staat unterodneten, habe Hitler als den Staat demontierender Alleinherrscher nichts zu tun gehabt. Auch zwischen dem zu seiner Zeit vor allem in Osteuropa verbreiteten Antisemitismus und Hitlers Judenhass sieht Haffner einen Bruch. Selbst die überzeugten Antisemiten dieser Zeit wären seiner Ansicht nach nie so weit gegangen, Juden vertreiben oder ermorden zu wollen. Ob Hitler sich in diesem Punkt tatsächlich so extrem vom Geist seiner Zeit unterschied, ist wohl kaum noch überprüfbar und kann angesichts des widerstandslosen Verlaufs der Wannsee-Konferenz und der vielen willigen Helfer bei der Umsetzung des Holocaust wohl in Frage gestellt werden.
Ganz rechts außen
Haffner geht aber noch ein Stück weiter und separiert Hitler politisch von den Rechten seiner Zeit. Zum einen betont er Hitlers Sozialismus, den viele ja nur für die nicht ernstzunehmende zweite Hälfte in der widersprüchlichen Begriffschöpfung Nationalsozialismus halten. Haffner nimmt diesen Sozialismus ernst. Hitler habe zwar nicht das Kapital aber gewissermaßen die Lebensweise vergesellschaften wollen. Die von ihm angestrebte Gesellschaft sei von starken Kollektiven wie Hitlerjugend und sonstigen ideologisch gesteuerten Vereinigungen dominiert und mit dem Leben in der späteren DDR vergleichbar gewesen. Die Klassenlosigkeit dieser Gesellschaft sei Hitler wichtig gewesen. Aus diesem Grund hält Haffner es sogar für falsch, Hitler als Faschisten zu bezeichnen – eine überraschende Bemerkung, da Hitler heute ja zumindest im umgangssprachlichen Gebrauch des Begriffs beinahe als das definierende Beispiel für Faschismus gilt. Die Distanzierung Hitlers von diesem Begriff ist allerdings nicht als ein Freispruch sondern eher als eine semantische Korrektur gemeint. Nach Haffners Definition ist Faschismus die auf die Begeisterung der Massen gestützte Herrschaft einer oberen Klasse. Auch wenn der Populist Hitler seine Macht auf der Massenmobilisierung begründete, sieht Haffner bei ihm im Gegensatz zu Mussolini nicht den Versuch, eine herrschende Oberklasse zu installieren. An der Spitze stand bei ihm keine Klasse sondern nur die eigene Person.
Neben Hitlers vermeindlichem Sozialismus ist es aber auch die Stoßrichtung des deutschen Widerstands gegen Hitler, die Haffner zu einer Verortung im politischen Spektrum heranzieht und er kommt hier zu einer überraschenden, geradezu skandalösen Schlussfolgerung. Der wesentliche Widerstand gegen Hitler kam aus Haffners Sicht nämlich nur aus dem konservativen Lager. Sozialdemokraten, Kommunisten und Liberale seien für Hitler nie ein echtes Problem gewesen, aber die Konservativen, die er einbeziehen und an sich heran lassen musste, habe er zu fürchten gehabt. Haffner schreibt:
„Es war die einzige Opposition, die ihm bis zum Schluss zu schaffen machte, die einzige, die eine wenn auch geringe Chance hatte, ihn zu Fall zu bringen, und die wenigstens einmal auch den Versuch dazu machte. Und diese Opposition kam von rechts. Von ihr aus gesehen stand Hitler links.“
Hitler irgendwo anders als am aller rechtesten Pol des politischen Spektrums einzuordnen, ist gewagt und widerspricht zumindest dem Mainstream. Haffner ist mit dieser Ansicht nicht alleine und teilt sie zum Beispiel mit Joachim Fest. Mindestens die konservativen Kreise des Militärs, die das Attentat vom 20. Juli 1944 versuchten, sind für ihn die echten Rechten und Hitler aus deren Sicht, nur ein falscher. Mir persönlich kommt diese Betonung wie ein Versuch Haffners vor, einen „echten“ Konservatismus von Hitler zu distanzieren und in der Nachkriegszeit überhaupt vertretbar erscheinen zu lassen. An sich mag das gerechtfertigt sein, aber in Kombination mit der Betonung, wie wirkungslos der linken Widerstand gewesen sei, ist das die einzige Stelle des Buches, die mir etwas unfair vorkommt. Haffners eigene politische Haltung scheint hier vielleicht zu stark durch. Wie Haffner selbst zugibt, hatte der Widerstand von rechts ja nur eine Chance, weil Hitler überhaupt mit den Rechten zusammenarbeitete, das heißt, weil die meisten Rechten eben keine Widerstandskämpfer sondern Mitläufer und Unterstützer waren.
Insgesamt macht es aber den Reiz dieses Buches aus, dass Haffner nicht nur Fakten reproduziert und sich auf das beschränkt, was sowieso schon alle wissen oder glauben. In seiner Darstellung der größeren Zusammenhänge und Pointen im Leben des Diktators wagt er sich stellenweise ins Spekulative und Unorthodoxe. Das Buch ist damit mehr Essay als Biographie und dass Haffner sich für diese Art von Text entschied, hatte wohl ganz direkt mit der Hitler-Biographie von Joachim Fest zu tun, deren Entstehen Haffner aus der Nähe verfolgt hatte. Wie Fest in seinem Spiegel-Artikel schreibt, besuchte Haffner ihn während der Arbeit an diesem Buch regelmäßig, las Textauszüge und kommentierte sie. Was Hitler betraf, stimmten die beiden Journalisten in den wesentlichen Punkten überein, stritten sich aber heftig um politische Ereignisse der Gegenwart, die Haffner laut Fest oft sehr alarmistisch beurteilte und in allem einen neuen Faschismus befürchtete. Als „Anmerkungen zu Hitler“ dann fünf Jahre nach Fests Hitler-Biographie erschien, habe Haffner zu ihm gesagt, dass er das Buch auch ihm verdanke. Dank Fests Biographie habe er beim Leser ein Wissen über Hitler schon voraussetzen können und nicht mehr auf alle Details eingehen müssen. Haffner konnte sich dank Fest auf das beschränken, was ihm wichtig war. Andererseits muss dieses Buch für den bekannten Journalisten Haffner auch ein Risiko gewesen sein. Ein schlechtes Buch über Hitler, das nichts neues zu sagen hat, hätte im Schatten von Fests Biographie sicher umso schlechter ausgesehen.
Der Sprung in die Breite
Im Nachhinein gesehen hat Haffner aber genau das richtige Buch zu genau der richtigen Zeit geschrieben, um Ende der Siebziger Jahre einen Wendepunkt in der öffentlichen Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit mit zu prägen. Im Januar 1979, wenige Monate nach dem Erscheinen von Haffners Buch, wird im deutschen Fernsehen erstmalig eine Synchronfassung des amerikanischen Fernseh-Mehrteilers „Holocaust“ gesendet, der das Schicksal einer fiktiven jüdischen Familie im Nationalsozialismus zeigt. Man war sich offenbar schon vorher der Wirkung bewusst, die dieser vierteilige Spielfilm auf die deutsche Öffentlichkeit haben würde. Nachdem der WDR die Rechte erworben hatte, wurde eine Ausstrahung im Hauptprogramm der ARD durch andere Sendeanstalten verhindert und musste in den dritten Programmen stattfinden. Der wiesbadener Neonazi und spätere NPD-Politiker Peter Naumann hatte sogar versucht, die Ausstrahlung durch einen terroristischen Sprengstoffanschlag auf Sendetechnik des Südwestfunks zu verhindern. Trotz dieser Widerstände sehen 20 Millionen Zuschauer mindestens eine Folge von „Holocaust“.
Für viele junge Deutsche, die in der Schule oft wenig bis gar nichts über den Nationalsozialismus gehört hatten, ist der Film ein Schock und ein Auslöser, sich erstmalig mit der Nazi-Vergangenheit zu beschäftigen. Die Aufarbeitung macht damit einen Sprung von einer akademischen in eine breitere Öffentlichkeit und Haffners Buch steht als eine Informationsquelle zur Verfügung, die zugänglicher ist, als die Werke von Fest und anderen. „Anmerkungen zu Hitler“ steht 43 Wochen lang auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Es wäre aber falsch, Haffners Buch seinen komerziellen Erfolg zum Vorwurf zu machen. Das Buch ist nicht einfach nur ein populärer, für Laien aufbereiteter Abklatsch der schwierigeren, historischen Literatur. Trotz seiner Kürze geht Haffners Buch besonders dort in die Tiefe, wo es um die größeren Zusammenhänge geht. Seine Lesbarkeit und sein Erfolg haben nichts mit einer Leichtigkeit des Inhalts sondern eher mit den Fähigkeiten des Autors zu tun. Haffner ist inzwischen für seinen klaren und pointierten Stil berühmt und dieses Buch ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür.
„Anmerkungen zu Hitler“ ist also zurecht ein Bestseller und verdient seinen Klassiker-Status in der Sachbuchliteratur. Es ist genau der richtige Kompromiss zwischen Biographie und Essay, um eine Einordnung Hitlers zu leisten, ohne sich in Details zu verlieren. Haffner gelingt das mit einer Klarheit und Eleganz, die man sich für ein solches Buch nur wünscht.
Anmerkungen zu Hitler von Sebastian Haffner auf Amazon
und
Joachim Fests Hitler-Biografie
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