Der totale Bürokrat | „Eichmann in Jerusalem“ von Hannah Arendt

Adolf Eichmann war einer der Organisatoren des Holocaust. Als SS-Offizier und Referatsleiter im Reichssicherheitshauptamt der Nazis war er für die Deportation der Juden in die Konzentrationslager zuständig und für die Ermordung von Millionen von Menschen mit verantwortlich.

Eichmann überlebte den zweiten Weltkrieg. Bei den Nürnberger Prozessen wurde er selbst zwar aus formalen Gründen nicht angeklagt, aber von anderen führenden Nazis schwer belastet. Er tauchte unter und floh mit Hilfe des Nazi-Netzwerks Odessa mit gefälschten Papieren nach Argentinien. Unter dem Namen Ricardo Klement fing er dort ein neues Leben an und arbeitete als Elektriker für ein Werk von Daimler-Benz. Etwas später folgten ihm auch seine Frau und seine Kinder nach Argentinien. Unter seiner Tarnung verhielt er sich dort in den ersten Jahren sehr vorsichtig. Angeblich mussten ihn sogar die eigenen Kinder mit dem neuen Namen anreden. Aber mit der Zeit wurde Eichmann nachlässiger. Er trat mit dem niederländischen SS-Mann Willem Sassen in Kontakt, gab ihm ein ausführliches Interview und soll laut CIA sogar geplant haben, seine Memoiren an das Life-Magazine zu verkaufen.

Im Mai 1960 wurde Eichmann wahrscheinlich als Konsequenz seiner mangelnden Vorsicht in Buenos Aires von Agenten des israelischen Geheimdiensts gefangen genommen. Ohne das Wissen der argentinischen Behörden verhörten die Agenten Eichmann, verkleideten ihn als Besatzungsmitglied einer El-Al-Maschine und brachten ihn so per Flugzeug nach Israel. Dort wurde er für seine zur Nazizeit begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen das jüdische Volk angeklagt. Von April bis Dezember 1961 wurde ihm am Bezirksgericht in Jerusalem ein Prozess gemacht, der internationales Aufsehen erregte.

Hannah Arendt lebte zu dieser Zeit bereits zwanzig Jahre lang in den USA. Als Jüdin war sie aus Nazideutschland emigriert und arbeitete in New York als Publizistin und Autorin. Als sie von der Anklage gegen Eichmann erfuhr, schlug sie der Zeitschrift New Yorker vor, als Beobachterin nach Jerusalem zu fliegen und für das Magazin über den Prozess zu berichten. Der Chef-Redakteur des New Yorker stimmte zu. Arendt war zwar nur in 29 der insgesamt 121 Sitzungen des Gerichts selbst anwesend, aber sie studierte die mehr als 3000 Seiten umfassenden Prozessakten und schrieb auf dieser Grundlage einen ausführlichen Bericht, der in fünf aufeinanderfolgenden Ausgaben des New Yorker veröffentlich wurde. Ihr Buch „Eichmann in Jerusalem“ ist eine erweiterte Version dieses Textes.

Auch wenn das Buch im Untertitel „Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ genannt wird, ist es deutlich mehr, als ein Bericht im journalistischen Sinne. Arendt beschreibt zwar grundsätzlich den Ablauf des Gerichtsprozesses, fügt aber ausführliche Kommentare zu Themen ein, die vor Gericht nur am Rande berührt wurden. Zum Beispiel äußert sie ihre Meinung über die tatsächlichen Motive des deutschen Widerstands gegen Hitler, über die Rolle der jüdischen Funktionäre im Holocaust, sie analysiert die psychologischen Tricks der SS und vergleicht den Eichmann-Prozess mit den Nürnberger Prozessen. Gleich zu Beginn de Buches spekuliert sie über vermeintliche Absichten, die der israelische Premierminister Ben Gurion mit dem Eichmann-Prozess verfolge. Sie beschuldigt Staatsanwalt Hausner, er wolle das Verfahren zu einem Schauprozess machen, indem er Zeugen auswähle, deren Aussagen zwar die Grausamkeit des Holocaust zeigten, aber oft mit Eichmanns konkreten Taten wenig zu tun hätten. Andererseits lobt Arendt die Richter, die aus ihrer Sicht auch gegen den Druck der Öffentlichkeit einen sachlichen und gerechten Prozess führen. Wegen Arendts Meinungen und ihrem oft ironischen Tonfall ist „Eichmann in Jerusalem“ ihr am schärfsten kritisiertes Werk und zählt zu den umstrittensten Büchern der Nachkriegszeit. Im Nachwort ist erwähnt, dass es im Jahr 2000 bereits mehr als 1000 Publikationen über dieses Buch gab. Dazu später mehr.

Zuständigkeiten

Zunächst geht es in diesem Buch also um den Ablauf des Gerichtsverfahrens gegen Eichmann und um juristische Fragen. Das Bezirksgericht in Jerusalem muss erst einmal rechtfertigen, dass es Eichmann überhaupt den Prozess machen darf. Für den Transport, um nicht zu sagen die „Entführung“ Eichmanns nach Israel gab es keine Rechtsgrundlage und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hatte diese Aktion sogar als Verletzung der Souveränität Argentiniens verurteilt. Argentinien war aber schnell mit dem israelischen Prozess gegen Eichmann einverstanden. Und auch die deutsche Bundesregierung hatte keine Einwände. Da er mit gefälschten Papieren ausgewandert und seine Staatsangehörigkeit damit zweifelhaft war, konnte Eichmann weder von Argentinien noch von Deutschland auf große Unterstützung hoffen, ganz abgesehen davon, dass seine Rolle im Nationalsozialismus ja allgemein bekannt war.

Trotzdem stellte sich die Frage, warum Deutschland überhaupt kein Interesse zeigte, Eichmann selbst vor Gericht zu stellen. Immerhin hatte er seine Verbrechen an einem Schreibtisch in Berlin begangen. Manche spekulierten, dass man es in Deutschland für unpassend hielt, Eichmann zu irgendetwas anderem als zum Tode zu verurteilen, und das war in Deutschland nach dem Krieg nicht mehr möglich. In Israel gab es die Todesstrafe. Hannah Arendt bezweifelt aber, dass der Wunsch nach einer möglichst hohen Strafe für Eichmann wirklich der Grund für die Passivität der Bundesregierung sein konnte. Die Justiz im Deutschland unter Adenauer war schließlich nicht gerade dafür bekannt, mit ehemaligen Nazi-Größen besonders hart ins Gericht gehen zu wollen, sondern ganz im Gegenteil beide Augen zuzudrücken. Arendt zitiert einige Prozesse der Nachkriegszeit, in denen mehrfache Mörder mit lächerlich niedrigen Strafen davongekommen waren. Jedenfalls wollte Deutschland Eichmann nicht zurückhaben, vielleicht auch weil man nicht neben Rudolf Hess noch eine weitere Nazi-Berühmtheit dauerhaft in einem hochsicheren Gefängnis versorgen und für deutsche Neonazis als Identifikationsfigur und Märtyrer konservieren wollte.

Abgesehen von dem nicht vorhandenen Interesse Argentiniens und Deutschlands musste sich das Bezirksgericht in Jerusalem auch ganz allgemein die Frage stellen, warum es für Eichmann zuständig war. Karl Jaspers meinte beispielsweise, Eichmann hätte besser vor einem internationalen Strafgerichtshof angeklagt werden sollen. Ein solches Gericht gab es im Jahr 1961 zwar noch nicht, aber der aufsehenerregende Fall hätte dafür genutzt werden können, auf seine Gründung zu drängen. Das Gericht in Jerusalem berief sich aber darauf, dass Eichmanns Verbrechen gegen das jüdische Volk gerichtet gewesen seien und Israel deshalb für ihn zuständig sei. Hannah Arendt widerspricht diesem Argument zwar nicht, aber in der Charakterisierung als Verbrechen gegen das jüdische Volk sieht sie eine zu kurz greifende Deutung. Aus ihrer Sicht ist der Völkermord, an dem Eichmann beteiligt war, ein Verbrechen nicht nur gegen das jüdische Volk sondern gegen die gesamte Menschheit, ähnlich wie ein gewöhnlicher Mord als Verbrechen nicht nur gegen das Mordopfer sondern gegen die gesamte Gesellschaft verstanden und von dieser auch angeklagt wird. Der Völkermord ist laut Arendt der Versuch, der Menschheit ihre Vielfalt und damit ein grundsätzliches Wesensmerkmal zu rauben.

Eichmanns Schuld

Auch nachdem diese grundsätzlichen Fragen geklärt sind und es um die Schuldfrage Eichmanns geht, sieht sich das Gericht wieder in einer Ausnahmesituation. Denn Eichmann hat seine Verbrechen in einem Staat begangen, in dem sie nicht nur legal sondern sogar erwünscht waren. Seine Schuld besteht also nicht darin, gegen die Gesetze eines Staates verstoßen, sondern vielmehr einen verbrecherischen Staat in seinen Verbrechen aktiv unterstützt und diese für ihn ausgeführt zu haben. Auf dieser Besonderheit baut Eichmanns deutscher Anwalt seine Verteidigungsstrategie auf. Dr. Servatius ist ein Steuer- und Wirtschaftsanwalt aus Köln, der schon in Nürnberg Nazi-Klienten vertreten hatte. Laut Servatius hat Eichmann nur Befehle von oben ausgeführt und hätte gar nicht anders gekonnt, als zu tun, was von ihm verlangt wurde. Es ist die klassische Theorie vom kleinen Rad im Getriebe, nach der alle nur ihrem Vorgesetzten gehorcht haben und Hitler als einziger Schuldiger übrigbleibt. Was dieses Verteidigungsargument hier auf den ersten Blick unterstützt, ist, dass Eichmann nicht wirklich zur obersten Führungsriege der Nazis gehört hatte. Eichmann hatte einen direkten Vorgesetzten namens Müller, dessen Vorgesetzter war Heydrich, und der wiederum empfing Befehle von Himmler und Hitler. Um der tatsächliche Drahtzieher des Holocaust zu sein, wie die Anklage behauptete, war Eichmanns Stellung im komplizierten Nazi-Verwaltungsapparat also nicht hoch genug. Er war eben nicht Heydrich.

Der Theorie vom kleinen unschuldigen Teil einer großen Verbrechermaschine widersprechen aber ausgerechnet Eichmanns eigene Aussagen. Voller Stolz besteht er vor Gericht darauf, eben nicht nur Befehle von oben ausgeführt zu haben und an einer Stelle sagt er sogar wörtlich, er sei nicht nur ein Rad im Getriebe gewesen. Es gibt eine Situation, die das besonders deutlich zeigt. Im Jahr 1944, als die Kriegsniederlage schon abzusehen war, gab Himmler den Befehl, das Morden in den Konzentrationslagern zu beenden. Mit diesem Abbruch der sogenannten „Endlösung“ vor Kriegsende erhoffte sich Himmler, baldige Friedensverhandlungen mit den Alliierten zu ermöglichen, die unter seiner Führung ablaufen sollten, wie er anscheinend hoffte. Als Eichmann diesen Befehl Himmlers empfing, weigerte er sich, ihn anzuerkennen und ordnete an, für diese Zeit angesetzte Todesmärsche weiterhin durchzuführen. Auch die Juden von Budapest wollte er zu dieser Zeit noch gegen Himmlers Befehl deportieren. Eichmann hatte offenbar also keine Probleme damit, Befehle zu verweigern und er handelte am Ende des Krieges sogar radikaler, als die Führung der SS.

Auch was seine vorherigen Taten betrifft, betont Arendt, dass Eichmann als hoher Offizier der SS sicher eine Möglichkeit gehabt hätte, seinen Aufgaben zu entgehen, falls er das wirklich gewollt hätte. Sich in eine andere Abteilung versetzen zu lassen, in der es nicht ausschließlich um die Planung und Durchführung des Völkermords an den Juden ging, wäre wahrscheinlich ohne schwerwiegende Konsequenzen möglich gewesen. Sicher hätte er mit einer solchen Weigerung nicht sein Leben aufs Spiel gesetzt. Tatsächlich behauptete er das auch nicht und einige seiner Aussagen sprechen dafür, dass Eichmann sich mit seinen Aufgaben im Holocaust durchaus identifizierte. Selbst von einem inneren Widerstand kann bei ihm keine Rede sein.

Der Schreibtischtäter

Schließlich gibt es noch eine letzte juristische Besonderheit, die gerade für Eichmann und seine Verbrechen charakteristisch ist: Eichmann ist der sprichwörtliche Schreibtischtäter. Auch wenn die Anklage versuchte, ihm einen eigenhändigen Mord und den direkten Auftrag von Morden zur Last zu legen, ergab der Prozess, dass Eichmann wahrscheinlich selbst kein Mörder im engeren juristischen Sinne war. Er hat seine Verbrechen eben nicht eigenhändig in den Konzentrationslagern oder den Zügen dorthin begangen, sondern in seinem Büro im Reichssicherheitshauptamt. Das Gericht macht aber klar, dass ihn diese Tatsache nicht entlastet. Wie Arendt ausführt, gehört es zu den Besonderheiten des staatlich organisierten Massenmords, dass die Verantwortung paradoxerweise wächst, je größer die Distanz zwischen dem Täter und der eigentlichen Tat ist.

Vor allem kann Eichmann sich nicht darauf berufen, nicht gewusst zu haben, was mit den Menschen passiert, deren Deportation er organisierte. Mit dem Lagerkommandanten von Auschwitz besprach er regelmäßig, wie viele Menschen dort getötet wurden, schon um zu wissen, wie viele er dorthin transportieren konnte. Eichmann hat zwar selbst nicht in den Todeslagern gearbeitet, aber natürlich hat er sie gut gekannt, und die Momente, in denen er in seinem Verhör von seinen Besichtigungen der Lager erzählt, gehören zu den schockierendsten und gleichzeitig absurdesten Stellen des Buches. In einem Lager in Lublin wird ihm eine Anlage gezeigt, mit der Juden durch die Abgase eines russischen U-Boot-Motors vergiftet werden sollen. Eichmann sagt in seinem Verhör vor Gericht, als man ihm das erklärt habe, sei das für ihn „ungeheuerlich“ gewesen, und er habe ein „leichtes Zittern“ bekommen. Er sei nämlich „keine so robuste Natur“. Arendt schreibt zynisch, Eichmann habe in Lublin noch einmal Glück gehabt, denn man habe ihm dort nur die Vorbereitung der Kohlenmonoxid-Kammern des späteren Lagers Treblinka gezeigt, in dem Hunderttausende getötet wurden. Es ist diese Art von Bemerkung, für die Arendts Stil später kritisiert wurde.

Diese Szene in Lublin hat direkt mit der Frage zu tun, die für Arendt noch vor allen juristischen die wichtigste in diesem Prozess ist: Wie war es überhaupt möglich, dass einer wie Eichmann Millionen in den Tod schicken konnte? Eichmann wurde in Jerusalem von mehreren Psychologen untersucht und als „normal“ befunden. Man kann sich zwar fragen, ob ein solcher Befund eher etwas über die Psychologie aussagt, als über Eichmann, aber anscheinend gab es kein psychisches Krankheitsbild, das man bei ihm für zutreffend hielt. Eichmann war offenbar kein Psychopath oder Sadist.

Arendt glaubt außerdem, dass Eichmann noch nicht einmal ein überzeugter Antisemit war. Eichmann selbst behauptet in seinem Verhör, dass er die Juden nie gehasst habe und es wurde Arendt später als Naivität vorgeworfen, dass sie ihm diese Behauptung glaubte. Lange nach dem Prozess tauchten Gesprächsprotokolle aus Argentinien auf, in denen Eichmann sich anscheinend doch als Antisemit zu erkennen gab. Aber für die Annahme, dass Antisemitismus für Eichmann selbst zumindest nicht der entscheidende Antrieb hinter seinem Handeln war, spricht die Art, wie er vor Gericht von den Kontakten spricht, die er in der Zeit vor der Wannsee-Konferenz zu wichtigen jüdischen Funktionären hatte. Es gehört zu den anstößigen Absurditäten in Eichmanns Aussagen, dass er sich selbst offenbar tatsächlich als eine Art Juden-Experte fühlte und besonders guten Kontakt zu den Juden zu haben glaubte, einerseits wegen der ein oder zwei Bücher, die er über das Judentum gelesen hatte, und andererseits wegen der Gespräche, die er mit jüdischen Vertretern zu führen hatte. Eichmann hatte die Nazi-Sprechweise von Problem und Lösung so stark verinnerlicht, dass er die Präsenz der Juden in Europa offenbar tatsächlich als ein abstraktes Problem auffasste, für das er eine pragmatische Lösung finden sollte. Immer wieder spricht er von seiner Zusammenarbeit mit den jüdischen Vertretern, so als ob es um die Lösung eines gemeinsamen Problems ginge.

Vor und nach der Wannsee-Konferenz

Vor der Wannsee-Konferenz, als mit der sogenannten Lösung zumindest öffentlich noch nicht der Völkermord gemeint war, ging Eichmann darin auf, zunächst die Deportationen ins Ausland zu organisieren. Dann wollte er eine Region im eroberten Polen dafür bestimmen, die Juden dort anzusiedeln. Dieser Plan scheiterte an den dort zuständigen Gauleitern. Im Jahr 1940 erhält Eichmann dann den Auftrag, einen Plan für den Transport von vier Millionen europäischen Juden nach Madagaskar auszuarbeiten. Arendt schreibt, dass außer Eichmann und ein paar ähnlich „verbarrikadierten Gehirnen“ niemand diesen Plan ernst genommen habe. Der Madagaskar-Plan war von vornherein ein Trick Heydrichs. Als Eichmanns Planungsarbeit ein Jahr später nämlich ergab, dass dieser Transport eben organisatorisch undurchführbar war, konnte Heydrich behaupten, dass man es mit allen Alternativen versucht habe und der Völkermord nun die einzige verbleibende Lösung sei.

Eichmann behauptet vor Gericht, er habe das „Interesse“ an seiner Arbeit verloren, als Heydrich ihm dann im Jahr 1941 den Befehl zur sogenannten „Endlösung“ erteilte. Er selbst habe vorher nie an eine solche Gewaltlösung gedacht. Für etwa vier Wochen, wie Arendt glaubt, hat Eichmann dann tatsächlich so etwas wie ein Gewissen. In dieser Zeit versucht er, den Transport von 50 000 Juden in eine Region umzuleiten, von der er wusste, dass sie dort nicht erschossen würden. Mit der kurz darauf stattfindenden Wannsee-Konferenz löst sich Eichmanns Gewissen aber sofort wieder in Luft auf. Das Treffen wurde von Heydrich einberufen, um einige der leitenden Beamten des Nazi-Regimes auf die „Endlösung“ einzustimmen. Eichmann war anwesend und schrieb das Protokoll. Keiner der fünfzehn hochrangigen Teilnehmer hatte grundsätzliche Einwände gegen Heydrichs Plan der Deportation und Ermordung der europäischen Juden. Man diskutierte stattdessen über die Durchführung und machte Vorschläge, wo man am besten beginnen sollte. Die Sitzung dauerte insgesamt keine 90 Minuten.

Es sagt viel über Eichmanns Charakter, dass sich für ihn mit der Wannsee-Konferenz alle Gewissensfragen sofort auflösten, wie er vor Gericht zugibt. Durch die Tatsache, dass einige der höchsten Funktionsträger des Regimes gar nicht erst überzeugt werden mussten, sondern sofort mit vollem Eifer an Bord waren, fühlte er sich von jeder moralischen Verantwortung befreit. Wer war er schon, diesen hohen Herren zu widersprechen. Sein Eingebundensein und seine Identifikation mit dem bürokratischen Apparat der Nazis ermöglichte es Eichmann also einerseits die Verantwortung und andererseits auch die konkrete Tat von sich zu schieben und in einer Zone zu arbeiten, die von beidem zumindest aus seiner Sicht befreit war. Während in diesem Apparat die Mörder unter ihm und die Verantwortlichen über ihm standen, konnte er sich irgendwo dazwischen als jemanden sehen, der einfach nur Probleme löst.

Zu einem solchen Denken gehört eine gewisse Unfähigkeit, sich das ungeheure konkrete Leiden der Opfer vorzustellen, und es gehört vielleicht auch einfach Dummheit dazu. Arendt attestiert ihm beides ausdrücklich. Mit der im Untertitel genannten Banalität des Bösen ist unter anderem gemeint, dass sie Eichmann für einen ungebildeten und geistig beschränkten Idioten hält. Sarkastisch beschreibt sie, wie Eichmann in seinem Verhör mit der deutschen Sprache kämpft und ständig in unpassenden Redewendungen und Phrasen spricht, die er irgendwo aufgeschnappt und sich zurechtgelegt zu haben scheint, vollkommen unfähig zu einem unabhängigen, eigenen Gedanken. Im Zusammenhang mit der Wannsee-Konferenz vergleicht er sich zum Beispiel mit Pontius Pilatus, der seine Hände in Unschuld wäscht, und an einer anderen Stelle äußert er pathetisch, er sei wegen des „Schulddrucks“ dazu bereit, sich selbst zu hängen, als ein Symbol gegen den Antisemitismus.

Der plappernde „Hanswurst“

Es ist deutlich spürbar, dass Eichmanns hohles Geplapper und seine offenkundige Beschränktheit für Arendt ein unerhörter Affront sind. Sie besteht zwar einerseits darauf, dass es in der Natur eines Strafprozesses liegt, die Person des Angeklagten in den Mittelpunkt zu stellen, und nicht seine vielen Opfer. Sie wirft der Staatsanwaltschaft explizit vor, zu viele Zeugen aufzurufen und so aus dem Fall Eichmann einen Prozess zum gesamten Holocaust machen zu wollen. Aber andererseits sind die Phasen des Prozesses, in denen der Angeklagte dann tatsächlich im Mittelpunkt steht, für sie kaum zu ertragen. Statt angesichts seiner Verbrechen irgendeine Form von Reue zu zeigen, schwadroniert dieser „Hanswurst“, wie sie Eichmann nennt, wochenlang im distanzierten Bürokratendeutsch von irgendwelchen banalen Vorgängen aus seinem Alltag, denen zwischen den Zeilen die grausamsten Verbrechen zu entnehmen sind. Das eigentlich unerhörte an Eichmanns Aussage ist nämlich, dass er immer noch die ganze Zeit nur auf sein eigenes kleines Beamtenleben konzentriert ist, sich selbst für seine versäumten Karrierechancen bedauert, spekuliert, was Gauleiter und jüdische Funktionäre wohl von ihm gehalten haben mögen und ähnliches mehr, statt sich nur einen Moment lang bewusst zu machen, dass er Millionen in den Tod geschickt hat. Dazu ist er anscheinend nicht in der Lage.

Ein tragisches Beispiel für dieses unerhörte Vorbeireden an der Wirklichkeit ist die Geschichte von Kommerzialrat Storfer, einem Vertreter der jüdischen Gemeinde in Wien, den Eichmann kannte und laut eigener Aussage für einen ehrenwerten Mann gehalten habe. Als Funktionär hatte Herr Storfer anscheinend keine Deportation zu befürchten gehabt. Trotzdem hatte er versucht, ins Ausland zu fliehen und war dabei verhaftet und dann nach Auschwitz gebracht worden. Dort bat er den Lagerkommandanten Höß darum, mit Eichmann sprechen zu dürfen. Eichmann reiste an. In seinem Verhör erzählt Eichmann vor Gericht von seinem Treffen mit Storfer in Auschwitz. Der Mann habe ihm „sein Leid geklagt“, wie Eichmann phrasenhaft sagt, und er selbst habe darauf geantwortet: „Ja, mein lieber guter Storfer, was haben wir denn da für ein Pech gehabt?“ Dann habe er dem Mann vorgeworfen, mit seinem unnötigen Fluchtversuch „eine Dummheit gemacht“ zu haben und er habe ihm erklärt, dass weder er noch irgendjemand sonst ihn nun freilassen könne. Bei Höß habe er sich dann dafür eingesetzt, dass Storfer nicht schwer arbeiten, sondern nur das Lager fegen musste. In Eichmanns eigenen, konfusen Worten:

„Da sag ich: Gut, sage ich, ich werde eine Aktennotiz anlegen, sagte ich, dass Storfer hier mit dem Besen (vor der Kommandantur war ein Garten, eine Gartenanlage) mit dem Besen die Kieswege in Ordnung hält. So kleine Kieswege waren dort, und dass er das Recht hat, sich jederzeit mit dem Besen auf eine der Bänke zu setzen. Sage ich: Ist das recht, Herr Storfer? Passt Ihnen das? Da war er sehr erfreut, und wir gaben uns die Hand, und dann hat er den Besen bekommen und hat sich auf die Bank gesetzt. Das war für mich eine große innere Freude gewesen, dass ich den Mann, mit dem ich so lange Jahre, den ich so lange Jahre zumindest sah – und man sprach.“

Hannah Arendt fügt hinzu, dass Herr Storfer nur sechs Wochen später in Auschwitz erschossen wurde. Für mich persönlich ist es nicht nachvollziehbar, wie man Arendt ihren oft sarkastischen Tonfall in diesem Buch zum Vorwurf machen kann, wenn man diese und die vielen anderen ähnlich verstörenden Aussagen Eichmanns gelesen hat. Ein Mann bittet in Auschwitz verzweifelt um Gnade, nur Wochen bevor er erschossen wird, und Eichmann schwafelt von Gartenanlagen, Kieswegen und Aktennotizen, spielt sich als Retter auf, drückt ihm einen Besen in die Hand, fragt ihn, ob alles so recht sei und spricht von der ganzen Begegnung wie vom glücklichen Wiedersehen alter Freunde. Wie soll man über solche Aussagen schreiben, wenn nicht mit Sarkasmus.

Das Gewissen der SS

In einer der besten Einsichten dieses Buches erklärt Arendt, wie es ihrer Ansicht nach möglich war, dass auch andere, die ihre Taten nicht nur am Schreibtisch verübten, ihr Gewissen zum Schweigen bringen konnten. Es war Himmlers Methode, der SS Gewissensbisse aus einer anderen Richtung einzureden, aus der das Gewissen normalerweise nicht spricht. Als höchster Maßstab des Gewissens wurden Moral und Menschlichkeit durch den Willen Hitlers und seine höheren Ziele ersetzt. Der gute Mensch zeichnete sich nicht mehr dadurch aus, gegen alle Widerstände menschlich zu handeln, sondern gegen die Menschlichkeit und auch gegen seinen eigenen inneren Widerstand, Hitlers Ziele zu verfolgen. In dieser Neuordnung wird das Moralische zu einer zu überwindenden Schwäche. Nach dieser Umpolung meldete sich das Gewissen eines SS-Offiziers also nur dann, wenn es ihm aus innerem Widerwillen nicht gelang, die von ihm erwarteten Grausamkeiten zu begehen. Die SS entwickelte laut Arendt damit ein Selbstmitleid. Man empfand es als eine Bürde, die Taten begehen zu müssen, für die andere zu schwach waren. In Eichmanns konfusem Pathos ist einiges von dieser Hybris und Gewissensverwirrung herauszuhören, wenn er zum Beispiel verkündet, er wolle nun mit den Juden Frieden schließen und andererseits erklärt, er bereue nichts und habe nur dann ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn er einen Befehl Hitlers nicht befolgt hätte.

Im Dezember 1961 endete der Prozess. Eichmann wurde zum Tode verurteilt. Sein Anwalt Servatius bewirkte ein Berufungsverfahren, aber das bestätigte nur das Urteil und argumentierte sogar noch schärfer dafür. Während das Bezirksgericht Jerusalem sein Urteil nuanciert begründete und die erwähnten juristischen Besonderheiten des Verbrechens berücksichtigte, stellte sich Israels höchster Gerichtshof ganz auf die Seite der Staatsanwaltschaft. Das Urteil selbst ist in jedem Fall unumstritten. Allerdings ist Arendt mit Begründungen beider Gerichte nicht ganz einverstanden, weil sie den tatsächlichen Charakter von Eichmanns Taten als Verbrechen gegen die gesamte Menschheit nicht erkennen. Arendt betont in ihrem Epilog die Bedeutung des Falles Eichmann als möglicher Präzenendzfall für kommende Völkermorde, in dem der neue Typus des Verwaltungsmörders in seiner reinsten Form auf der Anklagebank saß.

Der Piper Verlag hat im Jahr 2022 eine Neuausgabe von „Eichmann in Jerusalem“ mit einem zusätzlichen Nachwort von Thomas Meyer herausgegeben. Meyer verteidigt Arendts Buch hier gegen die schon erwähnte Flut von Kritik, die sofort nach seiner Veröffentlichung einsetzte. Verständlich ist, dass Arendts kritische Kommentare über die Rolle der Judenräte und über die vermeintlich egoistischen Motive mancher deutscher Widerstandskämpfer nicht jedem gefallen konnten. Aus heutiger Sicht überrascht es allerdings, dass Arendt von diesen Punkten abgesehen wie gesagt auch für ihren Ton und in manchen Fällen überhaupt dafür kritisiert wurde, dass ausgerechnet sie, die weder Historikerin noch Juristin war, sich dieses Themas angenommen hatte. Die deutschen Intellektuellen der sechziger Jahre wussten offenbar nicht, wo sie diese Publizistin und freie Autorin einordnen sollten, und dass sie in New York lebte und arbeitete, machte es noch schlimmer. Ihr sarkastisch-journalistischer Tonfall sei typisch für New York. Golo Mann bezeichnete den „New Yorker“, der die erste Version des Textes publizierte, sogar als eine satirische Zeitschrift. Ich denke, dass manche Punkte der inhaltlichen Kritik wahrscheinlich ihre Daseinsberechtigung haben und ein Thema für die Experten sind. Aber was andererseits Arendts Stil und Ton betrifft, war sie ihren Kritikern vielleicht einfach einen Schritt voraus. Heute wäre das jedenfalls kein Aufreger mehr.

„Eichmann in Jerusalem“ ist, ohne es sein zu wollen, ein Buch über die Geschichte es Holocaust, an dem Eichmann von Anfang bis Ende in zentraler Rolle beteiligt war. Als solches zeigt es die Verbrechen der Nazis am jüdischen Volk in erschütternden Details. Es ist aber vor allem ein Buch über die Frage, wie ein Mensch wie Eichmann diese Verbrechen begehen konnte. Die Normalität Eichmanns ist der andere erschütternde Aspekt dieses Buches. Der Fall Eichmann zeigt, dass wir uns unter einem Mörder ganzer Völker nicht einen rasenden Wahnsinnigen vorstellen dürfen. Was Eichmann zu diesem Mörder gemacht hat, war offenbar nicht der vielbeschworene Hass, der heute in Debatten über Rassismus, Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit eine so große Rolle spielt. Es waren vielmehr seine Distanz zum Konkreten, seine Unfähigkeit, sich in andere hinein zu versetzen, und seine Bereitschaft, einfach nur gewissenlos seinen Job zu machen. Es sind diese in jeder Bürokratie größerer Systeme allgegenwärtigen Untugenden, die Arendts Buch als das entlarvt, was Menschen unter Umständen zu Mördern machen kann. Arendts tiefgründige Analyse der juristischen und moralischen Fragen, der durch das Nazi-Regime gegebenen Umstände und nicht zuletzt der Person des Täters machen „Eichmann in Jerusalem“ insgesamt zu einem faszinierenden Werk.


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