„Sorry, ich liebe Literatur, aber Politik ist wichtiger“ | Der Literaturpreis-Skandal

Im Mai 2024 erschüttert ein Skandal den deutschen Literaturbetrieb. Unter dem dramatischen Titel „Die Jury“ schreiben die Schriftstellerinnen Juliane Liebert und Ronya Othmann in der ZEIT über ihre Erfahrung als Jury-Mitglieder für den Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt (HKW). Es ist ein angeblich sehr renommierter Preis, der jährlich für die deutsche Erstübersetzung eines ausländischen Werkes vergeben wird. Der Artikel handelt von einer Diskussion, die sich in der Jury ein Jahr vorher abgespielt haben soll. Es ging damals darum, die Shortlist des Preises für das Jahr 2023 festzulegen. Laut Liebert und Othmann argumentierten andere Jurymitglieder mit der Hautfarbe und Ethnizität der Autoren, die laut den Regeln des Preises für die Entscheidung eigentlich keine Rolle spielen sollten.

Ganz konkret soll sich nach dem ersten Wahlgang für die Shortlist eine Jurorin daran gestört haben, dass zwei schwarze Autorinnen, die auf der Longlist noch vertreten waren, nun herausfliegen würden. Sie plädierte dafür, stattdessen den von manchen Juroren favorisierten Roman „Über die See“ von Mariette Navarro von der Liste zu streichen, weil er von einer weißen Französin stamme. Nachdem die Jury sich trotz Lieberts und Othmanns Gegenstimmen zu dieser Streichung durchgerungen hatte, soll sich die weitere Diskussion darum gedreht haben, welches Buch nachrücken sollte. Zur Wahl stand ein Roman der auf Barbedos lebenden, schwarzen Autorin Cherie Jones und das Buch des ungarischen, weißen Autors Péter Nádas. Mehrere Juroren sollen argumentiert haben, dass Nádas zwar das bessere Buch geschrieben habe, aber als weißer Mann sowieso schon ein Liebling des Feuilletons sei und man Cherie Jones aus politischen Gründen unterstützen müsse. Die Entscheidung fiel am Ende auf Jones. Eine Jurorin soll in dieser hitzigen Debatte zu Liebert gesagt haben: „Du als weiße Frau hast hier eh nichts zu sagen!“ Ein anderer Juror soll gesagt haben: „Sorry, ich liebe Literatur, aber Politik ist wichtiger.“ Ein Satz, der wie ein Motto über der ganzen Debatte stehen könnte.

Die deutsche Zeitungslandschaft ist sich einig, dass es sich hier um einen Skandal handelt, aber in der Frage, worin der genau besteht, gehen die Meinungen auseinander. Für manche ist der damalige Entscheidungsprozess der Jury skandalös, für andere ist es die Tatsache, dass zwei Jury-Mitglieder gegen das Verschwiegenheitsgebot verstoßen und diese Interna nun ausgeplaudert haben. Und tatsächlich wirft dieser Artikel ein paar Fragen auf. Nachdem die berüchtigte Jurysitzung vor einem Jahr stattgefunden hat, ist es auffällig, dass die beiden Autorinnen mit ihrer Enthüllung auf einen Zeitpunkt Mitte Mai 2024 gewartet haben, genau zwei Wochen bevor die diesjährige Shortlist desselben Literaturpreises verkündet werden soll. Liebert und Othmann haben es wohl vorher mit einer internen Beschwerde versucht, die zu einem Gespräch mit dem Leiter des HKW geführt hat, aber das war schon im Juli 2023, also kein Grund bis kurz vor der neuen Jury-Entscheidung des Folgejahres zu warten. Liebert und Othmann wurden dieses Jahr natürlich nicht mehr um ihre Mitarbeit in der Jury gebeten.

Politik und Prinzipien

In diesem inzwischen von mehreren Zeitungen stark kritisierten Artikel gibt es außerdem zwei Textstellen, die ich persönlich besonders merkwürdig und sogar unfreiwillig komisch finde. An einer Selle wird erwähnt, dass eine der beiden Autorinnen, Ronya Othmann, in der damaligen Jury-Diskussion zur Verteidigung von Péter Nádas‘ Buch gesagt habe, der Autor stamme aus einer jüdischen Familie und habe sowohl in einem sozialistischen als auch in einem von Orban regierten Ungarn gelebt und dort wahrscheinlich „nicht viel zu lachen“ gehabt. Aber dann, weil die Autorinnen vielleicht selbst gemerkt haben, dass sie damit ihre eigene Kritik untergraben, lautet der nächste Satz: „Sie fand es zwar unangenehm, Derartiges ins Feld führen zu müssen, weil es ja nichts zur Sache tut, wenn es um die Qualität von Büchern geht, sie sah sich aber dazu gezwungen.“ Die eigene Prinzipientreue wird sich da ganz schön zurechtgebogen. Wenn die Autorin selbst mit dem ethnischen Hintergrund des Autors argumentiert, ist es also nur aus Zwang. Wer weiß, vielleicht fanden es die anderen Jury-Mitglieder ja auch unangenehm, mit Hautfarbe und Herkunft zu argumentieren und haben sich aber ebenfalls dazu gezwungen gesehen. Die Autorinnen hätten sich an dieser Stelle entscheiden müssen, ob sie in ihrem Artikel als die Verteidiger eines Autors mit jüdischer Herkunft oder als die unbeirrbaren Kritikerinnen gesehen werden wollen, denen die Herkunft ganz egal ist. Beides zusammen funktioniert irgendwie nicht.

Die andere merkwürdige Stelle ist ein Zitat aus der E-Mail, die Liebert und Othmann nach der damaligen Entscheidung an das HKW geschrieben haben, um sich über die erwähnten Vorgänge zu beschweren. Hier heißt es: „Wir finden, mit solch einer politischen Entscheidung werden wir nicht den großartigen Büchern gerecht, die ja eben auch vertreten sind, und noch dazu erweisen wir den von mehrfacher Marginalisierung betroffenen Autor*innen einen Bärendienst.“ Warum eigentlich? Man hat eine als marginalisiert geltende Autorin wie Cherie Jones auf die Shortlist gesetzt und ihrem Buch dadurch eventuell zu etwas mehr Aufmerksamkeit verholfen. Worin bestand zum damaligen Zeitpunkt dieser sogenannte Bärendienst? So lange die Öffentlichkeit nicht wusste, welche Diskussion im Hintergrund stattgefunden hat, gab es keinen Schaden für die schwarze Autorin. Der ist strenggenommen erst jetzt durch Lieberts und Othmanns Artikel entstanden, in dem wir unnötigerweise erfahren, dass Jones‘ Buch von einigen Jurymitgliedern zuerst als Gewaltporno bezeichnet wurde und seinen Platz auf der Shortlist nicht verdient hat. Wieder wollen die Autorinnen die Fürsprecherinnen der Marginalisierten sein und gleichzeitig argumentieren, dass die Marginalisierung keine Rolle spielen darf.

Aber auch die Gegenseite klingt in diesem Skandal nicht viel überzeugender. Die kritisierten Jury-Mitglieder haben sich bisher nicht zu Wort gemeldet, was so kurz vor der nächsten Preisverleihung verständlich ist. Das HKW hat wenige Tage nach dem ZEIT-Artikel eine Stellungnahme veröffentlicht, die angeblich die Kritik des Artikels zurückzuweist, aber dann inhaltlich mit keinem Wort mehr auf diese Kritik eingeht. Es wird nur die Tatsache angeprangert, dass der Artikel ohne Rücksprache mit dem HKW veröffentlicht wurde. Kein Wort dazu, ob sich die besagten Diskussionen so abgespielt haben, wie sie im ZEIT-Artikel beschrieben sind. Nicht ob Liebert und Othmann die Wahrheit schreiben ist also Thema, sondern ob sie sie schreiben durften. Zuerst dachte man wohl, das genügt, aber ein paar Tage später hat das HKW dann auf seiner Website inzwischen ein zweites Statement nachgelegt, das auch inhaltlich auf den Artikel eingeht und ihn von vorne bis hinten dementiert. „Es trifft nicht zu, dass der Internationale Literaturpreis 2023 nach politischen Kriterien vergeben wurde“ heißt es jetzt. Nur die „außergewöhnliche literarische Qualität“ der Texte hätte eine Rolle gespielt. Die im Artikel zitierten Sätze seien so nicht gefallen. Es steht nun also Aussage gegen Aussage.

In die Richtung der ersten Stellungnahme des HKW, dass die ganze Sache unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt nicht hätte veröffentlicht werden dürfen, gehen auch die Äußerungen der bekannten Literaturkritikerin Insa Wilke, die sich mit einem Gastbeitrag in Der Freitag und einem Interview auf NDR in den Fall eingeschaltet hat. Insa Wilke hat schon in vielen Jurys gesessen, aber weder in der damaligen noch der heutigen Jury des HKW und hat daher mit der ganzen Sache eigentlich so viel zu tun wie du und ich. Manches an ihrer harten Kritik an Liebert und Othmann finde ich nachvollziehbar: Die Kritik an der Vorgehensweise, insbesondere im Hinblick auf den schon erwähnten, sehr verdächtigen Zeitpunkt der Veröffentlichung und auch der Einwand, dass es gegenüber den angeprangerten Jury-Mitgliedern einfach unfair ist, Gespräche öffentlich wiederzugeben, die mindestens in Nuancen vielleicht doch anders gelaufen sind und hier in jedem Fall einseitig dargestellt wurden. Frau Wilke glaubt auch, dass die ZEIT mit dieser Veröffentlichung gegen journalistische Regeln verstoßen hat, was ich nicht unbedingt glaube, aber egal. Es gibt allerdings drei Punkte in Frau Wilkes Äußerungen, die ich nicht nachvollziehen kann und auf die ich hier näher eingehen will, weil diese Punkte wenigstens interessanter sind, als die meisten Kommentare zu diesem ganzen Vorgang.

Alles schonmal dagewesen?

Erstens hat Frau Wilkes Zeitungsbeitrag einen stark relativierenden Grundton. An ihren Ausführungen ist bestimmt richtig, dass man das Ästhetische und das Politische als Jury nie ganz von einander trennen kann und vielleicht auch gar nicht sollte, dass es vielleicht sogar die Aufgabe einer Jury sein kann, marginalisierten Autoren oder allgemeiner gesagt noch nicht wahrgenommenen Stilen und Hintergründen den Weg ans Licht der Öffentlichkeit zu bahnen, und dass all diese Fragen schon lange diskutiert werden und zum Selbstfindungsprozess einer Jury dazugehören. „Die Diskussion an sich gibt es schon immer, sie hört nie auf“, schreibt Wilke. „Die Argumente sind die alten. Nur die Zusammensetzung der Lager und ihre gesellschaftspolitischen Kontexte ändern sich.“ Aber was Liebert und Othmann hier beschreiben geht doch deutlich über das hinaus, was man zumindest als Außenstehender von einer verantwortungsvollen Jury erwartet. Wenn diese grobe Vermengung von Kriterien wirklich nichts neues und in der einen oder anderen Form längst dagewesen ist, wäre das umso schlimmer. Ein Skandal-Artikel wie dieser wäre doch erst recht längst notwendig, wenn Literaturpreisjuries schon lange unter ähnlichen wie den beschriebenen Symptomen leiden sollten. Oder soll man das einfach als chronisches Leiden akzeptieren?

Der zweite Punkt, den ich nicht verstehe, ist Frau Wilkes striktes Beharren auf der Verschwiegenheit der Juroren. „Dass die Arbeit von Jurys in der Regel nicht-öffentlich stattfindet, ist keine blöde Konvention, sondern eine Notwendigkeit“, schreibt sie. Es verwirrt mich, dass dieser Satz ausgerechnet von Frau Wilke stammt, die viele Jahre lang die Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises geleitet hat. Der Bachmann-Preis ist ja gerade ein sehr gutes Beispiel für funktionierende Jury-Arbeit, die vor den Augen der Öffentlichkeit stattfindet. Es ist gerade das interessante an diesem Preis, dass die Argumente der Juroren öffentlich und die Urteile der Jury daher, wenn alles gut läuft, vollkommen nachvollziehbar sind. Im Jahr 2023 beispielsweise konnte man nach den im ORF übertragenen Diskussionen problemlos vorhersagen, welche Autoren die Jury am Ende auszeichnen würde. Diese Nachvollziehbarkeit würde man anderen Preisen doch nur wünschen.

Natürlich ist es verständlich, dass die meisten Jurys ihre Debatten aus Selbstschutz und zum Schutz der Autoren lieber nicht öffentlich austragen, abgesehen davon, dass sich das alles niemand ansehen würde. Aber wie schädlich kann es wirklich sein, wenn Juroren sich in einer entscheidenden Sitzung selbst fragen, ob sie ihre Standpunkte in dieser Form auch öffentlich vertreten würden? In einer öffentlichen Sitzung wären die von Liebert und Othmann benannten Sätze unvorstellbar. Gegenseitige Denunziation darf kein Standard werden, aber die Nicht-Öffentlichkeit als Notwendigkeit für Jury-Arbeit zu verteidigen, ist für mich nicht nachvollziehbar.

Wann man die Wahrheit drucken darf

Das alles sind Fragen, in denen ich mich als ahnungsloser Beobachter gerne noch von Literaturprofis und Jury-Urgesteinen überzeugen lasse, aber den letzten Punkt, den Frau Wilke in ihrem Beitrag macht, finde ich wirklich bedenklich. Liebert und Othmann hätten mit ihrer Aktion das Vertrauen in Institutionen des Literaturbetriebs und der Gesellschaft erschüttert, und das ausgerechnet in Zeiten, die politisch ohnehin schon heikel seien. Über die Redaktion der ZEIT schreibt Frau Wilke am Ende ihres Beitrages: „Die Redaktion hätte in der derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Situation erkennen können, dass ein solcher Vorgang das Klima öffentlicher Debatten weiter vergiftet.“ Nach dieser Logik dürfte die ZEIT die kritische Wahrheit nur dann drucken, wenn die gesellschaftliche Situation das aushält. Ich kann nur vermuten, dass Frau Wilke mit dieser derzeitigen Situation einen erneuten Aufschwung der AfD oder anderer rechtspopulistischer Kräfte meint, aus deren Sicht der Kulturbetrieb sowieso nur eine einzige linke und woke Verschwörung ist.

Aber gerade deshalb ist es meiner Meinung nach gut, dass diese Kritik, wenn sie denn gerechtfertigt ist, nicht von irgendwelchen AfD-Abgeordneten kommt, sondern von zwei Autorinnen aus diesem vermeintlich linken Kulturbetrieb. Es ist auch genau richtig, dass sie in einem eher linken Mainstream-Medium wie der ZEIT veröffentlicht wird. So lange diese Kritik, die Frau Wilke anscheinend lieber unterbinden würde, von innen kommt und ihre Aufarbeitung innerhalb des Kulturbetriebs stattfindet, gibt es für Rechtspopulisten hier überhaupt nichts zu gewinnen. Vieles kann man an diesem Vorstoß wie gesagt kritisch sehen, aber die Tatsache, dass eine solche Debatte nun stattfindet, ist im besten Fall ein Selbstheilungsprozess und in jedem Fall ein Zeichen dafür, dass es innerhalb des Betriebes eine kritische Auseinandersetzung durchaus gibt. Mehr braucht man nicht, um Verschwörungstheorien zu entkräften.

Um zum Abschluss nochmal auf den eigentlichen Inhalt von Lieberts und Othmanns Artikel zurückzukommen: Meiner Meinung nach wäre es überhaupt kein Problem, wenn eine Institution wie das HKW einen Literaturpreis ganz gezielt zur Unterstützung von marginalisierten Autoren vergeben würde. Solche Preise gibt es und ich denke, sie haben auch ein gewisses Zielpublikum. Es gibt Leser, die ganz bewusst Bücher dieser Autoren bevorzugt kaufen. Ein Problem entsteht nur dann, wenn man nach außen die ästhetischen Kriterien betont und intern die politischen anwendet. Das ist der entscheidende Punkt in Lieberts und Othmanns Kritik. Wenn das wirklich in dieser und anderen Jurys stattfindet, werden Leser wie ich, denen die Herkunft der Autoren meistens egal ist, in die Irre geführt. Diesen Lesern sind dann auch Literaturpreise irgendwann egal. Wer das vermeiden will, sollte diese Kritik ernst nehmen.


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