Ungelogen und nicht wahr | „Bullshit“ und „Über die Wahrheit“ von Harry G. Frankfurt

Der berühmte Essay des Philosophen Harry G. Frankfurt über ein Phänomen namens Bullshit erschien in einer ersten Version schon 1986 in einer Fachzeitschrift und wurde dann im Jahr 2005 als gebundenes Buch zum Bestseller. Seitdem steht das kleine rote Buch mit dem auffälligen Titel „Bullshit“ auch im Philosophie-Regal jeder deutschen Buchhandlung.

Diese Behauptung ist eigentlich schon ein Beispiel für Bullshit, denn natürlich weiß ich nicht, ob das Buch wirklich in jeder deutschen Buchhandlung steht – wahrscheinlich eher nicht – und es ist mir sogar egal, ob das stimmt. Unter Bullshit versteht Frankfurt solche Aussagen, bei denen es dem Sprecher nicht auf ihren Wahrheitsgehalt ankommt. In seinem Buch gibt er ein historisches Beispiel: Ludwig Wittgenstein hat einmal Fania Pascal, eine Freundin die ihm Russisch beibrachte, im Krankenhaus besucht. Frau Pascal hatte eine Mandeloperation hinter sich und als Wittgenstein sich nach ihrem Zustand erkundigte, antwortete sie ihm, sie fühle sich wie ein überfahrener Hund. Wittgenstein war anscheinend nicht in der Stimmung für smalltalk und soll sich über diese Antwort aufgeregt haben, weil Frau Pascal nicht wissen konnte, wie sich ein überfahrener Hund fühlt und ihre Aussage deshalb keinen Sinn ergab. In Wittgensteins Augen war die Behauptung, auch wenn er es nicht so nannte, ein Fall von Bullshit, weil sie nicht einmal den Versuch machte, wahr oder falsch zu sein. Ihr Wahrheitsgehalt spielte einfach keine Rolle.

Verpfuschtes Handwerk

Frankfurt vergleicht solche Aussagen mit der Arbeit eines schlampigen Handwerkers. So wie ein betrügerischer Klempner, der die Abflussrohre nur zum Schein repariert und nur etwas an ihnen herumschraubt, um bezahlt zu werden, so gibt der Bullshit-Produzent sich den Anschein, an Kommunikation teilzunehmen. Was er von sich gibt, ist aber in Wirklichkeit nicht dazu da, Information zu übermitteln, sondern verfolgt einen ganz anderen Zweck. In den meisten Fällen geht es ihm einfach darum, sich selbst durch das gesagte günstig darzustellen. Das Beispiel von Wittgenstein ist natürlich vollkommen harmlos und Frau Pascal wollte mit ihrer Übertreibung wahrscheinlich nur ihren Besucher trotz der unangenehmen Situation aufheitern oder unterhalten. Unter den ernsteren Fällen von Bullshit, die nicht nur ein Wittgenstein als schädlich empfinden würde, sind typischerweise öffentliche Äußerungen von Politikern und anderen Verantwortungsträgern, die allein dazu gedacht sind, die eigene Person als kompetent oder durchsetzungsstark erscheinen zu lassen. Bullshit ist also ein uraltes Phänomen und tritt zwangsläufig dort auf, wo Menschen sich irgendwie darstellen müssen und Angst haben, den Erwartungen an ihre Kompetenz nicht gerecht zu werden.

Um den Begriff Bullshit noch klarer zu definieren, vergleicht Frankfurt ihn mit der Lüge und grenzt ihn davon ab. Die Lüge ist laut Frankfurt eine doppelte Täuschung: Der Lügner spricht nicht nur die Unwahrheit aus, und täuscht seinen Zuhörer also über eine bestimmte Tatsache, sondern er tut gleichzeitig so, als ob er die Lüge selbst für wahr hält. Die zweite Täuschung besteht also darin, dass der Lügner einen Bewusstseinszustand vorgaukelt, der nicht wahr ist, denn er glaubt seine Lüge selbst ja nicht. Er gibt vor, das zu sagen, woran er selbst glaubt, und damit steckt in jeder Lüge automatisch ein zweiter Betrug. Im Vergleich dazu ist Bullshit keine doppelte, sondern nur eine einfache Täuschung. Der Bullshit-Produzent will seinen Zuhörer nicht von seiner Behauptung überzeugen. Ob diese Behauptung stimmt oder nicht, spielt keine wirkliche Rolle, und wie die genannten Beispiele zeigen, weiß er das vielleicht selbst nicht einmal. Die Täuschung hat in seinem Fall nur mit seiner Absicht zu tun. Er gibt sich mal mehr und mal weniger ernsthaft den Anschein, es gehe ihm um das Gesagte, aber das Ziel seines Sprechens ist nur, auf eine bestimmte Weise wahrgenommen zu werden.

Wankende Wahrheit

Frankfurt legt mit diesem Essay also eine ausführliche Definition des Bullshit-Begriffs vor. Der Grund für sein Interesse an diesem Thema wird am Ende des Textes klar. Frankfurt glaubt, dass die Bullshit-Produktion in letzter Zeit stark angestiegen ist und er sieht darin eine Entwertung der Wahrheit. Deshalb widmete er sich in einem weiteren, im Jahr 2006 ebenfalls als Buch erschienenen Essay als Fortsetzung von „Bullshit“ allein dem Thema Wahrheit. Hier gibt er für die Krise der Wahrheit zunächst den Postmodernisten die Schuld.

Postmoderne Theorien suggerieren laut Frankfurt, dass die Unterscheidung von wahr und falsch vom persönlichen Standpunkt abhängt. Wahr ist für uns demnach das, was die Gesellschaft uns zu glauben zwingt, und so wird die Unterscheidung zwischen wahr und unwahr also zu einer Frage gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Diese Sichtweise führt laut Frankfurt dazu, dass viele Menschen gar nicht mehr an die Wahrheit also solche glauben. Komplexe Aussagen und Werturteile scheinen oft so stark vom Kontext und von der Interpretation der Umstände abhängig zu sein, dass eine Unterscheidung zwischen wahr und falsch nicht möglich ist. Was übrig bleibt, ist dann nur noch die Frage, welcher gesellschaftlichen Gruppierung oder Machtströmung eine Aussage nützt oder schadet.

Frankfurt lehnt diese Denkweise entschieden ab. Zwar gibt er zu, dass Werturteile strenggenommen nicht wahr oder falsch sein können, aber sie sollten auf Fakten basieren, die dieser Unterscheidung unterliegen. Frankfurt betont in diesem Essay, wie wichtig diese Unterscheidung ist. Eine Gesellschaft, die sich in ihren Entscheidungen nicht mehr an der Wahrheit orientiert, kann sich nicht mehr als rational bezeichnen und ist seiner Ansicht nach zum Niedergang verurteilt.

Was den Begriff der Lüge betrifft, fügt er hier zu seiner Charakterisierung aus dem vorangegangenen Essay noch eine interessante Beobachtung hinzu: Wenn wir belogen werden, insbesondere von jemandem, der uns nahesteht und dem wir vertrauen, wird uns eine falsche Welt vorgetäuscht. Die Lüge selbst mag zwar vielleicht nur ein kleines Detail betreffen, aber weil alles mit einander zusammenhängt, leben wir, wenn wir an die Lüge glauben, insgesamt in einer Täuschung. Menschen, die plötzlich merken, dass sie über lange Zeit von einem Freund oder Partner belogen wurden, fühlen sich deshalb oft so, als ob mit ihnen selbst und ihrer Wahrnehmung der Realität etwas nicht stimmt. Sie fühlen sich auf eine bestimmte Art verrückt. Laut Frankfurt ist das ein Effekt, der für die Lüge charakteristisch ist. Sie entkoppelt uns ein Stück von der Wirklichkeit und macht uns sozusagen verrückt, indem sie uns vortäuscht, dass wir es sind, die die Dinge falsch sehen. In einer einfachen Lüge steckt also bereits das, was man, wenn es konsequent betrieben wird, in der Psychologie und inzwischen auch umgangssprachlich als Gaslighting bezeichnet.

Sowohl seinen Text über Bullshit als auch den späteren über die Wahrheit beendet Frankfurt mit demselben Thema, nämlich dem Wissen über die eigene Identität. Sich selbst zu kennen ist nicht einfach, und um etwas über uns selbst herauszufinden, müssen wir laut Frankfurt mit unserer Umgebung interagieren, die uns unsere Grenzen aufzeigt. Durch die Wechselwirkung mit der Welt lernen wir uns selbst erst kennen. Wenn diese Interaktion aber gestört ist, weil wir uns von Lüge und Bullshit verwirren lassen oder wenn wir sogar aufgegeben haben, Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden, dann muss auch die eigene Identität im unklaren bleiben.

Fake news

Frankfurt hat seine Texte als Kritik am postmodernen Denken und aus Anlass eines Werteverfalls in sachen Wahrheit geschrieben, und dabei konnte er in den Jahren 2005 und 2006 noch gar nicht wissen, dass es noch viel schlimmer kommen würde. Der Bedeutungsgewinn des Internet und eine dadurch bedingte Krise der etablierten Medien führte dazu, dass die Unterscheidung zwischen wahr und unwahr nicht nur für postmoderne Philosophen sondern für die gesamte informierte Öffentlichkeit zu einem unüberschaubaren Problem wurde, vor dem man manchmal am liebsten kapitulieren würde. Als logische Konsequenz wurde in Frankfurts Heimatland ein Mann zum Präsidenten gewählt, dem dieser Unterschied nichts mehr bedeutet. Wie tief diese Krise ist, zeigt sich darin, dass Trump nach einer Amtszeit voller offensichtlicher Lügen und einer gefährlichen Hetzkampagne, die im Sturm auf das Kapitol gipfelte, tatsächlich noch einmal für eine dritte Kandidatur im Gespräch ist. Das kann nicht bedeuten, dass halb Amerika diesem Mann noch glaubt. Die einzige mögliche Erklärung hierfür ist, dass man sich damit abgefunden hat, grundsätzlich von allen Seiten belogen zu werden, und Trump lügt aus der Sicht seiner Wähler wenigstens für die richtige Seite. Wenn die Feindschaft zwischen den politischen Lagern nur groß genug ist, nimmt man vom eigenen Kandidaten belogen zu werden als das kleinere Übel in Kauf.

Ich finde es interessant, dass diese durch Trump personifizierte Krise der Wahrheit ausgerechnet in einem Land so drastisch ausbrechen konnte, in dem die Bevölkerung über mehr Information verfügte, als irgend ein Volk auf der Welt je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Von Diktaturen kennt man es eigentlich, dass Bevölkerungen Informationsquellen vorenthalten werden, um sie besser belügen zu können. In den USA scheint es umgekehrt ein Überfluss an frei verfügbaren Informationsquellen gewesen zu sein, der die hemmungslose Lüge zur Gewinnstrategie machte. Das Risiko, einem Lügner zu folgen, liegt also nicht nur bei denen, die über zu wenig Information verfügen, um die Lüge zu entlarven, sondern ebenso bei denen, die über zu viel Information verfügen, um in dieser Flut noch Grenzen zwischen wahr und unwahr ziehen zu können. Irgendwo zwischen zu viel und zu wenig liegt vielleicht als gesunde Mitte eine ausreichende, aber noch nicht von alternativen Fakten und Pseudofakten hoffnungslos verwässerte Informationsmenge.

Philosophen wie Frankfurt werden diese Informationsflutkatastrophen nicht wieder umkehren können, aber eine Analyse von Phänomenen wie Lüge und Bullshit oder später Fake News und Alternative Facts hilft wenigstens, das Problem besser zu verstehen. Frankfurt hat für diese Untersuchungen mit seinen populären und gut lesbaren Texten einen wichtigen Anstoß gegeben, noch bevor sich die darin angedeutete Krise wirklich entfalten konnte.


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