Böse Biologie | „Testosterone“ von Carole Hooven

Es muss einen besonderen Grund haben, wenn ein Buch über Hormone im Internet eine Aufmerksamkeit erfährt, wie es für Carole Hoovens Sachbuch „Testosterone“ im Sommer 2021 der Fall war. Die Biologin und Harvard-Dozentin Hooven hat es mit diesem vermeintlich trockenen, wissenschaftlichen Thema immerhin in den Joe Rogan Podcast geschafft und im Netz für gewissen Aufruhr gesorgt. Warum ist Testosteron ein so brisanter Stoff?

Zunächst kann man Carole Hooven zugute halten, dass sie ein für Laien verständliches Buch über ihr Spezialgebiet geschrieben hat. Die trockenen Fakten, wie Testosteron entdeckt wurde und wie es im Körper wirkt, sind mit einer Fülle von Beispielen ansprechend verpackt und durch persönliche Erfahrungen der Autorin aufgelockert. Die Testosteronforschung ist für Hooven ein sehr persönliches Thema. Das Buch beginnt mit einer Erinnerung daran, wie sie als junge Wissenschaftlerin in einem Forschungscamp in der Wildnis von Uganda am frühen morgen versucht, das Urin von Schimpansen, die sich nach dem Aufwachen direkt von den Bäumen herunter erleichtern, in Behältern aufzufangen, um mit diesen Proben den Testosteronspiegel der Tiere zu ermitteln und dann zu beobachten, wie ihr Verhalten damit zusammenhängt.

Das eigentliche Ziel ist aber, die Rolle des Hormons im menschlichen Körper zu verstehen. Hooven betont, dass Männer grundsätzlich mit einem deutlich höheren Testosteronpegel leben, als Frauen und insbesondere in bestimmten Phasen vor der Geburt und dann während der Pubertät eine besonders hohe Konzentration davon in der Blutbahn haben. Der ungestörte Verlauf beider Phasen und verschiedene andere Faktoren, wie das Vorhandensein bestimmter Enzyme, sind entscheidend, um die Entwicklung eines typisch männlichen Körpers hervorzubringen. Das Hormon steuert die Entwicklung der Geschlechtsorgane, beeinflusst Knochenbau, Muskulatur und Stimmbänder und wirkt sich auf das Sexualverhalten aus. Unterschiede zwischen Mann und Frau hinsichtlich der durchschnittlichen Körpergröße, dem Körperbau, der Aggressivität, der Partnerwahl und der sexuellen Aktivität sind nach Carole Hoovens Darstellung stark vom Testosterongehalt im Körper abhängig.

Der Fall Jenny

Die Schlüsselfunktion des Hormons zeigt sich besonders in Sonderfällen, wie etwa am Beispiel einer Harvard-Studentin namens Jenny, die Hooven durch ihre Vorlesung kennengelernt hat. Jenny ist dem äußeren Erscheinen nach eine typische junge Frau. Als in der Pubertät aber ihre Periode ausblieb, wurde bei ihr das seltene Complete Androgen Sensitivity Syndrome diagnostiziert. Wie sich herausstellte, war Jenny mit den für Männer typischen XY-Chromosomen zur Welt gekommen und ihr Körper hat dementsprechend hohe Testosteronmengen produziert. In ihrem Fall konnten die Körperzellen das Hormon aber nicht aufnehmen und dadurch blieb es wirkungslos. Wegen des Y-Chromosoms bildete sich in ihrem Körper zwar kein weiblicher Uterus, aber davon abgesehen entwickelten sich durch den ausbleibenden Effekt des Testosterons die typischen weiblichen Geschlechtsmerkmale und äußeren Geschlechtsorgane.

Der Fall zeigt deutlich, wie die unterschiedliche Entwicklung von weiblichen und männlichen Körpern vom Testosteron abhängt. Aus der selben Keimdrüse, der sogenannten Gonade, die im frühen Entwicklungsstadium eines Fötus noch nicht auf ein Geschlecht festgelegt ist, entwickeln sich männliche oder weibliche Geschlechtsorgane, je nachdem, ob Testosteron hinzugegeben wird oder nicht. Das Beispiel von Jenny zeigt außerdem, dass die Hormone Testosteron und Östrogen im menschlichen Körper keine sich gegenseitig ausschließenden Alternativen sind, sondern mit einander zusammenhängen, denn Testosteron wird durch die Wirkung eines Enzyms in Östrogen umgewandelt. Nur so war es möglich, dass in Jennys Körper genug Östrogen zur Verfügung stand, um eine typisch weibliche Pubertät zu erleben. Nebenbei lässt sich aus Jennys Fall auch erkennen, dass die Frage nach dem biologischen Geschlecht eines Menschen nicht immer ganz einfach ist. Wer sich allein an den Chromosomen orientiert, müsste Jenny als Mann bezeichnen, obwohl sie bei der Geburt als weiblich identifiziert wurde, sich typisch weiblich entwickelt hat und sich selbst aus guten Gründen als Frau bezeichnet.

Das Streitpotential um Carole Hoovens Buch besteht aber offenbar nicht wegen der Erläuterung solcher Spezialfälle sondern wegen dem allgemeinen Tenor, der in ihrem Buch und vielleicht generell in ihrer Forschungsrichtung herrscht. Denn auch wenn es natürlich gewisse Einschränkungen und offene Fragen gibt, ist sich die endokrinologische Forschung laut Carole Hooven vollkommen einig und sicher, dass Testosteron für die genannten Unterschiede zwischen den Geschlechtern und insbesondere auch für gewisse Verhaltensunterschiede verantwortlich ist. Eine bestimmte Richtung in der populären feministischen Literatur sieht das aber offenbar ganz anders. Hooven erwähnt hier unter anderem die Bücher „Testosterone: an unauthorized biography“ von Rebecca Jordan-Young und Katrina Karkazis, das Buch „Testosterone Rex“ von Cordelia Fine und auch Angela Sainis Buch „Inferior: How Science Got Women Wrong-and the New Research That’s Rewriting the Story“.

In dieser Literatur werden biologische Ursachen für Geschlechterunterschiede angezweifelt und der biologischen Forschung werden gewisse Vorurteile und eine Überbewertung des Hormons vorgeworfen. Es ist hier oft von der Entmystifizierung von Testosteron die Rede. Das Hormon wird von seinem Thron der Erklärungshoheit gestürzt und an seiner Stelle wird die Prägung des Individuums durch die Gesellschaft für die Unterschiede zwischen den Geschlechtern verantwortlich gemacht. Aus feministischer Sicht hat diese Erklärung den Vorteil, dass wir die patriarchisch dominierte Gesellschaft verändern oder ihre schädlichen Einflüsse eventuell ignorieren können, während wir biologische Gegebenheiten einfach akzeptieren müssten.

Testosteron und Kinderspielzeug

Aus Sicht der Biologin Hooven ist diese Denkweise eine Verfälschung der wissenschaftlichen Tatsachen. Ihre Forschungsrichtung gegen diese Angriffe zu verteidigen ist die eigentliche Motivation für dieses Buch. Der klassische Streitfall in dieser Debatte sind Kinderspielzeuge, denen Hooven ein ausführliches Kapitel widmet. Wenn man Jungs und Mädchen vor die Wahl stellt, ob sie lieber mit einem Schaufelbagger oder einem Kosmetik-Set spielen wollen, entscheiden sich die allermeisten Jungs für den Bagger und die meisten Mädchen für das Schminken, aber liegt das am Testosteron, oder daran, dass die Gesellschaft es ihnen so vorgemacht hat und quasi von ihnen erwartet?

Hooven zitiert zu dieser Frage eine interessante Studie, an der Kinder teilgenommen haben, bei denen ein seltene genetische Unregelmäßigkeit namens Congenital Adrenal Hyperplasia oder auch CAH vorliegt. Diese Kinder, hatten vor der Geburt in einer bestimmten Entwicklungsphase eine erhöhte Menge an Testosteron im Körper und haben sich danach aber davon weitgehen unbeeinträchtigt als Jungen oder Mädchen weiterentwickelt. CAH hatte also keinen Einfluss darauf, in welchem Geschlecht sich die Kinder entwickelten und von der Gesellschaft zugeordnet und geprägt wurden. In der Studie hatte man diese Kinder nun gebeten, sich aus einer Auswahl von Spielzeugen für eines zu entscheiden. Die Mädchen, bei denen CAH diagnostiziert wurde, und die also vor der Geburt mehr Testosteron im Körper hatten, griffenen häufiger zum Schaufelbagger, als die Mädchen, mit normal niedrigem vorgeburtlichem Testosteronspiegel. Hooven kommt zu der Schlussfolgerung, dass die Hormone für geschlechtertypisches Verhalten also eine große Rolle spielen. Natürlich ist die Wahl des Spielzeugs nur der erste Vorbote späterer Verhaltensunterschiede.

Für einen Außenstehenden wie mich ist es erstaunlich, dass die Ergebnisse, die Hooven in ihrem Buch gegen die Angriffe der Testosteron-Kritiker zu verteidigen versucht, offenbar keine umstrittenen oder brandneuen Arbeiten sind, deren Interpretation in der Biologie noch zur Debatte stünde, sondern es sind die Meilensteine und Klassiker dieser Forschungsrichtung, die Ergebnisse, die innerhalb der Biologie längst akzeptiert sind und tausendfach zitiert wurden. Es ist ungefähr so, als stünde in der Physik plötzlich Einsteins Relativitätstheorie zur Debatte. Mich erinnert das an die Zeit als ich Student war und in unserer Mensa manchmal eine obskure Gruppe von Aktivisten Flyer verteilte, auf denen tatsächlich behauptet wurde, dass die Relativitätstheorie nicht wahr sein könne, weil sie dem gesunden Menschenverstand widerspreche. Zwillinge müssten nämlich laut gesundem Menschenverstand immer gleich alt sein, egal, ob einer von ihnen mit hoher Geschwindigkeiten unterwegs war. Die Gruppe hatte sich eine Verschwörungstheorie zusammengereimt, laut der die Physiker an den Universitäten alle alternativen Theorien absichtlich unterdrückten und ignorierten. Natürlich wurden diese Flyer toleriert und keiner der Professoren wäre auf die Idee gekommen, Einsteins Theorie gegen diesen Angriff verteidigen zu müssen. Ich frage mich deshalb, was es für die Biologie und speziell die Geschlechterforschung bedeutet, wenn eine Biologin das Gefühl hat, die grundlegenden Ergebnisse dieser Forschung verteidigen zu müssen? Bedeutet es einfach, dass die ideologisch motivierten Kritiker so laut und schrill geworden sind, dass man ihnen etwas entgegensetzen muss, um sie die Öffentlichkeit nicht weiter in die Irre führen zu lassen? Oder kann es bedeuten, dass diese Forschungsergebnisse tatsächlich zur Debatte stehen und eventuell neu überdacht werden müssen? In beiden Fällen ist die Biologie in einer traurigen Lage.

Erfahrungen bei der Geschlechtsumwandlung

Obwohl man dem defensiven, sich rechtfertigenden Tonfall des Buches das aufgeheizte Klima dieser Debatte deutlich anmerkt, gibt Carole Hooven sich alle Mühe, sachlich und differenziert zu bleiben. Dass Hormone nicht alles vorgeben und neben der Biologie auch gesellschaftliche Einflüsse für unterschiedliche Verhaltensweisen zwischen den Geschlechtern eine große Rolle spielen, gibt sie eindeutig zu. Insbesondere bewahrt sie sich auch auf einem anderen notorischen Schlachtfeld der Geschlechterdebatte eine differenzierte Haltung, nämlich wenn sie von Transsexualität spricht. In einem ausführlichen Kapitel zu diesem Thema lässt sie drei transsexuelle Personen selbst zu Wort kommen und von ihren Erfahrungen mit der Geschlechtsumwandlung berichten: einen Trans-Mann, eine Trans-Frau, und eine Frau, die eine Umwandlung zum Mann durchlief und diese dann rückgängig machte. Alle drei haben ihre besonderen persönlichen Erfahrungen mit den jeweiligen Änderungen des Testosteronspiegels währen der Umwandlung gemacht und sie haben an sich selbst individuelle Veränderungen des Körpers und auch ihrer Verhaltensweisen beobachtet. Es gelingt Carole Hooven hier sehr gut, mit Empathie zu sprechen und die menschliche Seite ihres Forschungsthemas hervorzuheben. Das Thema Geschlechtsumwandlung ist ein überzeugendes Beispiel dafür, dass die Erforschung von Geschlechtshormonen nicht nur aus akademischem Interesse betrieben werden sollte, sondern Menschen ganz konkret helfen kann, die diese Hormone kontrolliert einnehmen oder blockieren müssen, um sich nicht ein Leben lang im falschen Körper zu fühlen.

Ausgerechnet das Thema der Transsexualität ist es aber, in dem Hooven mit einigen ihrer Gesprächspartner auf der Werbetour für ihr Buch nicht auf einen Nenner kommt. Joe Rogen stimmt ihr zwar erwartungsgemäß darin zu, dass sich die Biologie nicht von der feministischen Theorie wegdiskutieren lassen darf, aber als Hooven sich nicht festlegen will, in welcher Geschlechtskategorie Trans-Personen an Sportwettkämpfen teilnehmen sollen, kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung. Dass Hooven sich in dieser Frage zurückhält und einfach nur kein abschließendes Urteil abgeben will, ist für den polternden Podcaster und Martial-Arts-Fanatiker bereits inakzeptabel. Auch im Podcast der kanadischen Feministin Meghan Murphy, deren Artikel unter anderem in der Zeitschrift Emma erschienen sind, durfte Hooven ihr Buch vorstellen. Murphy ist dafür bekannt, dass sie wie auch Jordan Peterson gegen die kanadische Gesetzgebung zur Verwendung von Personalpronomen, die berüchtigte bill C-16, protestierte. Im Unterschied zu Peterson weigert sich die Feministin darüber hinaus auch im Gespräch mit oder über Trans-Personen, deren präferierte Pronomen zu verwenden und ordnet sie grundsätzlich ihrem ursprünglichen Geschlecht zu. Im Netz kennt man diese Haltung als trans excluding radicalk feminism. Murphy vertritt hiermit eine vollkommen konträre Haltung zu Hooven, die in ihrem Buch für die Akzeptanz von Geschlechtsumwandlungen wirbt.

Willkommen im ‚intellectual dark web‘

Angesichts dieser Podcast-Auftritte scheint es, dass sich eine gewisse konservative Szene im Netz etwas mehr von der Biologin Hooven und ihrem Buch erhofft hat. Immerhin gibt es in Nordamerika mit Jordan Peterson und den Brüdern Eric und Bret Weinstein inzwischen sehr bekannte Beispiele von Akademikern, die sich sehr kritisch gegen die political correctness der dortigen Universitäten und ihre Beeinflussbarkeit durch Aktivisten positioniert haben. Auch Hoovens Buch hat eine solche kritische Tendenz, denn sie befürchtet offenbar, dass ihr Forschungsgebiet dem Kampf um soziale Gerechtigkeit zum Opfer fällt und die biologischen Fakten, die nicht ins politisch korrekte Bild passen, demnächst nicht mehr auf dem Harvard-Lehrplan stehen. Gleichzeitig ist das Buch aber eben keine Streitschrift gegen nordamerikanische Social Justice Warriors, sondern höchstens eine für die Biologie. Hoovens Standpunkte bleiben nüchterner und differenzierter, als es sich diejenigen vielleicht wünschen, die sie gerne in ihre Reihen aufgenommen hätten.

Unabhängig vom Inhalt gibt es für mich einen negativen Aspekt, der wohl auch durch das aufgeheizte Klima um die Geschlechter- und Genderdebatte verschuldet ist. Hooven bindet persönliche Erlebnisse in ihre Ausführungen ein, was das Buch grundsätzlich angenehm auflockert, aber an manchen Stellen ist es für meinen Geschmack für ein naturwissenschaftliches Sachbuch etwas zu viel des Guten. Für mich entsteht der Eindruck, dass Hooven den Leser nicht nur von ihrer Wissenschaft überzeugen, sondern ihm auch sympathisch sein will. Man lernt sie im Lauf des Buches erst als emotionale Studentin und dann als sorgende Mutter und leidenschaftliche Dozentin kennen, die ihre wundervollen, fleißigen Harvard-Studenten nach Kräften fördert. Vielleicht stimmt dieses Selbstbild sogar, aber wenn damit bezweckt werden soll, dass ich die Wissenschaftlerin mögen soll, um dann auch ihre Wissenschaft zu akzeptieren, finde ich das unnötig. An manchen Stellen wäre es mir persönlich lieber gewesen, Hooven hätte das trockene Material für sich sprechen lassen. Vielleicht hatte sie das Gefühl, dass damit allein nicht gegen die Testosteron-Kritiker anzukommen, sondern von sich auch das Bild einer sympathischen Autorin zeichnen zu müssen, die sich nicht zum Feindbild eignet. Angesichts der aufgeheizten Stimmung um dieses Thema ist es eine verständliche Maßnahme zum Selbstschutz.

„Testosterone“ ist insgesamt ein lehrreiches und sehr gut lesbares Buch, das neben den wichtigsten Grundlagen über Geschlechtshormone auch einen Einblick in die absurde Situation bietet, in der sich die Biologie heute anscheinend befindet.


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