Mother, should I build the wall? | „Symbole der Wandlung“ von Carl Jung

In seinem Buch „Symbole der Wandlung“ analysiert Carl Jung mythologische Stoffe und Symbole aus allen fünf Kontinenten und verschiedensten Epochen der Menschheitsgeschichte und arbeitet ihre Verbindungslinien zur menschlichen Psyche heraus. Der Ausgangspunkt des Buches ist die Traumdeutung von Jungs Freund und Lehrer Sigmund Freud, über die Jung mit diesem Werk weit hinausgeht.

Zunächst stimmt Jung mit Freud darin überein, dass Träume mit ihrer Symbolik oft auf einen unterdrückten Drang oder Trieb hinweisen und dass diese Unterdrückung Ursache psychischer Störungen sein kann. Der Drang verwandelt sich, weil er sich nicht frei entfalten darf und taucht in dieser veränderten Form als Symbol im Traum auf. Freud und Jung sind sich allerdings nicht darin einig, wie dieser Zusammenhang zwischen dem Traumbild und dem ursprünglichen Drang genau aussieht.

Der Fall, an dem sich diese Meinungsverschiedenheit entzündet, ist Freuds berühmter Ödipuskomplex. Laut Freuds klassischer Dreiecks-Konstellation gibt es einen unbewussten Drang des Kindes, sich inzestuös mit der Mutter zu vereinigen, und es ist die Rolle des Vaters, dies zu verhindern. Die Unmöglichkeit, den Drang auszuleben und die mit ihm verbundenen Schuldgefühle erzeugen Traumbilder und führen unter gewissen Bedingungen zu ernsthaften Störungen der Psyche. Jung bestreitet zwar nicht, dass es solche Fälle gibt, aber er betont, dass die sexuelle Deutung nicht das alleinige Interpretationsschema der Traumsymbolik sein darf. Selbst wenn die Symbole eine sexuelle Deutung nahelegen, kann der Drang um den es eigentlich geht laut Jung ein ganz anderer sein. Ein erster zentraler Punkt des Buches ist daher die Befreiung des Begriffs der Libido von der Bedeutung eines rein sexuellen Drangs. Mit der Libido, die sich nicht entfalten kann und sich daher wandeln muss, kann bei Jung jeglicher Lebens- und Verwirklichungstrieb gemeint sein.

Mythen als Übersetzungshilfe

Der Schlüssel zu dieser Erweiterung der Interpretationsmöglichkeiten über das rein sexuelle hinaus ist die in diesem Buch in geradezu ausufernder Weise ausgearbeitete Verbindung zur Mythologie. In seinem Vergleich der Symbolik verschiedenster religiöser und mythologischer Stoffe findet Jung hier auffällige Gemeinsamkeiten. Viele dieser Symbole und Motive ließen sich zwar sexuell deuten, und haben hier möglicherweise ihren historischen Ursprung, aber ihre Bedeutung innerhalb der jeweiligen Religionen und Mythen geht längst weit darüber hinaus. Da sich diese Symbolik im Lauf der Geschichte durch unbewusste Einflüsse in den mythologischen Überlieferungen etabliert hat und laut Jungs These unser eigenes unbewusstes Denken dem unserer Vorfahren ähnlich ist, produzieren unsere Träume und unbewussten Phantasien dieselben Symbole, die man in den uralten Mythen findet. Was hier etabliert wird, ist also Jungs Theorie des kollektiven Unbewussten, durch das die Deutung der Symbole in der Psychologie zur Übersetzungshilfe wird, um die Bildsprache zu interpretieren, die unsere eigene Psyche unbewusst erzeugt.

Jung demonstriert diese Verbindung zwischen Mythos und Psyche am Beispiel einer jungen amerikanischen Patientin, der er das Pseudonym „Miss Miller“ verleiht. Diese Frau war zwar nicht bei Jung selbst in Behandlung, aber er wusste durch den Bericht eines Kollegen von ihrer schizophrenen Störung. Bevor diese Krankheit ausbrach, hatte Miss Miller einige Gedichte verfasst und Träume aufgeschrieben, deren Interpretation den roten Faden dieses Buches ausmacht, den Jung aber eher nur sporadisch verfolgt. Die kurzen Texte der Patientin nutzt Jung zum Anlass derart ausufernder Auflistungen von mythologischen Parallelen und Assoziationen, dass man Miss Miller oft schon wieder vergessen hat, wenn das Buch erst hundert Seiten später wieder zu ihr zurückkehrt, um von einer ihrer Phantasien zum nächsten Exkurs zu starten. Das Vorwort und verschiedene Bemerkungen lassen erkennen, dass Jung die überwältigende Uferlosigkeit seiner mythologischen Ausführungen bewusst war, und er trotzdem nicht darauf verzichten wollte, das Material in seiner ganzen Fülle zu präsentieren.

Der universelle Heldenmythos

Diese enorme Sammlung von Symbolik erstreckt sich von der alt-ägyptischen und griechischen Mythologie über die christliche Mystik, den Mithras-Kult und die nordamerikanische Hiawatha-Sage bis hin zu volkstümlichen, mitteleuropäischen Märchen und dem Werk von Goethe, Nietzsche und Hölderlin. Jung arbeitet aus dieser Materialflut die Gemeinsamkeiten heraus, so dass es tatsächlich nur eine Handvoll Motive sind, die als gemeinsamer, universeller Kern daraus hervorscheinen. Stellenweise entsteht der Eindruck, als handele es sich eigentlich nur um eine einzige Geschichte, einen Universalplot, der zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Symbolsprachen immer wieder neu erzählt wurde.

Eine erste Manifestation dieses Universalmythos ist durch den Lauf der Sonne und der entsprechenden Sonnengötter verschiedener antiker Kulturen gegeben. Die Sonne steigt auf, durchschreitet den Zenit, geht unter und taucht hierbei in das Meer ein. Unter der Erdoberfläche durchquert sie in einer Nachtmeerfahrt die Unterwelt, um im Osten wieder aufgehen zu können. Die Sonne ist hier der Held, oder der heldenhafte Gott, der in die Tiefe hinabsteigt, um den Tod zu überwinden und danach in einer Wiedergeburt wieder neu aufsteigen zu können. Die selbe Bahn durchläuft Jonas, der vom Walfisch verschluckt wird, um ihn von innen zu überwinden, und auch Siegfried und andere sagenhafte Drachentöter, die in die Höhle des Monsters hinabsteigen, um ihm seinen Schatz abzuringen und als erneuerte, verbesserte Versionen ihrer selbst aus dem bestandenen Abenteuer hervorgehen.

Doppelte Mütter

In der Sonnensymbolik und auch in anderen Varianten des in den verschiedenen Kulturen wiederkehrenden Heldenmythos wird allerdings klar, dass die zu überwindende Gefahr den selben Ursprung hat, wie das Leben des Helden selbst. Es ist dasselbe Meer, aus dem die Sonne emporsteigt und in das sie in ihrem Untergang zurückkehrt. Deshalb identifiziert Jung das Wasser als eines der vielen äquivalenten Symbole der Mutter. Auch in der Herakles-Sage ist dieser Zusammenhang besonders deutlich, weil es die eigene Mutter ist, die Monster gegen den Helden aufhetzt. Jung spricht wegen dieser Doppelrolle von einer zweifachen Mutter, der fruchtbaren, die das Leben spendet und der furchtbaren, die es wieder nimmt. Das symbolische Eindringen in die Mutter kann in Freuds Sinne also sexuell interpretiert und als Drang zum Inzest gedeutet werden, aber die tiefere, universelle Bedeutung, die Jung durch den Vergleich zur Mythologie erschließt, ist stattdessen die des sich Einlassens auf Gefahr und Tod, um diese zu überwinden und erneuert oder wiedergeboren zu werden.

Für die konkrete Übertragung des Heldenmythos auf das Individuum ergeben sich mehrere Möglichkeiten. Einerseits steht das Symbol der Mutter in rein biologischer Sicht für Mutter Natur, die Leben spendet und nimmt. In sozialer Hinsicht ist die Überwindung der Mutter das sich Loslösen von der Abhängigkeit vom Elternhaus, das in vielen Kulturen mit an die Heldensymbolik erinnernden Initiationsriten zelebriert wird. Was schließlich die Psyche betrifft, steht das Symbol der Mutter in Jungs Deutung für den Einfluss des Unbewussten. Der Held ist in dieser Variante der Geschichte das bewusste Selbst, das sich mit der Entstehung des Bewusstseins aus dem Unbewussten heraushebt. Die Einflüsse des Unbewussten können sich aber als sogenannter Anima Komplex verselbstständigen und von der Psyche Besitz ergreifen. Der Held muss sich dieser Gefahr stellen, in sein Unbewusstes hinabsteigen und es überwinden, um als unabhängiges Selbst neu empor zu steigen. Der Heldenmythos beschreibt in dieser Deutung also einen psychischen Individuations- und Heilungsprozess. Die Gefahr besteht immer darin, aus der Höhle, in die man sich hineingewagt hat, nicht wieder lebend herauszukommen. Der Tod im Walfischbauch, in der Drachenhöhle und das Steckenbleiben in der Abhängigkeit und der Introversion sind der immer drohende negative Ausgang der Heldensage.

Moderne Helden

Es ist faszinierend, wie weit diese Grundmotive in den Mythen, Sagen und Phantasieprodukten der Weltliteratur verbreitet sind. Man muss nicht lange suchen, um auch in unserer Kultur auf moderne Varianten zu stoßen, um die sich Jungs Sammlung beliebig erweitern ließe. In Pink Floyds Album „The Wall“ beispielsweise zieht sich der Held der Geschichte vom Leben zurück und versteckt sich vor allen äußeren Einflüssen hinter einer Mauer, bei deren Bau ihm natürlich seine übermäßig sorgsame Mutter geholfen hat. Es ist auch hier die symbolische Rückkehr in den durch die Mauer dargestellten, schützenden Mutterleib, die tödlich endet, wenn sie nicht zu einer Überwindung und Befreiung genau dieser vorgeblich schützenden Einflüsse führt. Am Ende des Konzeptalbums wird diese Mauer tatsächlich wieder eingerissen und der Held kehrt in Gestalt von Roger Waters erneuert dahinter hervor. Andeutungen in verschiedenen Songs des Albums, wie zum Beispiel im Text von Comfortably Numb, der als Dialog zwischen dem Helden und einem Psychiater gelesen werden kann, lassen keinen Zweifel daran, dass es ein psychischer Befreiungsprozess ist, der hier mit Mauer- und Muttersymbolik dargestellt wird.

Eine andere, weltgeschichtlich viel einflussreichere Variante des alten, die Mutter überwindenden Heldenmythos, glaubt Jung auch in der Symbolik des Christentums zu erkennen. Für diese Deutung ist sein Werk offenbar heftig kritisiert worden, aus leicht verständlichen Gründen, denn durch die Verbindungslinien, die Jung an verschiedenen Stellen des Buches herausarbeitet, entsteht der Eindruck, es handele sich bei Christus nur um einen weiteren und sogar einen ziemlich typischen Helden im Sinne des althergebrachten Schemas. So sieht Jung zum Beispiel im Kreuz eine symbolische Form eines Baumes und im Baum wiederum, als Leben spendendes und nehmendes Element, ein Symbol für die Mutter. Tatsächlich gibt es alte christliche Darstellungen, in denen Christus an einem Baum gekreuzigt ist, der aus dem Grab Adams gewachsen ist. Der Tod am Kreuz und die Auferstehung sind also auch hier eine Überwindung einer Gefahr, nämlich der Sünde, die denselben Ursprung hat, wie das Leben selbst, nämlich zu Beginn der Schöpfung, im ersten Menschen.

Jung begnügt sich weitgehend damit, solche Parallelen aufzuzeigen und vermeidet eine Bewertung religiöser oder mythologischer Inhalte. Das Ziel seiner Untersuchung ist das Verständnis der Psyche und das Abwenden der aus dem Unbewussten aufsteigenden Gefahren. Miss Miller konnte nicht geholfen werden. Wenn er ihr Arzt gewesen wäre, so spekuliert er am Ende des Buches, dann hätten seine Erklärungen der mythologischen Zusammenhänge ihrer Traumbilder vielleicht helfen können, das Ausbrechen ihrer Schizophrenie zu verhindern. Das Wissen um diese Zusammenhänge und die Fähigkeit, die eigenen, unbewussten Phantasieprodukte zu deuten und die in ihnen liegenden Warnungen rechtzeitig zu erkennen, ist der erklärte Zweck dieses Buches. Hinter der hier ausgebreiteten, umfangreichen und nahezu unüberschaubaren Materialfülle steckt der Versuch, über die Mythen einen Übersetzungsschlüssel für die Symbolsprache zu finden, mit der unser Unbewusstes von den in seinen Tiefen verschütteten Wünschen, Trieben und Gefahren erzählt. „Symbole der Wandlung“ ist eine dichte und geistreiche, manchmal zwar ausufernde aber nie langweilige Fundgrube dieser faszinierenden Zusammenhänge.


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Ein Gedanke zu “Mother, should I build the wall? | „Symbole der Wandlung“ von Carl Jung

  1. Tweety

    Freud wird leider immer unter falschen Voraussetzungen angeführt. Eigentlich hat er seine Patienten verraten, um seine Karriere zu retten. Das (Kindheits-)Trauma der Patientinnen, die von ihrem Vater missbraucht worden waren bzw.unter ihrem Vater gelitten hatten, war seinem Kollegium nicht genehm. Um jedoch sein Ansehen in der damaligen Zeit zu retten, erfand Freud Traumbilder und Symbolgeschichten. und verbannte das Leiden seiner Patienten aus der Realität. Es hätte besser für die Menschen laufen können, stattdessen zitiert man noch heute eine Erfindung Freuds, mit der er seine Berufstätigkeit phantasievoll gerettet hat.

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